T

Es ist früher Abend und ich sitze im Bus, teile mir abgestandene Luft mit schwitzenden Menschen, schaue aus dem Fenster, nervös, weil ich keinesfalls meine Haltestelle verpassen möchte. Die rechte Seite des Busses neigt sich gefährlich nah dem Straßenrand zu, während wir uns auf engen Serpentinen einem Ziel nähern. Ich steige aus, atme Abgase und Wärme ein, vergrabe meine Hände in den Hosentaschen und bewege mich nach vorn, bis mir T in der Dunkelheit entgegenkommt.

Er begrüßt mich, bietet mir dampfenden Tee aus der Thermoskanne an, ich nehme den Becher lächelnd entgegen, probiere einen Schluck und verbrenne mir die Zunge. Mein Gesicht verziehend hole ich Luft und möchte etwas sagen, doch T schüttelt den Kopf und hält mir den Mund zu, seine Finger verströmen dabei einen seltsamen Eigengeruch.

„Psst“, macht er.

Ich nicke.

T nickt auch.

Zusammen durchkreuzen wir die Obstbaumplantage, ziehen unsere Schuhe aus, lassen sie im Gras liegen. Ich muss aufpassen, dass mir T nicht entwischt. Schaue ich einmal weg, ist er bereits auf einen der Bäume gesprungen, bewirft mich mit Birnen und Pflaumen, springt auf meinen Rücken und ich muss ihn von mir runterschütteln wie einen lästigen Käfer. Wir liegen im Gras und meine Unterlippe zuckt, während er mir Apfelstücke in den Mund stopft. Als ich das Kerngehäuse wegwerfen will, setzt T einen strengen Blick auf und schüttelt den Kopf. Hartes Fruchtfleisch knackt zwischen meinen Zähnen, Kerne bleiben in meinen Hals stecken und Worte auch.

Unsere Mägen blubbern und in unseren Mundwinkeln hängen noch Reste vom Obst. Wir halten uns gegenseitig unsere Füße ins Gesicht, sie riechen nach Dreck und Gras und irgendwie nach altem Teppich. Dann stecken wir sie zurück in ausgelatschte Turnschuhe, zwischen meinen Zehen haben sich Erdkrumen verfangen und sich unter meine viel zu langen Zehennägel gegraben.

Wir laufen runter in die Stadt, T tänzelt leichtfüßig auf jedem Geländer, schlägt Räder auf jeder Kante, gefährlich nah über dem Abgrund. Ich beneide ihn um seine Furchtlosigkeit, ich habe immer Angst und T nie, aber er ist umsichtig mit mir. Er verzieht sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen, steckt seine Zunge raus, um im selben Moment seine Augen zu verdrehen. Ich hole ihn ein, ziehe an seinem Haar, das sich weich und fettig vom Schweiß anfühlt.

Unsere Schritte hallen durch enge Gassen, kindliches Lachen durchdringt die nächtliche Stille, in der Luft liegt der Geruch von warmen Gebäck.

T kauft mir einen Lebkuchenmann und ich reiße ihm den Kopf ab.

Wir schleichen uns ins Wohnheim, mit großen Augen am Pförtner vorbei, rennen die Treppenstufen hoch, schließen die Tür hinter uns ab und schnappen erschöpft nach Luft.

Ich besuche T zum ersten Mal, sein Zimmer ist klein und mit gelbem Anstrich versehen, es riecht fremd, aber auch nach Marmelade, er bietet mir an diesem Abend zum zweiten Mal Tee an und ich verbrenne mir wieder die Zunge. Auf der sonnengebleichten Tapete stehen Schimpfwörter auf Russisch und von draußen dringt Lärm durch die dünne Wand aus Pappmaschee, dröhnender Bass und grölende Stimmen, vorbeifahrende Autos, das Rauschen einer Autobahn. Ich lehne mich weit aus dem Fenster, stecke den Kopf in den verschmutzten Himmel.

T macht das Fenster zu und zeigt mir seinen Wintermantel, all seine Mützen und die Löcher in seinen Socken. Wir werden unterbrochen, als etwas in seiner Jackentasche vibriert. „Da muss ich rangehen“, sagt er und es ist der erste Satz, den er an diesem Abend sagt.

Er setzt sich auf den Boden und verschränkt seine Beine, umschließt mit langen Fingern seine Handyhülle. T spricht mit ernstem Blick und seine Stimme ist genauso gekräuselt wie seine Stirn. Aus seinem Mund kommen Worte, die ich nicht verstehe, vereinzelte Fetzen tragen einen vertrauten Klang.

Als er auflegt, setze ich mich neben ihn und er zeigt mir seine Großeltern, swipet Bilder von rechts nach links: бабуся і дідусь im Theater, auf dem Markt, auf dem Sofa und am Strand. „Das ist das Schwarze Meer“, sagt T. „Meine Großeltern haben Angst. Aber sie sagen, dass man sich daran gewöhnen kann. Man gewöhnt sich an die Angst.“

Das ist alles, was ich über sie erfahre, er beginnt, über das Schwarze Meer zu sprechen und hört nicht mehr auf. „Weißt du, es ist wirklich so schwarz, so schwarz, dass es deine Beine und Arme verschlingt.“ Und ich zweifle nicht daran. „Meine Katze ist im Krieg gestorben. Dann habe ich angefangen zu lesen“, endet er kurz angebunden, reicht mir ein T-Shirt und frische Socken. Wir schleichen uns durch den Flur, zu den Bädern, dort putzen wir uns die Zähne, dabei schmiert mir T Zahnpasta ins Gesicht.

Als er die Tür abschließt und das Licht ausmacht, fallen mir die Augen zu, kurz bevor mich meine Träume einholen, erscheint T, so muss er als Kind ausgesehen haben, mit faltigem Gesicht und eigenartig müdem Ausdruck, in schwarze Wellen springend und nach Luft schnappend. Dann taucht er auf und an seinen Schläfen klebt nasses Haar.

Am nächsten Morgen entdecke ich T am anderen Ende des Zimmers und kann nicht widerstehen, ihn eine Weile zu beobachten. Er hat sich mit buckeligem Rücken über sein E-Piano gebeugt und Kopfhörer aufgesetzt, um mich nicht zu wecken. Doch manchmal lacht er laut los, singt mit, gibt schrille Töne von sich, rauft sich entrüstet das Haar, wenn der Ton nicht stimmt. Der Morgen ist kalt und ich liege mit ausgestreckten Gliedmaßen auf seinem Bett, warte darauf, dass er mich bemerkt, warte auf sein erstes Wort, doch er würdigt mich keines Blickes, eingenommen von der lautlosen Musik. Erst als ich aufstehe und mir Hemd und Hose überziehe, hebt er den Blick und sieht mich kurz an. Er wirft mir einen Apfel zu und zieht seine Jacke über, wir sprinten zusammen am Pförtner vorbei, dann bringe ich ihn schweigend zur Schule.

 

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Anna Fišerová

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