freiVERS | Barbara Marie Hofmann

wir sitzen unter linden
träumen von tannen von meerengen
von den gezeiten der wölfe
wir sitzen unter linden
der sommer ist nach zeitigkeiten vorüber
wir sitzen unter linden
denken an uns
wie schön es damals war

Barbara Marie Hofmann

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freiTEXT | Saskia Trebing

Attraktive Menschen in klimatisierten Räumen

working next to artworks I

Es ist nicht einfach, sich zu konzentrieren, wenn sich im Nebenraum zwei Frauen intimrasieren. Da ist eine Wand dazwischen und da ist das Murmeln der Klimaanlage, aber da ist trotzdem dieses Geräusch; dieses Gekratze und Geschabe auf trockener Haut. Das kratzt und schabt am Gehirn bis eine Frau aufschreit – geschnitten – und das Ganze wieder von vorne losgeht.

Bei all dem Gehirnschaben kann einem schonmal was durchrutschen. Da kann man lächelnd am Frontdesk sitzen und in ein Macbook starren und nicht merken, dass irgendwas anders ist.

„Dass da ein Werk nicht an ist“, sagt ein Besucher mit Kinnbart und Presseausweis. „Das muss Ihnen doch auffallen, wenn Sie hier sitzen.“

Der Mann mit Presseausweis würde eh nichts kaufen. Aber recht hat er, da fehlt was. Da ist im Nebenraum ein Bildschirm schwarz, der nicht schwarz sein sollte. Wo ein Gesicht sein sollte. Natürlich. Und eine Stimme. Zuerst eine Stimme aus dem Off. „Roooo-lling!“ sollte die Stimme rufen. Eine warme Stimme, die Silben ausgerollt und kullernd. Dann sollte das Gesicht in Aktion treten. Das Gesicht sollte nach vorn schnellen und zu schreien beginnen. „Shoot!“ schreit das Gesicht. Immer wieder. „Shoot! Shoot!“ Ein Rhythmus mit Kopfnicken und Speichelspritzern.

Aber jetzt passiert gar nichts. Jetzt müsste man was tun. Aber was? Der Stecker ist drin, der Fernseher ist an, der Computer ist verbunden und der Galerist ist heute für niemanden zu sprechen.

Es ist nur Lief im Haus, aber Lief putzt die Toiletten.

„Lief?“ Es ist zumindest einen Versuch wert.

„Hier“, ruft Lief aus dem Herrenklo.

„Die Arbeit von Frida ist kaputt.“

Liefs Kopf zeigt sich im Türrahmen. „Ok“, sagt der Kopf. Dann verschwindet er wieder.

Einen Moment ist es ruhig, nur die Frauen kratzen und schaben.

Dann Liefs Stimme aus dem Herrenklo: „Roooo-lling!“

Die Pause ist zu lang, ein Zögern, das da nicht hingehört. Aber dann: was solls, den Pressetext können sie sich wohl alleine nehmen.

Kopf in den Nacken, Luft geholt und „Shoot! Shoot!“ im richtigen Rhythmus. Am Anfang noch verhalten, aber nach zehn Minuten tropft die Spucke vom Kinn. Nach zehn Minuten ist Lief wieder dran.

Ein Herr im Anzug schafft es nicht mal bis zum Pressetext. Er lugt um die Ecke, Roooo-lling! … Shoot! Shoot!, und stolpert rückwärts aus dem Raum. Den kennt man, den Anzug, der kauft hier manchmal. Der kriegt die Tür nicht auf, die klemmt, und schaut panisch zum leeren Empfangstresen. Da sitzt sonst immer die lächelnde Frau.

Saskia Trebing

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freiVERS | Stefan Heyer

Der Papierkorb

Unter dem Schreibtisch
manchmal steht er auch etwas weiter
entfernt
wartet der Papierkorb

gefüllt will er werden
bekritzelte Zeitungen
vertippte Seiten auf der Schreibmaschine
Fehldrucke

schlechte Texte, falsche Wörter
die Spuren des Bleistifts
durchgestrichene, zerrissene Seiten
mit Wut geworfene Papierbälle

Flieger voller Langeweile
mitunter auch Bleistiftanspitzreste
leere Patronen
doch hier und da nimmt

eine Hand ein Stück Papier
wieder heraus, streicht es glatt
liest noch einmal und

findet Gefallen an den Worten
den Sätzen, ein Lächeln
fährt über das Gesicht

Stefan Heyer

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freiTEXT | Dmitrij Gawrisch

Man nehme einen Korb und fahre mit der Rolltreppe ins Untergeschoss. Am Gemüsestand ertaste man eine reife Avocado und eine knackige Gurke, dann halte man auf Zutaten aus aller Welt zu. Man vollführe kranartige Verschiebungen: raus aus dem Regal, rein in den Korb, raus, rein, und so weiter, und so fort, bis im Korb neben Avocado und Gurke, Reis, Reisessig, Reiswein, Algenblätter, grüner Meerrettich und marinierter Ingwer liegen. Am Regal mit den Gummibärchen, die Zähne bereits ins Plastik gebohrt, finde und fange man das Kind wieder ein, bevor ein Kinderschänder es tut oder das Jugendamt. Man schimpfe das Kind aus, bis es die Unterlippe verzieht, und akzeptiere, dass es richtig laut wird, wenn es auch noch kein Feuerwehrauto bekommt. Fisch, murmelt das Kind durch Tränen hindurch, es habe Hunger und wolle jetzt sofort Fisch essen, wo könne es Fisch essen jetzt sofort? Man setze ihm den Helm auf und schnalle es an, dann schwinge man das Bein über die Stange und trete los, durch dreißiggrädige Sommerhitze oder so. Wo sei Fisch, haucht das Kind, bevor es seinen Kopf sinken lässt und man stattdessen das Daheim ansteuern muss, damit es Mittagsschlaf halten kann und man selbst dazu: die Sonne steht in dieser Jahreszeit früh auf und nicht nur sie. Man telefoniere, erkläre, bitte, bitte abermals, werde ungehalten, danke schließlich, entschuldige sich, lege auf, atme aus. Man wasche den Reis so lange, bis das Wasser klar bleibe. Dann koche man den Reis eine Viertelstunde lang mit der doppelten Menge Wasser, entgräte und portioniere in dieser Zeit den wortlos auf die Tischplatte geknallten Lachs und schnipple das Gemüse, begieße den Reis mit Essig und mische gut durch. Man bestreiche mit dem Reis ein Algenblatt, lege Fisch oder Gemüse hinein, rolle auf, klebe zu, schneide in mundgerechte Stücke und richte sorgfältig auf einer Platte an. Man mache die Tür auf, drücke fest zurück, frage, wie es gehe, schon ewig her. Das Kind spuckt die Fischrolle wieder aus und will lieber Pizza, dann schlägt es Purzelbäume, bis es einschläft. Die Stimmung hellt der Reiswein nicht auf, man schweige sich an am Tisch, bis der Gast gehe, beteuernd, wie lecker das Essen geschmeckt habe und dass es trotz allem ein schöner, sehr schöner Abend gewesen sei, danke. Um weitere Gespräche zu vermeiden, lege man sich im Wohnzimmer aufs Sofa und schließe die Augen. Die Nächte sind kurz in dieser Jahreszeit und nicht nur sie.

Dmitrij Gawrisch

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freiVERS | Benjamin Löber

Nachtfahrt

Ruhe und
Geschwindigkeit
Schwarze Scheiben
Spiegelzeit
Heißer Kaffee
kaltes Licht
Störe meine Gleise nicht
Benjamin Löber

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freiTEXT | Flamingo

Wörthersee

vor zwanzig jahren, auf der fahrt zum wörthersee, kippte ein jeep in den straßengraben, unten lagen, eingequetscht, mehrere junge menschen, einer, blutüberströmt mit einer platzwunde, stand hektisch in der mitte der straße, schreiend, dass sein freund verbluten würde, unser weißer ford escort mit den blauen sportstreifen brauchte nicht superverbleit, aber fiel bei 160 schon fast auseinander, obwohl er gar nicht so alt war, wir riefen den sanker und fuhren weiter, es heißt, jim morrison hätte einmal einen sterbenden indianer vom auto seiner eltern aus gesehen und war seitdem der eidechsenkönig, was ich seitdem bin, weiß ich nicht, aber ich komme zurecht, so schlecht geht es mir nicht, wie alle immer meinen, wenn sie lesen was ich schreibe, was ich zu sein scheine und was ich so mache.

Flamingo

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freiVERS | Raoul Eisele

petrified kisses
of mythic aesthetes
enchains us
in bondage
with passion
---------of pain
lies alice’s incarnation in cellar
of mad hatter’s abysmal hat
where you don’t speak of eden’s garden
or the endlessness of moons
with their shadows
in the marrow of your own
are giraffes placed
---------in the first floor
with their heads over the roof
into the clouds
decorated with girdle of flours
run rabbits knots in their heads
and seamen sail through the bosphorus
of your heartstrings
sings sirens of hope
that never will fulfill
is the sun the only ray
that will stay
---------in the world
of tomorrow’s us

Raoul Eisele

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freiTEXT | Sophie Sumburane

Und der Mann vor mir raucht

Ich sitze im Zug und der Mann vor mir raucht. Ich sehe nicht seine Haare, keine Hand oder die Farbe seiner Jacke, nur den grau blauen Rauch seiner Zigarette, der erst wie ein Faden, jetzt als Wolke in der Luft hängt.

Doch ich weiß, dass ich ihn liebe.

Ich liebe diesen Mann, weil er im Zug raucht, es ist verboten im Zug zu rauchen, er tut es trotzdem, ich könnte das nicht.

Ich kenne auch seine Stimme nicht, habe sie noch nie gehört, zwischen all den Stimmen im Zug. Seine könnte darunter sein. Ist es ganz sicher, ich suche mir die sonorste aus und ordne sie ihm zu, stelle mir vor, wie er zwischen den Zügen an seiner Zigarette ein paar Worte spricht, wieder zieht, die Kippe glüht, die Asche fällt. Es kümmert ihn nicht.

Wie sieht er wohl aus dieser Mann, den ich jetzt liebe, der vor mir sitzt im Zug und raucht? Ganz und gar nicht wie ich, da bin ich mir sicher. Instinktiv ziehe ich meine Bluse über dem Bauch glatt und streiche einen Krümel von der bügelgefalteten Hose. So eine Hose würde er nicht tragen, er trägt sicher eine Jeans mit Löchern. Ein Shirt mit Aufdruck, eine Sonnenbrille in den Kragen gehängt. Ich versuche, sein Bild gespiegelt im Fenster neben mir zu sehen, doch da ist nichts. Meine Jacke hängt im Weg, das ärgert mich. Doch ich will sie nicht wegnehmen, ihn nicht stören, nichts Falsches tun und lasse sie hängen. Vor meinem inneren Auge will kein Bild von seinem Gesicht entstehen, es ist mir jetzt auch egal, ganz egal.

Und der Mann vor mir raucht noch immer, im Zug. Niemand kommt, kein Schaffner, keine Schwangere, Mutter mit Kind, oder korrekter Anzugträger, um ihn zu bitten, die Zigarette auszumachen. Er raucht einfach weiter, meine Augen tränen und brennen, weil ich schon so lange nicht mehr gezwinkert habe. Ich will keine Millisekunde verpassen, vom Tanz des Rauches. Will sehen, wie er sich immer weiter an der Decke des Wagons verbreitet, an der Glaswand vor ihm hängen bleibt, um nur Augenblicke später die Ritzen der Tür zu finden und in das nächste Abteil zu wabern. Ich will sehen, wie der Rauch die Nasen der anderen Fahrgäste erreicht, sie reglos sitzen bleiben. Tatenlos. Vollkommen desinteressiert. Nur mein Interesse hat der Mann vor mir, den ich nicht sehen kann, geweckt. Jetzt schließe ich die Augen, denn endlich ist der Rauch auch nach hinten gezogen, hat meine Nase erreicht und ich stelle mir vor, dass der Mann vor mir genau so riecht. Ein Geruch, der so abstoßend ist, dass er mich anzieht, so schädlich, dass er mir gut tut. Ich stelle mir vor, wie er sich über seine Lehne nach hinten beugt, wie sein Gesicht voller Bart ist und das Lächeln der Lippen so kaum zu sehen.

Bärte finde ich furchtbar, sie kratzen beim Küssen, die Haare stehen wild durcheinander, selbst wenn sie gekämmt wurden. In Bärten bleiben Krümel hängen, oft den ganzen Tag, so läuft der Mann herum, mit Essen im Gesicht, merkt es nicht, fühlt sich toll, hip, Hipster und ist doch nur ein Mann mit Essen im Gesicht. Doch bei dem Mann vor mir finde ich den Bart plötzlich wunderschön. Er hat ganz sicher einen Bart, und wenn er sich zu mir umdreht und lächelt, wird er mich mit seiner sonoren Stimme fragen, ob ich auch mal ziehen möchte, ich werde schüchtern verneinen und er wird sich auch in mich verlieben.

Ich stelle mir auch das jetzt vor, wie sich seine Lippen bei der Frage bewegen, wie seine Augen feucht werden, als ich nein sage, wie er aufsteht und sich neben mich setzt. Ich stelle mir vor, wie er, mit der Zigarette zwischen Ring- und Zeigefinger neben mir sitzt und wir uns plötzlich küssen, ich seine Zunge schmecke, seinen Atem rieche, wie ich nicht genug von all dem kriegen kann. Ich stelle mir vor, wie der Mann, der im Zug vor mir sitzt und raucht, mit seiner Hand unter meine Bluse fährt, hier, mitten im Zug, wie keiner guckt, als wären wir gar nicht da, wie es mir aber auch total egal ist, ob einer guckt. Ich fühle, wie seine Hand an meinem Bauch hinauf wandert, wie sich seine Finger rau auf meiner Haut anfühlen, wie ich diese Situation liebe, in der ich bei jedem anderen Mann vor Scham im Boden hätte versinken wollen.

Ich stelle mir vor, wie er mir seinen Namen sagen will, dieser Mann, der Dinge tut, die verboten sind, der aussieht wie einer, dem alle Regeln egal sind, der küsst, wie jemand, der nur dafür und nur für mich auf der Welt ist, als der Zug plötzlich hält und ich die Augen wieder öffne.

Weg ist der Rauch, verflogen. Weg ist die Stimme, die sonorste von allen. Ich sehe eine ältere Frau durch den schmalen Gang im Zug auf mich zu kommen, sie schaut sich um, ihr Blick bleibt an dem Mann vor mir hängen, sie schiebt sich in seine Reihe und setzt sich auf den Platz, genau vor mir. Weg ist der Mann, der vor mir saß und rauchte. Weg der Rauch, der Geruch, die Liebe.

Da die Gewissheit, er war nie hier.

Sophie Somburane

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freiVERS | Niels-Johannes Günther

Fackel der Demokratie

Wo ist die
leuchtende Fackel geblieben?

Die Fackel der Freiheit,
das leuchtende Licht der Liebe,
das europäische Feuer des Friedens,
die stille Kerze der Vernunft?

Nationale poltern,
Monarchen rüsten,
die Angst schnürt Seelen zu,
alte Türen werden fest verschlossen.

Die Wahrheit wurde schon
auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Die blinde Justitia schon
gefesselt und geknebelt.

Die Stimmen der Gefolterten,
Verschleppten, Versklavten - verstummt.

Wo ist in dieser Dunkelheit
die leuchtende Fackel geblieben?

Niels-Johannes Günther

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freiTEXT | Barbara Zoschke

Die Liebesunwahrscheinlichkeit

-

marokko, london 116

Die Liebenden saßen unter dem bisschen Hoffnungsgrün links im Bild. Sie hatten den Ort gewählt, weil er ihr ein wenig Schatten bot, während er mit dem Gesicht halb in der Abendsonne auf einem breiten Sims Platz finden konnte. Sie empfanden Glücksstille. Gleich würden sie die Lesung eines von ihnen beiden verehrten Autors besuchen.

Als das Handy des Geliebten klingelte. Der Geliebte zuckte zusammen und sagte: „Das ist meine Familie.“ Dabei sah er seine Geliebte mit Unvermeidbarkeitsbedauern an, das schwer auf seine Schultern drückte. Der Geliebte stemmte sich gegen sein eigenes Gewicht und stand auf. Er entfernte sich mit Rücksicht auf die Familie und auf die Geliebte von der Geliebten, obwohl er sich durch seine heimliche Verabredung zur Lesung mit Rücksicht auf die Geliebte und seine Familie gerade erst von der Familie entfernt hatte. Die Geliebte erkannte darin auf Anhieb die vertrauten zwei halben Wahrheiten, die allerdings jetzt, da sie allein im Innenhof war, plötzlich und unerwartet in weitere, immer kleiner werdende Wahrheitsanteile zerfielen, die die Geliebte proportional zur Dauer des Wegbleibens ihres Geliebten immer schlechter zu einem Wahrheitsganzen zusammenkratzen konnte. Schon erschien es ihr nur noch zu einem Viertel wahr, dass es sie selbst überhaupt gab. Und das Viertel wiederum schmolz in der Abendsonne auf die Größe eines Achtels Butter. Die Geliebte trank gegen den Wahrheitszerfall an und leerte das Weinglas, das ihr der Geliebte im Weggehen überlassen hatte, in einem Zug. Doch es nützte nichts. Die Wahrheit zerfiel weiter bis sie schließlich unwahrscheinlich war und überschwemmte die Geliebte dergestalt von innen.

„Ach, käme er nur schnell zurück“, dachte die Geliebte. Die Unwahrscheinlichkeitsschwemme hatte ihre Gedanken längst geflutet. „Und was, wenn er hat nach Hause fahren müssen, weil der Junge sich verletzt hatte?“ Er würde ihn verbinden müssen, vielleicht sogar ins Krankenhaus fahren, ihm versprechen müssen, ihn nie wieder allein zu lassen. Die Geliebte suchte nach einem Ausweg, der es ihr erlaubte, ihre Existenz über die Zeit des Telefonats, über die Zeit des Wegfahrens, über die Zeit des Verbindens und über die Zeit des Versprechens an das Kind hinaus zu retten.

Versuchsweise löste sie die Feststellbremse und rollte aus dem Bild.

Barbara Zoschke

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