freiVERS | Johannes Bruckmann

Kaltes Feuer

Wir fügen immer noch ein Scheit hinzu und sprechen davon, dass das Holz aus uns sein möge
Wir fügen immer noch ein Scheit hinzu und sprechen davon, dass es unser Feuer sein möge
Wir fügen immer etwas hinzu, auf dass das Feuer in unseren Farben brennen möge
Aber immer ist es noch nicht unser Feuer
Immer zünden wir das Feuer noch nicht an

Das Feuer brennt noch nicht in unseren Farben
Wir beargwöhnen das Feuer, das noch nicht brennt
Früher haben wir auch Scheite abgetragen
Heute fügen wir nur noch Scheite hinzu
Und zünden das Feuer nicht an

Die Scheite werden immer größer, immer schwerer
Wir können die Scheite nur noch gemeinsam tragen
Weil das Feuer nicht brennt, fügen wir noch mehr Scheite hinzu und Scheite hinzu
Wir fügen verzweifelt immer noch etwas hinzu
Die Scheite werden immer größer, immer schwerer

Du willst das Feuer nicht entzünden, es hat zu lange nicht gebrannt
Die Scheite sind feucht und modrig geworden unter der Last der immer neuen Scheite
Wir leben von dem Feuer, das noch nicht brennt, das nicht mehr brennen wird
Aber wir fügen immer noch mehr Scheite hinzu
Wir können sie nur noch gemeinsam tragen

Niemand soll wissen, dass das Feuer nicht brennt, wir geben vor, dass das Feuer brennt
Dass das Feuer in unseren Farben brennt, dass es unser Feuer ist
Wir ersticken in dem kalten Feuer
Wir ersticken unter den schweren Scheiten, wir vermodern unter den schweren Scheiten
Wenn sich das Feuer entzündet, dann verbrennt es unsere Leichen

 

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Johannes Bruckmann

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freiTEXT | Tara Meister

Das Freie

Wir lernen uns kennen an einem Abend, in einer Gasse. Sie steht zwischen zwei Mülltonnen und ich stelle mich dazu, es ist die Rückseite eines kleinen Bio-Ladens mit Café, es hat längst zu, wir sind hier, um Abgelaufenes abzuholen, uns verbindet die dafür entworfene App. Weil ich so etwas noch nie gemacht habe, weil Leute vorbeigehen und uns mustern, schwitzen meine Hände. Ich mustere Marlene, deren Blick in die Ferne gerichtet ist, war der Name tatsächlich Marlene? Sie trägt einen bunten, samtigen Body mit wilden Pflanzen darauf, er ist tief ausgeschnitten, zwischen ihren Brüsten ist der Kopf eines Schlangentattoos zu sehen. Um ihren Hals eine Kette, deren Anhänger in ihrem Ausschnitt verschwindet, als hätte die Schlange ihn gefressen. Marlene ist groß gewachsen, kurvig und war bestimmt schon einmal hier. Alles oder etwas an ihr zieht mich magisch an. Es kommen noch zwei andere und Stefan- der damals mein Freund war- der gar keine Lust darauf hat, das sieht man ihm an. Ich habe es vorgeschlagen, er sagt dann nicht ja und nicht nein, er kommt vorwurfsvoll mit. Während der Ladenbesitzer kommt, während er ein paar Sätze mit uns wechselt, uns mit ins Lager nimmt und dort Papiertüten mit Essen verteilt, sehe ich Stefan an und merke, dass er Marlene, nicht ansieht. Es ärgert mich, ich wünsche mir, dass sie seinen Blick anzieht wie meinen, dass er sieht, was schön ist. Wütend drücke ich ihm weiche braune Bananen in die Hand. Ich bemerke Schweißflecken auf seinem blauen Hemd, das auf einer Seite aus seiner Hose gerutscht ist. In diesem Moment finde ich ihn erbärmlich, ich starre auf Marlenes Haar auf dem Weg nach draußen. Die Tür schließt sich, wir gehen ein paar Schritte weiter zu einer Grünfläche und beginnen dort das Essen zu verteilen. Stefan sieht mit etwas Abstand zu, ich bin innerlich seltsam erschüttert von diesem Abend, Marlene wühlt in den Papiersäcken. Sie wühlt und wühlt als würde sie nach einem Schatz graben. Wie eine Piratin, denke ich, und dass ich gerne wenigstens Steuermann wäre und ich sage Stefan, dass er doch mit dem Moped schon vorausfahren soll, ich würde nachkommen, ich habe keine Lust mehr nachzukommen. Mit vollem Rucksack, einer Flasche Wein in der einen und einer goldenen Dose Sardinen in der anderen Hand geht Marlene los, ich frage in welche Richtung sie muss, ich sage, ich auch, sie wirkt nicht begeistert. Gemeinsam gehen wir ein paar Straßen weiter und dann den Kanal entlang und ich weiß nicht mehr, was ich mir erhofft habe. Marlene bleibt für einen Moment stehen, um die Dose zu öffnen und das Öl abzugießen, dann essen wir im Gehen die Sardinen und spucken die abgebissenen Köpfe in den Fluss, der sie vielleicht raus aus der Stadt trägt. Während wir ein bisschen reden, merke ich schließlich, dass da etwas Dunkles, Unerfülltes ist. Ob mich das angezogen hat, frage ich mich.

„Wie heißt du nochmal?“, frage ich sie.

„Marlene.“

Es ist ein weiter Weg in Marlenes Leben.

Ich war keine Ausnahme, wie alle anderen auch habe ich sie im Laufe der Zeit immer wieder verloren.

Vor drei Jahren, erfahre ich irgendwann, ist sie in Wien angekommen, hat begonnen Psychologie zu studieren, nach einem Semester gemerkt, dass es nicht das Richtige war und einfach weiter gemacht. Immer noch ist das Studium unsichtbar, die Bücher in ihrem Regal sind allesamt Thriller, die Prüfungen schreibt sie von anderen unbemerkt.

Auf allen Fotos und jetzt gerade lacht sie, hält sie mich mit den Augen fest. Sie hat die lauteste Stimme in der WG, aber sie schweigt viel. Ich schlafe mit ihrem Mitbewohner und höre sie spät nachts zur Toilette schlurfen.

Manchmal sehe ich sie tagelang nicht und wenn dann die Türe aufgeht, sind ihre Schritte langsam. Über den Winter ist sie schwerer geworden.

„Wir wollten doch segeln gehen.“

„Heute nicht. Vielleicht morgen, wenn der Wind geht.“

Oft steht sie unruhig im Raum. Wolken, die sie nervös machen, fettige Pfannen wütend, aber kein Schwamm und keine Kerze machen die Wohnung zu einem Ort, an dem sie sein möchte. Wochenlang ist sie hungrig und still.

Aber jetzt ist Frühling und morgen, wenn der Wind geht, nimmt sie mich mit an die Donau, auf das Segelboot.

Ich gehe schlafen, sie sitzt noch länger dort am Tisch. Morgen, denke ich und in meinen Ohren rauscht es.

Am nächsten Tag erzählt sie, dass sie spät nachts ein Geräusch gehört hat, zwischen zwei und drei Uhr, sie war lang wach und ist spät aufgestanden. Es hätte jemand etwas Großes aus dem Fenster geworfen. Und dass sie sich heute doch nicht nach Segeln fühlt.

Mit einer Einkaufstasche verlasse ich das Haus, da liegt vor mir auf dem Gehsteig in einer glitzernden Lache ein toter Fisch.

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Tara Meister

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freiVERS | Roland Grohs

Brüche

Ihre Haut ist brüchig geworden.
Wir verkeilen uns,
wie Bauklötze, die ein Kind gegeneinander hämmert.
Das Bett ein Bauklotz, sie ein Bauklotz, ich ein Bauklotz.
Ehe wir fertig sind, möchte ich aufstehen,
träume von einer glatten Oberfläche, um zu puzzeln.

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Roland Grohs

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freiVERS | Christl Greller

und sind wir frass

und holt der fuchs das süße kitz im gras,
der böse fuchs.
nein, mutterfähe,
wir lernen: und füttert sie im bau.

und adler holt den fuchs,
ist böse. nein,
wir lernen: adlerjunge brauchen fraß.
naturgesetz ist: eines lebt vom andern.

mein liebes, mein geliebtes kind.
und lebt in deinem kopf etwas, das
von dir frisst und
wächst in deinem hirn auf deine kosten.
dein streichel-lieber kopf. und lebt darin
und frisst und wächst was,
nicht zu tilgen mehr, im kopf auf
deine kosten.
wir lernen - naturgesetzlich, eines lebt
vom andern.

ich habe es gelernt.

will’s nicht verstehen.

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Christl Greller

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freiTEXT | Jasmina Cavkunovic

orpheus

Unter lauten Regentropfen hatte ich geschworen, dich zu vergessen – der Fairness halber, wie man sagt. Doch auf dem Weg zum Kino sah ich deine Straße wie ein flüchtiges Panorama aus dem U-Bahn-Fenster, und vergaß, was ich vergessen sollte.

Ich denke zurück an kalte Jännertage, wo ich mein Handy nach der Arbeit an mein Herz hielt, als ich deine Nachricht auf dem Bildschirm sah. Auf dem Weg zur Straßenbahn fühlte ich mich wie ein kleines Kind an seinem ersten Schultag – aufgeregt, das Gerät wie eine Schultüte fest umklammernd, als liefe es davon, wenn ich es nicht täte. Erbittert waren noch Monate später die Kämpfe mit der Schwerkraft, wenn ich meinen Daumen über dem Anrufsymbol neben deinem Namen schweben ließ, und obgleich ich sämtliche Schlachten gewann, glänzte ich auf einer jeden Siegesfeier durch Abwesenheit. Heute spüre ich die rechteckige Form meines Handys durch die Manteltasche an meinem Oberschenkel, während meine rechte Hand die linke hält. Die Beschriftung des Massagestudios in deiner Straße verläuft sich unterdessen in der wachsenden Distanz.

Weichgezeichnet waren wir, und weichgezeichnet haben wir die Linien, die unseren Zufluchtsort markierten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es unseren Ort noch gibt, doch manchmal stolpere ich heute noch über Drahtseile, die ebendort am Boden liegen, wo du mich zum letzten Mal gehalten hast. Und du, versuchst du je das Gefühl von meiner Hand in deiner zu übertünchen, als wäre es Parfüm auf verschwitzter Haut? Sitzt du je auf deinem Dach und denkst über den Anfang unseres neu begonnenen Endes nach? Ist der Himmel je wieder so rosarot gewesen wie an jenem Montagabend im September? Langsam kehrt der Winter ein, es ist vermutlich besser so.

Schändlich mein Gedanke, unsere Karte sei interessanter gewesen als unser Gebiet. Absurd die Idee, unter der babyblauen Decke, die du mochtest, unser Wunderland nachzubilden, mit Serotonin-Modellen aus Kunststoff. Wenn ich in Träumen nach dir greife, bleibt mir nichts als Ruß auf meinen Händen; und wenn ich wach bin, spüre ich deinen Schatten an meinen Füßen – du hast ihn drangenäht, ehe du verschwandest. Ein bisschen Dunkelheit habe ich aus dem Hades mitgenommen, sie ist mein heiligster Besitz, habe ich festgestellt, und zugleich meine größte Last.

Du bist ein Blutfleck, eine Zäsur in meiner Geschichte. Deine Straße ruft noch immer meinen Namen, hörst du’s auch? Ich habe mich umgedreht, ich hab’ mich umdrehen müssen, einmal mehr. Ich werfe meine hundert Ehrenworte über Bord, unfähig zu vernehmen, wohin sie treiben.

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Jasmina Cavkunovic

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freiVERS | Enno Ahrens

Nachts

trage ich fantastische Krawatten
gefertigt aus selbsterlegter
Klapperschlange die Rassel
dazu verdeckt im Saum

Meine Schuhe sind krokodilledern
das Jagdmesser mit Griff
vom Elfenbein aus
reinen Gedanken

Sie sind lichtscheu
wie blutrünstige Vampire

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Enno Ahrens

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freiTEXT | Norbert Schäfer

Siebrecht

Gemessenen Schrittes begab er sich zum Komposthaufen und ließ einen Armvoll Efeuzweige und Blätter fallen, die sich gleichmäßig über die Schichten von feuchten Gras- und Moosresten, trockenen Blütenblättern und Zweigen verteilten. Das meiste blieb oben liegen, nur wenige Zweige rutschten seitlich hinab. Die Blütenstände waren ausgebildet, aber über die Beeren hatten sich schon die Drosseln und Amseln hergemacht. Efeu war so eine vitale Pflanze! Man kam mit dem Nachschneiden kaum hinterher. Und giftig obendrein. Nie bearbeitete er die Efeuhecke ohne seinen Mundschutz. Margarete kannte sich gut in diesen Dingen aus und hatte ihn von Anfang an auf die gesundheitlichen Gefahren hingewiesen.

Die Sonne meinte es gut heute – sie wärmte ungewöhnlich stark für einen April-Nachmittag. Siebrecht schwitzte ein wenig in seiner Gartenkluft. An seinem linken Hosenbein der kastanienbraunen Cordhose waren Spuren von Gartenerde zu erkennen. Er durfte nicht vergessen, sie abzubürsten, bevor er das Haus betrat. In dem kleinen Garten des Endreihenhauses in Köln-Müngersdorf fühlte er sich wohl. Und geschützt. Er trug derbe Arbeitshandschuhe über den langen Ärmeln seines schon ausgeblichenen karierten Holzfällerhemds. Die Stoffkappe mit dem Aufdruck des Blumenladens „FloraFit“ schützte seine Augen vor der Sonne. Nun, zumindest die Schutzmaske würde er jetzt ablegen können. Ruhig streifte er die Handschuhe ab, bevor er die Haltebänder der Maske hinter den Ohren löste. Er faltete den Stoff sauber und legte ihn auf die Bank.

Er vermisste sie.

Gegen die Sonne blinzelnd richtete Siebrecht einen letzten, kritischen Blick auf die Hecke. Einen etwa eine Handbreit heraus ragenden Zweig hatte er übersehen. Das hätte Margarete sicher nicht gefallen. Nein, das konnte er so nicht lassen. Bedächtig legte er den Mundschutz an, zog die Handschuhe über und machte dem widerspenstigen Spross den Garaus.

Unter dem Rhododendron hatte sich verrottendes Laub angesammelt. Den würde er nachher entfernen. Natürlich könnte er es auch sofort angehen. Das wäre kein Problem. Aber seine innere Uhr war im Laufe der Jahrzehnte präzise geworden. Er hatte ein untrügliches Gespür dafür, dass es Kaffeezeit war. Jetzt sollte der Duft von frischem Kaffee aus der offenen Terrassentür strömen. Wie freute er sich dann immer auf den Kuchen. Natürlich behielt er die liebgewordenen Rituale bei. Den Bienenstich hatte er schon am Vormittag beim Bäcker gekauft, und den Kaffee würde er jetzt selbst aufsetzen. Eine komplette Kanne – Siebrecht brachte es nicht übers Herz, nur eine halbe zu kochen. Lieber schüttete er den Rest weg. Er schlüpfte in die grauen Filzpantoffeln. Sie waren ein Geburtstagsgeschenk von Margarete und schonten den Fußboden. Sie war so praktisch veranlagt.

Langsam an einem Stück Bienenstich kauend dachte er über das kommende Osterwochenende nach. Die sonntägliche Ostermesse im Kölner Dom war für Margarete immer das Erlebnis des Jahres gewesen. Das prachtvolle Bauwerk, die vielen Menschen, die klare und schon wärmende Frühlingsluft und vor allem die andächtige, festliche Stimmung...

Siebrecht hatte sich dazu immer in seinen besten Anzug geworfen. Er machte sich eigentlich nicht sehr viel aus Religion, aber Margarete hatte ihm stets verdeutlicht, wie wichtig christliche Traditionen waren.

Ein junges Paar blickte ihn von dem Hochzeitsfoto auf dem Sekretär an. Wie weich Margaretes Züge darauf noch waren. Der Silberrahmen wies im Licht der durch die Terrassentür fallenden Sonnenstrahlen einen leichten Staubbelag auf. Staubwischen war immer seine Domäne gewesen – er würde sich heute Abend darum kümmern. Jetzt war erst einmal der Rhododendron dran. Siebrecht erhob sich ächzend und zog sich die Handschuhe über.

Der Boden unter dem Rhododendron war wieder schier. Mit beiden Armen griff Siebrecht sich einen Stoß Laub, den er auf dem Rasen zusammengeharkt hatte. Er mochte das Rascheln, wenn sich die trockenen Blätter über den Komposthaufen verteilten. Die Asseln und kleinen Spinnen, die hektisch das Weite suchten, störten ihn nicht. Er hatte ein Herz für Tiere, wenngleich sie sich aufgrund Margaretes Katzenhaarallergie nie eins angeschafft hatten. Hunde – tollpatschige, schmutzige Biester! – kamen für sie ohnehin nicht in Frage.

Mit dem rotkarierten Stoff-Taschentuch  wischte er sich den brennenden Schweiß aus den Augen. Sein Blick fiel auf die Lücke zwischen dem Rhododendron und dem Flieder. Über den Zaun konnte er am Nachbarhaus vorbei einen Zipfel des Müngersdorfer Stadions erhaschen. Oder es mochte mittlerweile auch einen anderen Namen tragen. So ganz verstanden hatte er den Grund für diese Namensänderungen nie. Musste wohl Geld im Spiel sein.

Dort spielte am Wochenende häufig der EffZeh. Erste oder zweite Bundesliga – so genau wusste Siebrecht das nicht mehr. Die stiegen dauernd auf und ab. Früher, als Kind, hatte er oft und gerne gekickt. Er war nicht der schnellste, aber ein ganz passabler Verteidiger, wie er fand. Und Spaß hatte es gemacht, wenn ihn die anderen mitspielen ließen, was manchmal vorkam. Insbesondere wenn sie nur wenige waren.

Hin und wieder hatte er mit der Idee geliebäugelt, sich ein Spiel des Clubs im Stadion anzuschauen. Aber Margarete hatte ihn glücklicherweise rechtzeitig davon abgehalten. Letztlich wäre es eine reine Geldverschwendung gewesen. Solche Veranstaltungen waren laut, kulturlos und es wurde viel getrunken und gegrölt. Und es gab Prügeleien. So ein Stadionbesuch hätte letztendlich nur Scherereien gebracht – da hatte sie völlig Recht.

»Tag, Häär Siebräächt. Schön Wedder hugg.«

Zwischen dem Goldregen und dem Hibiskus zeigte sich die Gestalt der Nachbarin. Gisela Niewöhr – eine verwitwete Mittfünfzigerin. Mit gesenktem Blick inspizierte Siebrecht seine Fußspitzen. »Tag.«

»Wie gonn et Ehr Frau? Isse verreist?«

Er hob ein wenig die Lider und blickte verstohlen zu ihr herüber. Ihr Lächeln – ein wenig künstlich, wie er fand – wurde umrahmt von einem goldblonden, halblangen Pagenschnitt.

Die Haare waren natürlich gefärbt. Darauf hatte ihn Margarete schon vor Jahren hingewiesen. Nur Flittchen würden ihre Haare färben. Und dann auch noch als Witwe. Mit derlei Volk sollten und wollten sie keinerlei Umgang pflegen.

»Is auf Kur.« Eigentlich sah sie ja ganz freundlich aus, stellte er nach einem weiteren, vorsichtigen Blick fest. Aber das traf vermutlich für einige Frauen ihres Schlages zu.

»Ach, Se ärme Höösch. Da sin Se jaanz allein! Kann ich Ehr e bessche zor Hand gonn beim Huushald? Maache ich gään.«

Sie trug weder eine Arbeitskleidung noch eine Schürze, stattdessen ein gepunktetes blaues Kleid. Er fand, es stand ihr gut.

»Ich kütt zooräch.«

Margarete hatte ihr Haar nie gefärbt. Früher schimmerte es in seidigem Brünett. Später wurde es von ersten grauen Strähnen durchzogen, die dann langsam die Oberhand gewannen. In den letzten Jahren krönte ein akribisch gepflegter Dutt die mittlerweile grau gewordene Mähne.

»Wie Se wolle. Se künn gään hingerdren op e Liköörsche vörbeikünn. Schön Tag noch!«

Gisela Niewöhr zog sich wieder in ihre Wohnung zurück. Siebrecht atmete tief aus. Es fiel ihm ohne Margarete schwer, den nötigen Abstand zu aufdringlichen Nachbarn zu wahren. Ganz besonders zu Gisela, wie er die Witwe in Gedanken nannte. Obwohl... es könnte vielleicht ganz nett sein, sich bei einem Gläschen zu unterhalten. Wenn sie Limonade angeboten hätte... Siebrecht trank keinen Alkohol.

Nachdenklich stützte er sich auf seine Harke. In zehn Minuten würde ein Konzert des Wiener Symphonie-Orchesters im Fernsehen übertragen werden. Margarete liebte diese Sendungen. Und manche waren auch wirklich schön – das musste Siebrecht zugeben. Aber ohne sie wäre es nicht das Gleiche. Er beschloss, sich das Konzert nicht anzuhören.

Natürlich konnte er auch mal wieder die Eckkneipe „Zum Geißbock“ aufsuchen. Samstags wurden die Spiele live übertragen – man musste nicht ins Stadion gehen. Er war nur einmal da gewesen, als Margarete zu ihrer kranken Schwester gefahren war. Der Laden war gut besucht, aber nicht übervoll gewesen. Die Leute hatten schon etwas komisch geguckt, als er sich nur ein Wasser bestellt hatte. Aber außer ein paar gemurmelten, spöttischen Bemerkungen ließ man ihn unbehelligt. Margarete konnte ihm so einiges von Menschen erzählen, die sich buchstäblich um den Verstand, wenn nicht sogar um ihr Leben „gesoffen“ hatten, wie sie es nannte. Auch ihr verstorbener Onkel Herbert, den er persönlich nur dreimal gesehen hatte – bei der Hochzeit und zwei Geburtstagen, wenn er sich recht entsann  – zählte dazu. Einzig und allein eine Flasche Kirschlikör, als Medizin zur Linderung ihrer überreizten Nerven, war erlaubt. Die Ärmste litt an manchen Tagen so sehr, dass ein Glas oft nicht ausreichte. Siebrecht wischte sich eine Träne aus dem Winkel seines rechten Auges. Glücklicherweise hatte er sich immer einer robusten Gesundheit erfreut.

Als er einen weiteren Schwung trockenen Laubs über den Komposthaufen leerte, bemerkte er es. Aus der untersten Schicht mit dem gemähten Gras ragte etwas hervor. Wie ein toter Ast. Mit fünf kurzen, dicklichen Zweigen.

Der Arm wirkte eingetrocknet, die Haut mittlerweile grau. Er versuchte, den goldenen Ring zu ignorieren, der noch an einem Finger steckte. Nie hätte er es gewagt, ihn abzuziehen. Nun... er hatte es versucht – aber der Finger war zu fleischig, er wirkte wie im Laufe der Ehe um den Ring weitergewachsen. Unauffällig blickte er um sich, aber von den Nachbarn war niemand zu sehen, und Gisela dürfte sich mit ihrem “Liköörsche“ trösten. Mit dem Außenrist seines rechten Schuhs versuchte er, die Extremität wieder unter die Grasklumpen zu drücken. Der Arm war schon sehr steif und rutschte immer wieder zurück. Siebrecht drückte und trat immer heftiger. Mittlerweile bearbeitete er ihn mit der Schuhspitze wie einen Fußball.

Es nützte nichts – wie zum Gruß schnellte der Arm immer wieder zurück.

Siebrecht seufzte. Das würde bestimmt Scherereien geben.

Schweren Schrittes begab er sich zur Kellertreppe, um die Säge zu holen.

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Norbert Schäfer

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freiVERS | Walter L. Buder

hüten

in zaunloser weite
wie ausgesetzt aber nicht rastlos
im horizont der schöpfung
boden gewinnen

schreitend im takt zeitloser
unrast wie wankend aber nicht
ruhelos im lichtkreis des stabes
seelen nähren

und bergen. und schützen. und sorgen.
neugeborenes im unterholz, verstecktes
retten und heilen, vielleicht. immer
aber gefährlich entschieden und
einfach sein

den träumen ein auge
den leiden ein herz
den mächten ein widerfahrnis

widerstehen. und hüten. das
offene geheimnis

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Walter L. Buder

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freiTEXT | Luca Bognanni

Der Bobbel

42 Tage, 12 Stunden, 21 Minuten. So lange saßen sie jetzt hier. Sie wussten das, weil die Stoppuhr immer noch lief. Sie hatten sie zu Beginn gestartet und seitdem ratterten die Ziffern ununterbrochen um die Wette, die Zahlen jagten einander ohne sich einzuholen, ohne Rast, konstant und zuverlässig zogen sie vorüber. Immer wenn nach 24 Stunden das Rennen von vorn begann, ritzte einer der Beiden mit dem Armbanddorn einen Strich ins Holz und so wussten sie eben, dass es 42 Tage, 12 Stunden und bald 22 Minuten waren, die sie mit den Augen die Digitalanzeige der Stoppuhr fixierten und hin und wieder einen Strich in die Wand kratzten. Sie hatten sich mit der Situation arrangiert. Eingerichtet, hatten sie sich, so sehr wie man es sich in einem Kleiderschrank eben einrichten konnte. Immerhin zwei klapprige Campingstühle hatten Platz gefunden und auf denen hockten sie jetzt und schwiegen sich an, denn sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Der Eine von ihnen verzog hin und wieder das Gesicht, er runzelte dann die Stirn, blinzelte mit den Augen, und schob die Brauen so gewaltsam zusammen, dass die Furchen auf der Stirn kleine Rettungsgassen bildeten. Die Andere stützte dagegen die Ellenbogen auf den Knien ab, krümmte den Rücken und vergrub das Gesicht in die aufgefächerten Hände. Sie taten das immer, wenn er durchs Treppenhaus polterte. Schwer und unbeholfen. Jeder Schritt war eine Detonation. Der Schrank begann dann zu zittern, das Holz pulsierte, Staub wirbelte durch die Luft. Mit jedem Tag wurden die Schritte derber, die Schwingungen gewaltiger, die Beben häufiger. Das ganze Haus wippte mittlerweile, wenn der Bobbel auf die Stufen stampfte.

Der Bobbel hatte sich eingeschlichen. Heimlich und harmlos. Am Anfang hatten sie es gar nicht so recht mitbekommen. Irgendwann war er eben da gewesen. Der Eine war sich sicher, dass die Andere ihn angeschleppt hatte, aber wann genau, dass konnte er beim besten Willen auch nicht mehr sagen. Irgendwann war er halt da, der Bobbel. Da hatte sie ihm gesagt, er solle den Bobbel doch bitte mal aufheben und dabei hatte sie auf den kleinen kugelförmigen Teigklumpen, der von der Arbeitsfläche auf die Fliesen gefallen war, gezeigt. Und er hatte den Bobbel aufgehoben und jetzt verfluchte er diesen Tag. Der Bobbel hatte sich schnell nicht mehr nur auf Teig beschränkt. Er war übergesprungen auf andere Dinge. Einmal da, konnte er vieles sein. Ein Wollknäuel, eine Bodenwelle, ein Tennisball. Alles Rundliche wurde fortan Bobbel genannt. Erst von der Anderen, etwas später von dem Einen. Frikadellen, Bäuche, Keksdosen – alles Bobbel. Irgendwann, als bereits Gebäckstücke, Küchengeräte und Gymnastikbälle zum Bobbel geworden waren, hatten sie es gemerkt. Da hatte die Andere zu dem Einen an einem Montagabend als sie in der Küche standen gesagt, sie habe es vergessen den Bobbel an die Straße zu stellen und mit Bobbel meinte sie den Müllsack und da hatten sie sich kurz in die Augen geschaut und mussten beide herzlich lachen, denn den Müllsack hatte bisher nun wirklich niemand Bobbel genannt. Und jetzt konnte plötzlich alles ein Bobbel sein. Schuhe, Kerzen, Steuererklärungen, Bademeister, Frischhaltefolie. Alles Bobbel. Wenn Gäste bei ihnen zu Besuch waren, kam es nicht selten vor, dass sie kein Wort verstanden. Zu weit erstreckte sich der Bedeutungshorizont des Wortes mittlerweile. Zwischen Sonnenschirm und Chicken Nuggets, konnte alles ein Bobbel sein. Der Eine und die Andere hatten dagegen längst gefallen am Bobbel gefunden. Sie schauten sich dann verschwörerisch an, wenn um sie herum alles rätselte, ob mit Bobbel jetzt gerade der Salzstreuer oder der Buchsbaum im Nachbarsgarten gemeint war. Der Eine und die Andere dagegen wussten immer was gemeint war. Sie achteten darauf ob die Augen beim Sprechen zusammengekniffen waren, ob sich die Lippen zu einem langgezogenen Oval formten, ob ein Akzent auf den ersten Vokal gesetzt wurde, ob die zweite Silbe verschluckt oder das „l“ sich, beinahe französisch, wie ein Kaugummi in die Länge zog. Der Bobbel konnte sich für sie ganz unterschiedlich anhören. Mal war er eher ein „Bòbbel“, mal fast schon ein „Bobbèl“, manchmal ein „Bobelle“ und nicht selten auch ein „Bobbl“. Der Eine und die Andere verstanden immer was verlangt war, wenn vom Bäcker ein Bobbel mitgebracht werden sollte. Auch jetzt, wo sie seit 42 Tagen, 12 Stunden und fast 25 Minuten im Schrank festsaßen, wussten sie: Es war die beste Zeit ihres Lebens.

Problematisch war es geworden als sich der Bobbel nicht mehr nur auf Nomen beschränkte, sondern sich auch nach und nach Verben und Adjektive zu eigen machte. Sätze wie „was bobbelst du hier rum?“, „ich dachte heute Abend bobbeln wir mal wieder“ oder „du wolltest doch den gebobbelten Bobbel anziehen?“ vermehrten sich exponentiell. Längst nannten die Andere und der Eine sich gegenseitig nicht mehr beim Namen, sondern sprachen auch in Anwesenheit anderer von ihrem Bobbel. Die ersten Missverständnisse entstanden schnell. Da hatte der Eine der Anderen statt eines Pfunds Mehl einen Staubsaugroboter aus der Stadt mitgebracht und da hatten sie beide noch gelacht, aber es war nicht dieses Lachen wie damals beim Müllsack, es war ein angespanntes Aufgrunzen, weil die Andere mit dem Staubsaugroboter ja jetzt keinen Bobbel backen konnte. Und es wurde immer schwieriger über die Missverständnisse hinwegzusehen, denn die Massagestühle, Mikrowellen und Thermodecken, die statt der gemeinten Marmeladen, Sparschäler und Deo-Roller angeschafft wurden, stapelten sich bereits. Einmal war die Andere für eine Woche verschwunden, nachdem der Eine sie gefragt hatte, ob sie sich am Bobbel träfen, weil sie schon so lang nicht mehr da gebobbelt hätten und dann war sie aber nicht in der Schlange ihrer Lieblingseisdiele aufgetaucht, sondern zu dem Ferienhaus an der Nordsee gefahren und hatte sich gewundert, warum er denn nicht da einträfe. Das war der Punkt, an dem sie gemerkt hatten, dass hier irgendwas schieflief. Dass der Bobbel sich viel zu breit gemacht hatte in ihrem Haus, ihrer Garage, ihrem Leben. Dass man ihn jetzt mal rausschmeißen müsse wie damals den Müllsack. Und so hatten sie sich zusammengesetzt, um eben diesen Rauswurf zu besprechen und als sie da saßen merkten sie plötzlich das ganze Ausmaß des Unheils. Dass sie den Bobbel gar nicht mehr rauswerfen konnten, weil er schon viel zu groß und breit geworden war. Und das war ja auch kein Wunder, denn sie hatten ihn gefüttert mit allem möglichen. Erst jetzt bemerkten sie, dass der Bobbel mit ihnen am Tisch saß und er lachte über sie, weil es ihnen so lange gar nicht aufgefallen war. Und jetzt wurde ihnen bewusst, dass sie gar nicht mehr miteinander sprechen konnten, weil ihr Wortschatz nur noch das Wort Bobbel kannte. Und so übernahm fortan der Bobbel das Sagen im Haus und sie das Schweigen. Und eines Tages, nachdem der Eine gerade vom Joggen nach Hause gekommen war, teilte ihnen der Bobbel mit, dass sie jetzt leider beide in den Kleiderschrank ziehen müssten, weil der Bobbel gewachsen sei und noch mehr Raum benötige. Und das war vor 42 Tagen, 12 Stunden und gleich 29 Minuten gewesen. Und alles was sie hatten war eben jetzt noch diese Stoppuhr, die der Eine noch vom Joggen umhatte, und obwohl das Leben jetzt doch sehr eingeschränkt für den Einen und die Andere in diesem sehr engen Kleiderschrank war, tat es irgendwie gut auf die Digitalanzeige zu schauen, auf die Zahlen, die sich gegenseitig verfolgten, denn sie waren eben Zahlen und keine Wörter und kein Bobbel und das waren die schönsten Momente bis die Schrankwand wieder anfing zu zittern.

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Luca Bognanni

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freiVERS | Sascha Kokot

heute wird es nicht mehr hell
kurz war nur der Mond zu sehen
bevor sich der Himmel fest
über der Esse verschloss
die Farbe von Januargewittern annahm
die Jungs brennen ihr letztes Feuerwerk ab
im Nachhall wird dir kälter
du siehst den Schnee kommen
weißt aber der Sturm wird dich nur streifen
weit hinter den Gärten stumm wüten
die Angst in dir hat sich schon lange
ihren Platz gesucht und schläft dort ruhig
lässt dich unbewacht
nach den schmerzenden Stellen greifen
dich leise ihre Maße nehmen

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Sascha Kokot

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