freiTEXT | Sven Heuchert
Grand Hotel Abgrund
Im Badezimmer roch es nach Desinfektionsmittel, und der Spiegel hatte einen Sprung. Er versuchte, sein Gesicht so in Position zu bringen, dass es durch den Sprung geteilt wurde. Es gelang ihm nicht. Er ging zurück in sein Zimmer und setzte sich auf das Bett. Er konnte den Lattenrost spüren.
Später an der Hotelbar bestellte er Genever und Bier. Der Junge hinter dem Tresen hatte rote Haare und Akne. Er servierte die Getränke achtlos und verschüttete ein wenig. Beide sahen auf den dunklen Fleck, der sich auf der Theke ausbreitete. Der Junge kratzte sich an einem Pickel und zuckte mit den Achseln. „Auf welchen Namen?“
„Kurt Schneider.“ Schneider sah sich um. Im Fernseher ein Boxkampf, in der Luft der Geruch von schalem Bier und Erdnüssen. Er trank den Genever in einem Zug. Einer der Boxer ging K.O, und die Stimme des Kommentators überschlug sich. Schneider überlegte, aber er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Boxer gesehen hatte, der so schwer ausgeknockt worden war. Der Junge brachte neuen Genever. Diesmal verschüttete er nichts. Nach einer Weile betrat ein Mann die Bar, er trug Arbeitskleidung und einen Hut, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Er ließ zwischen sich und Schneider einen Hocker frei und bestellte Bier.
„Auf Durchreise?“, fragte er in den Raum hinein, und Schneider nickte.
Der Mann lächelte. „Kommen Sie von weit her?“ Schneider zuckte mit den Achseln. „Wie man's nimmt.“
Der Mann nahm den Hut ab und legte ihn direkt neben Schneiders Bierglas. Über seinen Kopf zog sich eine Narbe, die kurz hinter dem Haaransatz in einem scharlachroten Mal endete. Der Mann strich mit den Fingern über die Hutkrempe und nahm einen Schluck Bier.
„Unfall“, sagte er dann. „es war ein Unfall.“
Schneider senkte den Blick und sah auf den Rand seines Bierglases.
„'n paar Jahre her, bin in 'ne Maschine geraten, die Heu macht. Hatte Glück.“ Der Mann klopfte sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. Schneider hob das Glas an die Lippen. Der Rothaarige nickte.
Frisches Bier wurde serviert. Niemand sprach. Schneider trank und sah gelangweilt auf den Bildschirm. Pferderennen. Der Ton war irgendwann leise gestellt worden. In der Bar war es jetzt ruhig. Nur ab und an Motorengeräusche, kaum wahrnehmbar. Scheinwerferlicht erhellte für einen Augenblick die gesamte Hotelfront, und dann wieder Dunkelheit. Er fand, dass der Moment, in dem die Dunkelheit zurückkehrt, die ganze Wahrheit zeigt. Immer stand man im Schatten, niemals im Licht, niemals so ganz. Ein wenig vom Schatten blieb immer. Der Rothaarige blätterte in einer Illustrierten. Der Mann mit der Narbe hielt sein Bierglas mit beiden Händen umschlungen und hatte die Augen geschlossen. Schneider betrachtete die Narbe und das scharlachrote Mal. Der Mann hatte wirklich Glück gehabt. Dann legte er einen Schein auf die Theke und stand auf.
Der Mann mit der Narbe hielt ihn am Arm fest.
„Mein Junge liegt seit gestern im Koma“, sagte er, „und sie wissen nicht, ob er wieder aufwacht.“
Schneider sah den Mann an. Er sah direkt auf das scharlachrote Mal und sagte: „Es tut mir sehr Leid.“
Später im Zimmer öffnete Schneider das Fenster. Es roch nach Regen. Die Straße schimmerte in der Dunkelheit. In einiger Entfernung konnte man das Blinken des Nottelefons erkennen. Er ließ die Hände auf das Fenstersims sinken und beugte sich vor. Er konnte die Umrisse seines Wagens auf dem Parkplatz erkennen. Dann legte er sich auf das Bett, sein Kopf sank tief ins Kissen ein. Er lag eine Weile so da, stand schließlich auf und ging ins Badezimmer. Im Spiegel immer noch der Sprung. Er fuhr ihn langsam mit dem Zeigefinger nach und betrachtete sein Gesicht. Er hatte sich sehr lange nicht mehr rasiert. Morgen, dachte er, und machte das Licht aus.
Sven Heuchert
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freiTEXT | Sabine Roidl
ABC
Alles auf Anfang. Auf Ausführungen besessen besserer Champions und Chansonnetten darf die einfache Ernte eimern. Der das geschrieben hält es fest in Fingern fragt frigide ganz gut gegangen. Oder? Neidisches Nicken. Halte häufig heiteres Hi Hi Hi hinter herzzerissenen Händen im jaulenden Jammertal. Konkurrenzlos kopfkrank kann man Nächsten leben lassen. Nehme nachher mehr mit ohne Pardon. Pochende Reinheit quillt reuelos. Suche ständig steuernde Silbe; schenk mir eine. Soll sie sein schief schnief sichtbar, schützenswert. Sprache ist Stellwerk im Strudel, süchtigmachend taumelt sie talwärts, wir Träumer sind verdammt für immer. Verfluchte Wahrheit vermeidend, wohliges Wiegen unseres Unwissens. Verstehst nix von was weil warum. Wütendes Wort wird Yachthafen zerhäxelter Zundergeschichten, zartbitter: zurück auf Anfang.
Sabine Roidl
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freiTEXT | Nico Feiden
Tramperliebe
Ich ging stundenlang an einer Landstraße entlang, ohne das ein Auto anhielt, litt unter der Hitze dieser südlichen Sonne, während der Schweiß aus jeder Pore meines Körpers tropfte.
Als ich schon aufgeben wollte, hielt ein kleines Auto und eine junge Frau lächelte mir entgegen. Ein braun gebrannter Engel, der sich in diese südliche Dürre verirrt hatte.
Ich stieg ein und wir brausten los, während der Staub hinter uns in einem Wirbel aus Erregung zitterte.
Der Vorderreifen des Wagens schmiegte sich sanft an den Mittelstreifen der verlassenen Landstraße an und am Fenster zog die Wildheit der Natur wie ein verschwommenes Polaroid vorbei.
Es war eine wunderbare Fahrt, Clara so hieß sie, erzählte mir von ihren Reisen, von ihrer kleinen Modeboutique in Florenz. Sie redete und redete mit ihrer zarten Stimme und ich hörte Ihr gerne zu. Ich sah sie verlegen an, während das Licht sich auf ihrer braun gebrannten, verschwitzen Haut verlor.
Vielleicht war es, weil ich lange nicht mehr mit einer Frau gesprochen hatte, aber sie kam mir so unwirklich vor, so vollkommen, so wundervoll ...
Für ihr Lächeln wäre ich tausend Tode gestorben, Gott war sie schön.
Sie redete und ich hing gebannt an Ihren feurigen Lippen, hörte jeden Ton wie eine Symphonie des Himmels in meinen Ohren erklingen.
Sie fragte, ob ich einen Platz zum Schlafen hätte, und bot mir an bei ihr zu nächtigen. Ich lehnte dankend ab, denn der Ruf der Ferne lockte mich weiter Richtung Süden.
An einer Kreuzung verabschiedeten wir uns, sie gab mir einen Kuss; einen sanfteren und innigeren Kuss hatte ich nie bekommen und ich schwebte noch tagelang in dem zauberhaften Schleier der Verliebtheit über die staubigen Straßen Italiens, mit der tragisch schönen Erkenntnis, dass ich sie nie wieder sehen würde ...
Nico Feiden
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freiTEXT | Karin Seidner
Ahnungen
Der frühe Abend, an dem der Hochsommer in den Herbst überging, warf sie in die Heuwiese. Wolkentiere gaukelten kühle Ahnungen in die Ferne. Noch lagerte Hitze in allen Poren . Hufgeräusche schmolzen in sattgrünem Blätterrauschen. Die Geschmeidigkeit ihrer Glieder hatte das Firmament berührt und der Atem sich mit dem Goldglanz gepaart. Feuchtigkeit breitete sich unter ihre Sohlen.
Später würde der Vollmond das Übrige dazu tun.
Karin Seidner
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freiTEXT | Jacqueline Krenka
Der Punkt
Das ist er also. Dieser eine Punkt, dessen Existenz du weder jemals bedacht noch für möglich gehalten hast. Ob erreicht oder überschritten spielt hier keine Rolle. Dieser eine Punkt, an dem dein Herz so sehr gebrochen ist, dass es keine Gefühle mehr fassen kann, nicht einmal die Schlechtesten. Liebe und Hass, Freude und Trauer, Hoffnung und Schmerz. Sie alle rinnen durch die Risse, schneller noch als Wasser durch ein Sieb. Zurück bleibt ein pochender Muskel, dessen einzige Aufgabe bloß noch darin besteht, einen freudlosen Körper am Leben zu erhalten. Ob er will oder nicht, woher soll er es denn wissen? Er fühlt es ohnehin nicht.
An diesem Punkt läuft eine Träne über dein Gesicht und du fragst dich, ob sie ein Zeichen deiner zurückkehrenden Gefühle sein könnte. Doch dann bemerkst du, dass du bloß vergessen hast, zu blinzeln, als du in Gedanken versunken an die Wand starrtest. Du erinnertest dich an frühere Zeiten, daran, was für ein glücklicher Mensch du damals warst, wie herzhaft du gelacht, genossen, gelebt und geliebt hast. Du wischt die Träne weg, fokussierst deinen Blick und fragst dich kurz, wann du dich selbst verloren hast. An welchem Punkt.
Jacqueline Krenka
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freiTEXT | Renate Katzer
Großvater
Seine Worte verhallten
auf dem Amboss
unter
den Hammerschlägen
er legte
die Hand ins Feuer
für mich
sein Herz war weich und
glühend
wie das Eisen
das er trieb
sein Geist sprühend
wie die Funken
die
um meine Kindheit
tanzten
Renate Katzer
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freiTEXT | Simone Scharbert
brasch lesen
atmen lernen oder erzählen
eintauchen in lungen
ins kapillare netz
brustschwimmen
durch blutbahnen
durch deine und meine
in luftblasen denken
die gegenwart tauschen
mit jemandem
der sagt
erzähl’ mir vom atmen
das wünschen wir uns
Simone Scharbert
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freiTEXT | Fabian Bönte
52.5590437, 11.9350376
ich spüre flügelschläge
ich bin blind
ich schreie
und verliere mich im dunkel
wir treiben im nichts
wir schlagen auf trommeln
wir durchkämmen den himmel
auf der suche nach licht
Fabian Bönte
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freiTEXT | Ingeborg Kraschl
Treibjagd
Fensterbaum
er bricht dir
das goldene Licht
zum Schatten
seine Äste
dich umfangen
schließen aus
das Urteil
bis der Frost
sich nicht mehr
geduldet
die Tür
nicht mehr
im Schloss bleibt
deine unruhigen Augen
nicht mehr
vom Warten
sprechen
Ingeborg Kraschl
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