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Betreff: Jeder Mensch ist eine Insel
Lieber Murphy,
entschuldige, wenn ich störe, aber ich möchte kurz etwas festhalten. – Es fehlen ja immer Dinge zum Festhalten. Alles schwankt, alles schaukelt, wirft einen hin und her. Wo ist der letzte Punkt, an dem man unzweifelhaft noch auf dem richtigen Weg war? Ein Pfeiler, ein Pfosten, ein Stecken, ein Stab, der fest in der eigenen Geschichte steckt und nicht nachgibt, wenn man sich an ihm festhält. Wo ist man falsch abgebogen und warum? Warum hat man kein Brot gestreut, keine Schnur abgewickelt?
Ach komm, der ganze Rückweg ist anstrengend und ohnehin umsonst, denn man kann nicht zurück hinter eine Entscheidung! Aber ich rede immer nur von mir!
Dabei sollte man sich nicht so wichtig nehmen; nicht ständig ICH sagen. Der Unterschied zwischen wichtig und nichtig ist marginal. Ich kann ja jeder sagen und mit Ich fängt jede Geschichte erst an. Wer Ich sagt, hat ja bekanntlich noch nichts gesagt.
Ich und Du hat man nur erfunden, weil sich auf MENSCH nichts reimt und das ist schlecht für Liebeslieder. Auf Ich reimt sich dann Dich und das ist gut. 1 und 1 das macht 2 und 2 sind ja bekanntlich zu viel, um frei zu sein.
Im binären Code können Informationen von nur zwei verschiedenen Symbolen dargestellt werden. 1 entspricht logisch wahr, 0 entspricht logisch falsch. Kein Platz für 2/3/4 in dieser Wahrheit. -Überhaupt Wahrheit! Letzten Endes gilt doch, was die Mehrheit abnickt. Was nur zwei von 6 Milliarden schwören bleibt ungehört und Wahrheit letztendlich Statistik! Überhaupt Statistik: ein Pferd hat statistisch zwei vordere, zwei hintere, zwei linke und zwei rechte Beine, also hat ein Pferd acht Beine! Statistik: eine der Errungenschaften der Neuzeit! Was bleibt eigentlich von der sogenannten Zivilisation?- Aufrecht gehen, Zentralperspektive, die Umrisslinie: alles schon so lange erfunden und viel weiter sind wir eigentlich bis jetzt nicht gekommen. Danach hat kaum noch was unbestreitbare Gültigkeit: alles kann man zerreden, zerpflücken, widerlegen und in Zweifel ziehen. (Fichtes dialektischer Dreischritt)
John Donne hat ja bekanntlich gesagt: Kein Mensch ist eine Insel. Matthew Arnold, ein englischer Dichter und Kulturkritiker, widersprach ihm und behauptete, vielmehr sei es genau so: Jeder Mensch sei tatsächlich eine Insel. Damit kann gemeint sein, dass jeder Mensch am Ende alleine ist.
Nach Arnold kann ich mich anderen Inseln zwar nähern, aber sie nie betreten, weil ich nicht deren Gene, Erziehung, Erfahrungen – sprich ‘Feintuning’ des Gehirns habe. Militärisch gesehen ist eine Insel ein Sonderfall. Sie ist zwar einerseits durch das Meer an allen Seiten eingezäunt und schwer einzunehmen, bietet aber andererseits ihren Bewohnern keinerlei Fluchtmöglichkeiten, wenn sie einmal erobert ist.
Wenn ICH nun eine Insel bin, dann bin ich wohl eingenommen, ohne Fluchtweg. SIE hat einen Hafen in meine zerklüftete Küste gesprengt und einen Steg oder eine Pontonbrücke zur nächstgelegenen Insel angelegt, die niemand anders als SIE selbst ist. Wir haben dem Meer um uns herum zusätzlich Land abgerungen. Wenn jeder Mensch eine Insel ist, dann sind wir vielleicht eine kleine Inselgruppe, ein Atoll in der Südsee, offensichtlicher Garten Eden in Blüte, aber der erste, den die Klimakatastrophe schlucken wird.
Man müsste ganz einfach heute seine Unabhängigkeit erklären; sich lossagen von aller staatlichen und auch sonstigen Bindung an irgendein Gefüge oder Konstrukt. Den Paß höflich im Amt zurückgeben. Der Gedanke fasziniert mich schon lange. Alle Waffen niederlegen, die Tarnkappen und Masken abstreifen und die Texte sämtlicher Rollen von einem Tag auf den anderen vergessen. Sein eigenes Land sein; das Einzige ohne Grenzen, ohne Armee oder Verfassung. Ein eigenes Hoheitsgebiet: Wo ich bin, ist Territorium von Meinland und die Welt um mich herum wäre immer nur auf Staatsbesuch.
Bitte entschuldige wirklich diese absurde Störung.
Es wird nicht wieder vorkommen. Versprochen!
Herzlichst,
dein
J.
Matthias Engels
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