freiTEXT_Illus6-3

Der Schwan und der Geier

Ihr Lachen ist so sanft wie das Plätschern eines Gebirgsbaches. Und ich fühle mich wie die Fliege, die langsam im zarten Plätschern ertrinkt, qualvoll erstickt. Ich kann nämlich fliegen, wenn sie nicht da ist. Es gibt dann nichts, das leichter ist als ich. Das schönste Lachen, das glücklichste Strahlen und das hübscheste Mädchen weit und breit, das bin dann ich. Obgleich das arrogant klingen mag, ist es als solches nicht zu verstehen. Denn ich bin ein Mädchen wie jedes andere, verstehen Sie das nicht falsch. Aber in seiner Nähe bin ich eine Elfe. Dann habe ich Flügel, die in der Sonne glitzern und Zähne wie weiße Perlen aus dem indischen Ozean (obgleich ich tatsächlich nicht weiß, wie Perlen aus diesem Gewässer aussehen) und dann bin ich so schwebend frei und leicht wie eine Feder. Ich dufte nach süßen Früchten und ich schmecke wie ein exotisch-köstliches Gewürz. Er verzaubert mich immer wieder zu dem schönsten Kind unter der Sonne.

Doch jetzt ist sie da und jetzt hat sie das Perlenlachen. Selbstverständlich trägt sie in sich das sanfte Plätschern ihrer Stimme und die sanfte Anmut ihres weiblichen Körpers. Sie hat ein bisschen zugenommen, doch das stört hier wirklich niemanden. Vielmehr scheint es ihre unaufdringlich reizende Art, in die Welt ihre liebevolle Botschaft noch ein bisschen mehr hinauszutragen. Zu beweisen, welch Schönheit Frau und Mädchen in weicher Silhouette in sich tragen. Soviel greifbarer und lieblicher, als ich es je zu sein vermag. Freilich nicht arrogant, da sich das mit ihrer Alabaster-Unschuld und ihrem porentief reinen Gewissen ja so sehr beißen würde, dass am Ende Engels Harfe ein Mordwerkzeug wäre.

Mein Gewissen ist nicht rein und ich muss schuldhaft und mit stiller Wut bekennen, ich besitze nicht einmal eine Harfe. Ein Beil trage ich, man sieht es mir an, man linst zu mir herüber mit skeptischem Blicke, misstraut mir aus tiefstem Herzen. So geht es einem, wenn man ein Beil in den Augen trägt und jederzeit drauf und dran scheint, es in grausamer Gewalt zu benützen. Zu hacken in Blut und Fleisch und zu brüllen, zu schreien, in der Anmut eines brunftigen Stiers.

Doch ich tue nichts und ich spreche auch nicht. Kein Wort kommt aus meiner heiseren Kehle. Die Stimme würde gewiss nicht plätschern, denke ich in finsterer Ironie. Sie würde würgen, kratzen, raunen, klänge wie ein schräger und gieriger Geier. Ja, ein Geier, der bin ich, wie ich sie mit Blicken umkreise und wie eine Elster will ich es ihr stehlen, das Gold auf ihrer Seele.

Oh ja, sie würde es mir schenken, wenn ich sie darum bäte. Und dann müsste ich sie leider blutrünstig ermorden.
Sie ist der Schwan, ich der Geier.
Ich umkreise sie, bis ich schreiend davon laufe.
Weine.
Wertloses Stück Dreck, in einem letzten Verzweiflungsakt. Auf heischender Suche nach Aufmerksamkeit der Menge. Die wiederum leider ganz verliebt in sie ist, diesem göttlich Geschöpf.

Wenn ich auf dem Berg bin, kann ich wieder atmen.
Dann beginne ich zu verstehen.
Dass keiner von uns fliegen kann.

Christine Gnahn

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