freiVERS | Georg Großmann
Häutungstier
Ich bildete mir meine
erste eigene
Meinung
Meine erste eigene
Meinung bildete sich
unter der Hornschicht
Meine erste eigene
Meinung wuchs mir wie
eine innere Haut
Eine eigene Haut
meine innere Meinung
Ich streifte die
elterliche Exuvie
ab
nicht in einem Zug, sondern
zaghaft, Stück für Stück
Nun liegt sie vor mir
die Althaut
klobig und steif
wie eine Tupperware-Box
Klobig und steif war meine Haut
eine fleischige Bleischürze
ein Baukasten des letzten Jahrtausends
eine patinierte Rüstung, die kaum
Licht reflektiert
Rosafarben, nackend, weich wie
gegarte Garnelen ist
meine eigene Haut noch
Das schon
Ich schaue zurück zur
Exuvie, die wie
ein Haus, ein sicherer
Unterstand lockt
das Bekannte
der lauwarme
Pool
ich bade jetzt
kalt
ich breite meine
verletzliche Crevetten-
haut
in den schmerzhaften
Niederschlag
.
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freiVERS | Martin Dragosits
Kinderspiel
das Licht in Streifen schneiden
ohne dass es jemand merkt
mit Sonnenstrahlen Muster malen
auf die Wangen und den Mund
schon vor dem Frühstück fliegen
um die Ecke und zurück
dem Himmel Zeichen schicken
für ein kleines Wunschkonzert
bei Wolkendecke Slalom fahren
bis der nächste Tag gewinnt
.
.
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freiVERS | Thomas Steiner
ich esse gerne
im möbelhaus.
im möbelhaus
gibt es gutes essen
hunderte menschen
essen im möbelhaus, tausende
frühstück & mittag
ich mag es, wunderbar.
riesige fenster
zum parkplatz & bäume
wie schön
es ist diese art
von glück, von glück, von glück
das es sonst nicht gibt.
manchmal regnet es
dann
sehe ich den parkplatz vom möbelhaus
im regen. niemand
vertreibt mich vom tisch.
.
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freiVERS | Wolfgang Doerjer
Am Bodensee
Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Fünf Blesshühner herausgeschwommen.
Drei kleine lernen von den alten,
Wie Blesshühner sich so verhalten.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.
Der Tag erwacht, und wieder kommen
Die Blesshühner herbeigeschwommen.
Zwei kleine werden von den Alten
Sich zu benehmen angehalten.
Dann sind sie in dem Schilf verschwunden.
Doch siehe da, nach ein paar Stunden:
Familie Blesshuhn schwimmt vorbei.
Diesmal sind es nur noch drei.
"Möwe von oben!", könnt' ich schreien,
zu spät - denn keines von den Dreien
Hat dieses Unglück kommen sehen.
So ist es dann ganz schnell geschehen:
Ein scharfer Schnabel stört die Ruh'.
Die Eltern schauen nur noch zu.
Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Zwei Blesshühner herausgeschwommen.
Sie putzen sich, sie tauchen toll
Und füttern sich ganz liebevoll.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.
.
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freiVERS | Sigune Schnabel
Trägt jeder Körper eine Spur Verwegenheit
I Wurzeln
Es kann Jahre dauern, bis ich den Boden
erforscht habe, den Regen und die Nacht.
Wir reiben uns aneinander,
und es gibt Zonen, die noch nicht
ausgelotet sind nach all der Zeit.
Im Winter trägt meine Rinde
das Weiß des Anfangs,
eine Stille, die schneit,
schreit.
II Stamm
Ich gehe nicht auf dich zu.
Du legst die Hände
auf meinen Körper, weil Sätze
auf der Haut zerfallen.
Als Mutter noch Sprache war,
bin ich aus Gedichten geboren,
habe mich geschüttelt, bis die Worte brachen.
Du hast mich gesehen
im Wasserspiegel eines Sees.
Wir gehören der gleichen Familie an.
Die Fremde hat längst ihre Rinde gelassen.
III Astwerk
Ich will viele sein,
streife dich aus verschiedenen Richtungen.
Meine Haut spricht am schönsten
mit der Erde.
Wie du heißt, vergesse ich am nächsten Morgen,
und doch nehme ich drei Worte
mit zu mir.
Gemeinsam loten wir Berührungen aus.
Deine Augen sind aus Moos,
und die Landschaft ruft aus mir heraus.
Sieh mich vom Ursprung her.
Meine Geburt war leise.
.
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freiVERS | Simon Scharinger
Was es gibt. Versuch einer Liste
(A)
Die Aprikosenbäume gibt es.
Die Aprikosenbäume bei Inger Christensen gibt es.
Die Asche in meiner Hand gibt es.
Die Antwort auf meine Frage gibt es, zumindest hoffe ich das.
Den Adamsapfel gibt es.
Die Altgebliebenen gibt es.
Das Allein-Sein in jeder Stunde gibt es.
Das Auschwitz in den Büchern gibt es.
Das Auschwitz außerhalb von Büchern gibt es.
Den Anus als primäres Geschlecht gibt es.
Die Akropolis gibt es.
Den Anfang im Wort gibt es.
Die Architektur von deinem Zuhause gibt es.
Die Abtreibung als Recht gibt es.
Die Ausländer im Inland gibt es.
Die Ausländer im Ausland gibt es.
Das Andere gibt es.
Die Angst gibt es.
Das Auseinander-Setzen in der Schule gibt es.
Die Anschläge in Wien, in Paris etc. gibt es.
Die Anschläge außerhalb Europas gibt es, sie interessieren aber nicht.
Die Anschläge, fast ausnahmslos ausgeführt von Männern, gibt es.
Die an.schläge gibt es.
Die Aktionen gibt es, bei Hofer, Billa, Spar, Marina Abramovic´ und unübertroffen bei Pjotr Andrejewitsch Pawlenski.
Das ABC gibt es.
Das ACAB gibt es.
Das Agitative gibt es, bei Brecht, bei Gruber, bei Schlingensief, bei Hubsi Kramar.
Das Abschieben gibt es, von Verantwortung, von Schuld, von Pflicht, zusammengefasst im Abschieben von Menschen.
Den Anfang, dem ein Zauber innewohnt, gibt es.
Die Artikel in diesem Text gibt es.
Das Aus gibt es.
(B)
Die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blätter von Ahorn, Kastanie, Buche und Eiche gibt es.
Die Balkone in Innenhöfen gibt es.
Den Balkan gibt es.
Das Babylon im 1. Wiener Gemeindebezirk gibt es, sprachverwirrt.
Das Bescheidene in Wünschen gibt es.
Das Baiser auf Torten gibt es.
Die Besen in Abstellräumen gibt es.
Die Brombeeren bei Inger Christensen gibt es.
Das Brot als Waffe gibt es.
Die Beerdigung des Kommunismus gibt es und seine Auferstehung.
Die Beliebigkeit in der Kunst gibt es.
Die Blunzn als Schimpfwort gibt es.
Die Bombe in Hiroshima gibt es und die in Nagasaki.
Das Beben von Valdivia gibt es, nebst dem grundsätzlichen Beben.
Das Balancieren in der Liebe gibt es.
Die Bücher von Friederike Mayröcker gibt es.
Die Bums‘n in Schärding gibt es.
Die Behörden hörig den Behörden gibt es.
Die Beamten gibt es.
Die Beleidigung von Beamten gibt es.
Die Brust von dir in meinen Händen gibt es.
Den Balsam für die Seele gibt es.
Die Backen gibt es, zusammengezwickt, gekniffen, errötet, immer eine Art Anus ummantelnd.
Die Bakchen gibt es. Und größenwahnsinnige weiße Regisseure, die sich an ihnen versuchen; im Chor, mittels Fließbandarbeit, auf faschistoide Weise Faschismus beleuchtend.
Die Besamung von Kühen gibt es.
Das Banale gibt es.
Die Banane gibt es.
Den Brand nach einem Rausch gibt es.
Den Brand der Wälder in Australien gibt es.
Das Beten von Auswendiggelerntem gibt es.
Die Bigotterie gibt es.
Das Bienensterben gibt es.
Die Blumen und die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blicke, die ganz wie Flammen tanzen, gibt es; bei Marina Zwetajewa.
Das Biegsame gibt es, bei Birken, Rückrädern, etc. pp.
Das Bikini-Atoll gibt es – le bikini, la premiére bombe an-atomique – und seine Fischer und kontaminierten Thunfisch und Verstand.
Die Bierdeckel von Martin Peichl gibt es, und die im Café Bendl, einem um die Ohren fliegend.
Die Besinnlichkeit, die immer bloß Besinnlosigkeit meint, gibt es. Und sie ist zu verwerfen.
Die Bettgeher gibt es, bei diesen Mietpreisen vielleicht bald wieder.
Die Bretter, die eine Welt bedeuten, aber niemals die Welt, gibt es.
Den Blumenanbau, der Leben nimmt und Freude schenkt, gibt es.
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freiVERS | Christopher Schmall
gren_zen
wiese steinern umfriedet
manch halm beugt sich hinüber
manch löwenzahnkopf
regenschwer
pflastersteine
eingefügt in asphalt
der stellenweise neu gegossen wurde
die weiße markierungsfarbe
die den radweg beschreibt
ergraut zunehmend
wie auch die zebrastreifen
an der kreuzung und
die mauern ringsum
ich knöpfe die jacke zu
setze die maske auf
schalte mein handy aus
schließe mund und augen
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freiVERS | Martin Piekar
zwischen den anschlussschlitzen der luft
verschwindet abstoßung
& doch, da die neugier, die bedeutung
fasst mich, ein verbrannter griff, ihrer, meiner
die bedeutung fasst mich an
sie fragt, ob ich ihren newsletter abonnieren will
wir sind unsere daten, denke ich
da huscht die bedeutung um die ecke
wir sind der rohstoff des einundzwanzigsten jahrhunderts
ich fresse bildschirmlicht um licht
wie leer ich mich fühle, wenn es in jedem stimmfang
jeder werbung, jedem hack um mich geht
warum wollt ihr mich?
mich substanzloses ich, ich begreife mich nicht
ich als akzidenz der plastiktüte
eine junge frau schob sie mir zu
voll windeln & brot & bat mich, sie zu entsorgen
ich behalte sie, weil es sich cool anfühlt
etwas illegales zu besitzen
verleiht irgendwie substanz, dieses verruchte
vor einem selbst
kanister schwarzgebrannter sehnsucht, auf offner straße
wir prosten uns zu, jeder nimmt die leere an
& trägt sie mit sich
um nicht von ihr verschlungen zu werden
realisten sind die schlimmsten utopisten
diese plastiktüte wird dich überleben
denn wie es in server hineinhallt, schallt nichts, nichts
nichts mehr hinaus
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freiVERS | Christl Greller
unsteter flug
mitten auf der strecke stehen bleiben.
und liegt der uralte himmel schwer
über allem.
zeichen zeichnen sich ab,
heller werdend.
das leben ändert ständig seine fahrtrichtung,
gibt keinen blinker.
gut, wenn du
und schaffst du es, mitzukommen
beim lebens-terror.
ändere!
ändere!
ändere!
schwankend wird dein flug,
ob du es willst
oder nicht.
schmetterlingsgleich.
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freiVERS | Steffen Bach
münchen zob
am zentralen omnibusbahnhof in münchen
wartend auf den fernbus nach innsbruck,
eine frau kommt auf mich zu, fragt ob
ich ihr kind halten könnte, während
sie auf die toilette geht, es ist ein
kleines kind, ein baby, mit vielen weich
aussehenden dunklen haaren auf dem kopf.
ich sage ja ohne darüber nachgedacht zu haben.
sie bedankt und geht.
sobald sie nicht mehr
zu sehen ist, kommt mir der gedanke, was
wäre, sie käme nie wieder, ich male mir ein leben aus
mit dem kleinen jungen oder mädchen, ich weiß
das geschlecht nicht, mit dem findelkind.
dann kommt sie wieder, schenkt mir einen schokoriegel
mit russischen buchstaben drauf;
geht mit dem kind auf dem arm weg.
den ganzen weg nach innsbruck über fühle ich mich leer.
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