freiTEXT | Claudia Eilers

Graugänse

Die Gänse sind zurück. In Scharen stehen sie auf dem Feld, putzen ihr Gefieder und schlagen mit ganzer Kraft ihre Flügel, um sich von Staub und Milben zu reinigen. Ihre orangen Schnäbel durchwühlen den vom Regen aufgeweichten Boden, während ihre platten Füße durch die feuchte Erde stapfen, sodass kaum ein Flecken verschont bleibt. Junges Grün wird hier sicherlich nicht mehr wachsen, ziehen sie doch jeden aufkeimenden Spross kraftvoll aus der Erde. Langsam sickert Wasser in Erdlöcher und kleine Gräben hinein, die durch das Scharren auf dem Ackerboden entstanden sind. Ihre Ankunft verkünden die Gänse eindringlich und laut, weshalb das Kind ihre knarrenden Rufe selbst aus einiger Entfernung hören kann. Es fragt sich, ob ihr Weg wohl lang und die Reise beschwerlich war. Die Vögel werden es ihm nicht erzählen, ebenso wenig wie der Wind, der ihm rote Wangen ins Gesicht treibt und so kräftig in seine Augen bläst, dass sie tränen.

Von einem kleinen Hügel aus kann das Kind die Gruppe erkennen. Sie zanken und streiten sich um Nahrung und den besten Platz, um der Frühjahrskälte zu entgehen. Manchmal ringen sie miteinander. Dann sieht man deutlich ihre langen roten Zungen und hört das garstige Zischen aus ihren Hälsen. Das Kind wagt kaum, sich ihnen zu näheren, denn es fürchtet, dass es die Gänse in seinem gelben Regenmantel für einen Feind halten könnten. Von ihren Schreien eingeschüchtert, zupft es verlegen an seiner roten Mütze. Es will nicht kämpfen, da es im Gegensatz zu den Tieren keinen Sinn darin erkennt. Dann schaut es in den Himmel, der – von Wolken durchzogen – nur wenige Sonnenstrahlen auf die Erde fallen lässt. Es blickt zurück auf das Federvieh, wie es nicht müde wird, einander die Würmer aus den Schnäbeln zu reißen. Sie sehen hungrig, aber nicht ausgemergelt aus, was das Kind in seiner Ansicht bestärkt.

Es erinnert sich, wie einträchtig sie im Herbst in den Süden zogen, wie einige die Formation anführten, dem Gegenwind trotzten und sich für die Gruppe aufopferten. Was ist in den wenigen Monaten nur geschehen, dass dies nun vorbei ist. Es fragt sich, auf welche Weise sie ihre Jungen ausbrüten und großziehen, und stellt sich vor, dass die Küken hinter ihrer Mutter herwatscheln, nur um nicht von den anderen niedergetrampelt zu werden. Wie groß wohl der Schmerz der Kleinen beim Verlust der schützenden Flügel sein muss, wenn sie das erste Mal selbst einem Artgenossen ihre Zunge entgegenstrecken, damit sie nicht im Gedränge untergehen? Nein, das Kind ist sich sicher: Es will ganz bestimmt keine Gans sein.

Noch einmal schaut es sich die schnell vorbeiziehenden Wolken an. Trübe und grau sind sie – wie das Gefieder der Tiere. Das Kind kneift die Augen zusammen. Es versucht einzelne Individuen in der feldgrauen Masse auszumachen und merkt, dass es ihm kaum gelingt. Ihm scheint, als könnten die Tiere gar nicht anders, als sich mit gerade gestrecktem Kopf und stolz gefüllter Brust im Matsch um Kriechtiere und Gräser zu streiten.

Etwas Kaltes trifft das Kind an der Stirn. Erst fallen nur wenige harte Tropfen auf die Erde, bis es schließlich wie aus Kübeln schüttet. Vom Regen überrascht, steht das Kind in seinem gelben Regenmantel da. Verträumt beobachtet es, wie sich das Wasser auf seinem Plastikumhang sammelt und langsam an ihm herunterläuft. Die Gänse haben unterdessen nicht gewartet. Ohne zu zögern sind sie in einem neu gebildeten Schwarm weitergezogen, bevor das Unwetter sie erreichen konnte. Allein bleibt das Kind am Feldrand zurück und starrt in das unheilvolle Grau aufgezogener Gewitterwolken.

 

Claudia Eilers

 

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