freiTEXT | Katja Johanna Eichler

Schlamm und Schimmel

Sie trank inzwischen täglich Schlamm. Sie rührte sich jeden Morgen einen Teelöffel der Vulkanmineralien in ein Glas mit etwas Wasser, bis dies zu einer grauen Masse wurde und trank es. Jeden Morgen schaute er zu, wie die Masse in einem schmalen Rinnsal schwerfällig vom Glasboden in Richtung Rand rutschte und dann zwischen ihren beiden kirschroten Lippen verschwand. Jeden Morgen fand er, dass sie über Nacht wieder an Farbe verloren hatte, dass ihre Haut unterschiedliche Grautöne ausprobierte. Nach zwei Wochen fand er, dass ihre Haut auch die Grautöne verloren hatte und weiß, fast durchsichtig wurde. Im Folgenden fand er sogar, dass die Haut feine Risse bekam, so wie alter, weißer Marmor. Er dachte an antike Statuen in griechischen Tempeln, er dachte dann an Rom und an Pompej, an den Vesuv, der noch immer halb wach vor sich hin dämmerte und er dachte vor allem an Asche, die alle Häuser bedeckte und heiß in menschliche Lungen gesogen wurde. Inzwischen regnete es in jedem seiner Nachtträume Asche. Meist fiel sie in leisem Sinkflug auf eine zarte, fast durchsichtige Statue mit feinen Bruchstellen an Knien und Ellbogen. Bei näherem Hinsehen erkannte er Lola, obwohl ihr Statuen-Gesicht verzerrt aussah, die Stirn faltig, die Augen zusammen gepresst, der Mund eine schmale Linie. Es waren keine göttlichen Gesichtszüge, es waren schmerzverzerrte Linien. Eine Kore mit weltlich belastetem Antlitz.

Wenn er morgens aufwachte, lag sie nie mehr neben ihm. Vergeblich ließ er seine Hand Morgen für Morgen auf die andere Seite des großen Bettes wandern, das sie sich kurz vor Weihnachten zusammen gekauft hatten, nachdem sie diese Dachgeschosswohnung in der Innenstadt gemeinsam bezogen hatten. „Liebesnest”, hatte er sie damals liebevoll genannt. Jetzt war es „die Wohnung”. Eine Wohnung, in der zwei Menschen ein und ausgingen, um ihr Tagesgeschäft zu verrichten. Für Lola bedeutete das, früh aufzustehen, zur Uni zu gehen, danach die Unterlagen zu lesen, die wichtigen Stellen mit einem neongelben Marker anzustreichen und sie dann an der einzig richtigen Stelle in ihrem Universum von gereihten Ringordnern unterzubringen. „Die Wohnung” war zu einem Ort der Reihen geworden: Der Schuhreihen im Flur, der Bücherreihen im Wohnzimmer, der Reihen von Gewürz- und Müsligläsern in der Küche, von aufgereihten Kissen auf dem Sofa und Reihen von Duschgel- und Shampootuben im Bad.

In „Liebesnestern”, wie er sie meinte, gab es keine Reihen. Dort waren die Betten unordentlich, die Bettbezüge rochen nach Liebe und wiesen mehrdeutige Flecken auf. In „Liebesnestern” standen unbeachtet benutzte Weingläser herum, auf dem Küchentisch und neben dem Sofa, auf dem in wohliger Vertrautheit Kissen herum lümmelten. Espressokannen standen bereit, in denen jederzeit schwarzes italienisches Espressopulver aufgekocht werden konnte. Es gab Trauben im Kühlschrank und aufgebrochene Knoblauchzwiebeln, die achtlos neben großen Flaschen von frisch abgefülltem Olivenöl lagen. Es kam vor, dass Reste von Avocado, Schinken und roter Beete auf bunt befleckten Holzbrettern zu Zeugen eines gemeinsamen Kochens in leichter Bekleidung wurden, die einzig mögliche Schlussfolgerung nach einem Tag im Bett, der die Hautporen erfüllt hatte, aber nicht die Mägen. In „der Wohnung” fand sich von all dem nichts.

Als er Lola das erste Mal begegnet war, war sie weit davon entfernt gewesen, dem Abbild einer Göttin zu ähneln. Damals war sie eine Göttin. Sie unterschied sich von den anderen Erstsemesterinnen, die die Tischreihen des Hörsaals mit ihrer raschelnden und raunenden Profanität füllten, indem sie mit ihren Popos in viel zu engen Hosen die Klappstühle herunter drückten und nervös an ihren Haaren, dem billigen Modeschmuck und ihren Telefonen herum fingerten. Sie war ihm so anders als die anderen erschienen, dass ihr Anblick ihn geschmerzt hatte. An jenem Tag hatte er die Vorlesung dazu genutzt, sie genau zu studieren, ihr kantiges Profil mit dem starken Mund und der langen geraden Nase und ihre simplen glatten rötlichen Haare, die vorgaukelten, niemals irgendeiner Behandlung ausgesetzt gewesen zu sein. Als sie den Saal betreten hatte, schmucklos und schlicht gekleidet, hatten ihre Augen blitzschnell die Sitzreihen überflogen und zielbewusst seine selektiert. Er wusste, er hatte diese Wirkung, er war es gewohnt, dass ihm viele Blicke zukamen, doch damals war es anders gewesen. Nach der Vorlesung hatte sie hinter der weit geöffneten Flügeltür des Hörsaals auf ihn gewartet und er war auf sie zugegangen, als wäre dieser Augenblick alleine dafür bestimmt gewesen. Sie hatte ihm die Hand gereicht, sich ihm vorgestellt und er hatte ihre Hand mehrer Augenblicke in seiner gehalten. Nur drei Monate später waren sie zusammen gezogen. Er hatte sich glücklich gefühlt, bis das mit dem Schlamm begann.

Das mit dem Schlamm veränderte nicht nur seine Träume, sondern auch sein Geschmacksempfinden. Es fing damit an, dass er eines Morgens dachte, die Marmelade sei schimmelig. Oder das Toastbrot. Er nahm die Toastscheiben aus der Tüte, klappte sie auseinander und studierte sie sorgfältig. Aber er konnte keine Schimmelspuren entdecken. Er roch am verschmierten Deckel der Marmelade, stob mit der Messerspitze durch die rote Masse und quirlte die dunkelroten Punkte auf. Er konnte auch hier keine Schimmelschlieren entdecken. Irgendwann stellt er fest, dass sich der Schimmelgeschmack nicht nur auf das Frühstück beschränkte. Er zog sich durch alle seine Mahlzeiten. Er stellte auch fest, dass der Geschmack nicht pilzig, sondern steinig war. Er fragte sich, wie lange das mit dem Schlamm und dem Schimmel noch so weiter gehen konnte.

Es regnete, als er die Wohnung betrat, genau acht Wochen nachdem sie angefangen hatte, Schlamm zu trinken. Genau zwölf Wochen nachdem sie gemeinsam in ihr Liebesnest gezogen waren, das niemals eines werden sollte. Er zog seine Stiefel aus und stellte sie zu den anderen Schuhen, die sich im Flur an der Wand zwischen Eingangstür und WC-Tür aufreihten. Er zog seine durchnässte Jacke aus und hing sie an einen Haken aus der Reihe von Haken, die über die Schuhe wachte. Er ging in die Küche und sank erschöpft auf einen Stuhl. Es ließ das Licht aus, obwohl es draußen dämmerte und schaute abwechselnd zum Fenster hinaus und zu den Konturen der Trinkglas-Reihe auf dem Wandboard und der Müsligläser auf der Anrichte. Neben den großen Vorratsgläsern konnte er den weißen Kunststoffbehälter erkennen, der das puderige Pulver enthielt, das jeden Morgen als schmale Schlammlawine durch den Kirschmund rann. Er wusste, was auf dem Etikett stand, er wusste es auswendig, so oft hatte er es gelesen: Zeolith, Detox-Pulver, der Schadstoffbinder. Es würde alles absorbieren und hinaus transportieren, neue Energie geben, ja es half sogar gegen explodierte Atomreaktoren. Er hatte es selbst einmal probiert und er wusste, es machte Bauchschmerzen und einen grünlichen Stuhlgang, aber hey, alles nur leichte und völlig erträgliche Nebenwirkungen für einen maximal sauberen Darmtrakt. Plötzlich stand sie im Türrahmen, er erschrak und fragte sich, ob er die letzten Worte still gedacht oder laut gesagt hatte. Er hatte sie nicht kommen hören oder war sie die ganze Zeit da gewesen? Lief sie überhaupt noch oder schwebte sie bereits? Was hatte das Zeug schon alles absorbiert? Die letzten weltlichen Mikrospuren von Alkohol, Koffein und Schokolade? Oder bereits Nähr- und Mineralstoffe, gar erste Zellen? Höhlte es ihren Körper von innen aus? War sie nur noch die Hülle von Lola? Eine schwebende Kore in einem geordneten Imperium aus Reihen? Er sah ihr ins Gesicht. Es war nicht das verzerrte Antlitz aus seinen Träumen. Ihr Gesicht war klar und eben. Sie kam auf ihn zu, setzte sich auf seinen Schoß und legte ihre Arme um seinen Hals. Er konnte sie kaum spüren, aber er roch sie. Sie roch nicht nach Ascheregen. Sie roch nach Regenregen. Sie roch so anders als all die anderen. Sie roch so göttlich, dass es ihn schmerzte.

Katja Johanna Eichler

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03 | Katja Johanna Eichler

Zerlaufen

Ich hatte sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Sie sah müde aus. Dass sie eigentlich vorgehabt habe, in die Ritzen zwischen den alten Holzdielen zu zerlaufen. Die alten Holzdielen. Die Guten. Ließen alles über sich ergehen.

Das sagte sie irgendwann. Sie sei lose Masse gewesen. Schwarz, hässlich, träge. Sie habe schon eine ganze Weile auf den Dielen gelegen. Sie wollte gerade in deren Ritzen zerlaufen. Da habe das Handy geklingelt. Hätte das Handy nicht geklingelt, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den Dielen. Ich verstand sie nicht. Aber ich mochte sie, so wie damals.

Sie schwieg.

Ich schwieg.

Dass ich sie sofort wieder erkannt hatte. Das sagte ich irgendwann. Und dachte, dass sie ausgesehen hatte, wie ein Bambi, das sich in unsere Zivilisation verlaufen hatte. Ausgerechnet in einen Drogeriemarkt. Ein Bambi aus dem Wald, das ungewollt zu trashiger Weihnachtsdeko geworden war. Große verlorene Augen zwischen Shampooflaschen, Slipeinlagen und blinkenden Lichterketten.

Ihre Augen waren es gewesen, die ich wieder erkannt hatte. Hätte sie mich nicht angeschaut, hätte ich mich wenig später nicht an sie erinnert. Hätte nicht bei ihren Eltern nach ihrer Nummer gefragt. Hätte sie nicht angerufen.

Hätte sie mich nicht angeschaut, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den alten Holzdielen. Es ist gut, sich anzuschauen. Hatte ich das gesagt?

Sie schaute mich an.

Ich schaute sie an.

Vor zwanzig Jahren war uns das auch passiert. Das mit dem Anschauen. Immer wieder war uns das passiert. Zwischen den Tanten, Paten und Omas hindurch. Über die Klöße hinweg.

Ich hatte ständig schlucken müssen. Wegen der engen Krawatte des Konfirmationsanzuges und des reifenden Adamsapfels. Wegen der trockenen Klöße. Wegen ihres Blickes. Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Hatte sie das gesagt?

Sie lächelte.

Ich lächelte.

Ich dachte, dass ich sie mochte. Dass ich alles von ihr wissen wollte. Mir fiel dabei ein, dass ich keine Zeit hatte. Dass es unfreundlich wäre, auf die Uhr zu schauen. Und dass Anna gestern Abend kaputt und gereizt gewesen war. Wegen der Kinder. Und ich spät von der Arbeit nach Hause gekommen war. Wegen des Projekts. Mir fiel ein, dass ich für das hier gerade keine Zeit hatte. Wegen der Kinder und wegen des Projekts. Und weil Dezember war. Mir fiel wieder auf, wie müde sie aussah. Nicht das Wenig-Schlaf-Müde. Das andere. Mir fiel auf, dass zwanzig Jahre nur ein Augenblick waren, wenn man jemand mochte.

Was machst du eigentlich so, fragte ich sie.

Nichts. Sehr leise sagte sie das. Nach einer Weile. Ich zerlaufe ins Zwischen. Nur das.

Ich verstand sie nicht. Ich verstand nicht, wie man zerlaufen konnte. Ich verstand nur etwas vom Verlaufen und vom Verrennen. Ich sagte nichts, weil ich sie nicht verstand. Weil sie schwarze zerlaufende Masse war und heute Dreck zwischen Holzdielen wäre, hätte ich sie nicht angerufen.

Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Das hatte sie schon einmal gesagt. Es gibt viel zu wenige davon. Das hatte sie vorher noch nicht gesagt. Die Menschen schauen sich zu wenig an. Das sagte sie auch.

Ich nickte.

Sie nickte.

Irgendwann stand sie auf und ging. Es war spät. Nicht das Uhren-Schau-Spät. Das andere. Ich ruf' dich an. Das rief ich ihr hinter her. Sie nickte, ohne sich umzudrehen.

Katja Johanna Eichler

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