freiTEXT | Barbara Zoschke

Die Liebesunwahrscheinlichkeit

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marokko, london 116

Die Liebenden saßen unter dem bisschen Hoffnungsgrün links im Bild. Sie hatten den Ort gewählt, weil er ihr ein wenig Schatten bot, während er mit dem Gesicht halb in der Abendsonne auf einem breiten Sims Platz finden konnte. Sie empfanden Glücksstille. Gleich würden sie die Lesung eines von ihnen beiden verehrten Autors besuchen.

Als das Handy des Geliebten klingelte. Der Geliebte zuckte zusammen und sagte: „Das ist meine Familie.“ Dabei sah er seine Geliebte mit Unvermeidbarkeitsbedauern an, das schwer auf seine Schultern drückte. Der Geliebte stemmte sich gegen sein eigenes Gewicht und stand auf. Er entfernte sich mit Rücksicht auf die Familie und auf die Geliebte von der Geliebten, obwohl er sich durch seine heimliche Verabredung zur Lesung mit Rücksicht auf die Geliebte und seine Familie gerade erst von der Familie entfernt hatte. Die Geliebte erkannte darin auf Anhieb die vertrauten zwei halben Wahrheiten, die allerdings jetzt, da sie allein im Innenhof war, plötzlich und unerwartet in weitere, immer kleiner werdende Wahrheitsanteile zerfielen, die die Geliebte proportional zur Dauer des Wegbleibens ihres Geliebten immer schlechter zu einem Wahrheitsganzen zusammenkratzen konnte. Schon erschien es ihr nur noch zu einem Viertel wahr, dass es sie selbst überhaupt gab. Und das Viertel wiederum schmolz in der Abendsonne auf die Größe eines Achtels Butter. Die Geliebte trank gegen den Wahrheitszerfall an und leerte das Weinglas, das ihr der Geliebte im Weggehen überlassen hatte, in einem Zug. Doch es nützte nichts. Die Wahrheit zerfiel weiter bis sie schließlich unwahrscheinlich war und überschwemmte die Geliebte dergestalt von innen.

„Ach, käme er nur schnell zurück“, dachte die Geliebte. Die Unwahrscheinlichkeitsschwemme hatte ihre Gedanken längst geflutet. „Und was, wenn er hat nach Hause fahren müssen, weil der Junge sich verletzt hatte?“ Er würde ihn verbinden müssen, vielleicht sogar ins Krankenhaus fahren, ihm versprechen müssen, ihn nie wieder allein zu lassen. Die Geliebte suchte nach einem Ausweg, der es ihr erlaubte, ihre Existenz über die Zeit des Telefonats, über die Zeit des Wegfahrens, über die Zeit des Verbindens und über die Zeit des Versprechens an das Kind hinaus zu retten.

Versuchsweise löste sie die Feststellbremse und rollte aus dem Bild.

Barbara Zoschke

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freiVERS | Barbara Zoschke

Veränderung II

Ich werde die auftragen.
Sind die, die sauberputzen.
Gebe ich darüber.
Das ist eine, die wächst, enthält, was unterstützt.
Die wird genährt und gereinigt.
Der beruhigt die, die hat vom Fahrtwind.
Ich rühre, sie enthält.
Das sind die.
Sich mit den verbinden?
Das ist, die dafür sorgt, die produziert.
Und die gebe ich hinein,
nennt sie die, die symbolisieren.
Gebe ich nämlich und hinzu.
Das ist das der und die, die stärken.
Erhält die und eine an.
Das braucht die, weil hochfährt.
Im Frühling gibt die ab,
wie eine, die sich häutet,
wie die, die aufblüht und kommt.

 

Barbara Zoschke

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