freiTEXT | Wolfgang Fortmüller

Überleben

Ich führe eine Handvoll Überlebender durch den erbarmungslosen Winter. Der zähe Marsch nach Süden nimmt kein Ende, keine Besserung des Wetters ist in Sicht. Wir stoßen nahe eines Waldes auf eine große Senke, schlagen unser Lager auf und bleiben. Im Zentrum dieser Grube errichten wir den Kohlegenerator. Ein massiver zylindrischer Kessel aus Stahl, einer Lokomotive nicht unähnlich. Die Räder abmontiert, in die Senkrechte gebracht und verankert im harten Erdreich. Der Generator ist das Herzstück, die Lebensversicherung, der Gott unserer kleinen Ansiedlung. Die Stahlrohre auf seiner Außenhaut dampfen in der Kälte, Tag und Nacht, er hält uns warm. Arbeiter errichten ringsum Unterkünfte und Werkstätten, sammeln Ressourcen aus der Umgebung. Am Rand des Lagers Kohlegruben, in den Wäldern Holz und Wild. Die Siedlung wächst, wir bauen und beheizen ein Gewächshaus, das Feuer des Signalturms führt weitere Überlebende ins Lager. Doch das Wetter wird mit jeder Woche schlechter, die Temperaturen sinken immer tiefer, die Bewohner verlieren langsam Zuversicht. Die Gebäude weiter draußen sind schwer warm zu halten, es wird zu kalt in ihnen, um dort Arbeiten zu verrichten.

Der Kohlegenerator muss übersteuert werden, um dort Radiatoren und Feuerstellen installieren zu können. Die Schichten werden verdoppelt, damit es schnell geht, bevor der Heizkessel unter der dauerhaften Überlastung in Flammen aufgeht. In der dritten Nacht nach Verdoppelung der Schichten randaliert in der Nähe der Unterkünfte eine Handvoll übermüdeter Ingenieure und liefert sich eine Schlägerei mit der Ordnungswache. Ein großer Tumult bricht aus, die Wachen erhalten Schießbefehl, die Lage beruhigt sich wieder. Am Morgen wird ein Kind am Rand der Siedlung aufgefunden, tot im Schnee. Ich veranlasse gerade eine Ermittlung, da geht der in Vergessenheit geratene Generator in Flammen auf. Mit ihm brennt alles nieder, die ganze Siedlung, so ist das Spiel designt.

Das ist bitter, denn beinah sechs Stunden am Stück war ich nun an dieser Kampagne dran, jetzt ist das Spiel verloren. Der Schriftzug am grauen Himmel über den verkohlten Resten meines Werks erscheint. Nun einen vorherigen Zwischenstand zu laden, um den Fehler auszubügeln, den Heizkessel rechtzeitig wieder herunterzufahren, das kommt Cheaten gleich und reizt mich nicht. Was solls, ich strecke mich und gehe in die Küche. Der Himmel vor den Fenstern ist so düster wie im Spiel, die Wolken hängen tief über der Stadt, als wollten sie gleich Ballast abwerfen. Der Raum ist unheimlich kalt. Die Heizung ist seit Tagen defekt, die einzigen beiden Elektro-Radiatoren in der Wohnung stecken am Verteiler in meinem Zimmer. Sie laufen stundenlang, damit ich in der Nacht nicht frieren muss. Ich mache Instant-Kaffee und stelle den Wasserkocher an, die Wohnung ist verlassen. Die ganze WG gehört über die Weihnachtsferien mir. Die Uhr über dem Türstock zeigt jetzt neun Uhr. Das Kalenderblatt ist seit Tagen nicht mehr abgerissen worden, es hängt noch der 23. Dezember, aber ich weiß sehr wohl, welcher Tag ist. Morgen muss ich für den Heizungstypen aufmachen. Zurück am Schreibtisch melde ich mich im Onlineportal der Universität an, und von der Prüfung kommende Woche ab. Schon zu knapp, ich bin erleichtert, mit einem Klick entkommen zu sein. Es wäre nichts geworden, das nächste Mal muss ich mehr Zeit einplanen. Ich bekomme Lust auf das Spiel, in dem man durch dieses riesige Alien-Meer taucht, Robinson-Crusoe im Weltall. Ich doppelklicke, sehe den Titelbildschirm aufleuchten und höre das Ozean-Ambiente. Wellen, die zusammenschlagen, ferner Horizont vor dem zwei Sonnen untergehen und die mystischen Laute einer exotischen Fauna in der Dämmerung. Nach einigen Momenten in Starre schließe ich es in einem Anflug von Lustlosigkeit wieder, zu anstrengend und nervenaufreibend wäre das jetzt. Lieber einen neuen Run im Ice-Survival starten, ich habe jetzt dazugelernt. Zuerst lüfte ich und stelle die beiden Radiatoren noch etwas höher. Aus dem Hinterhof dringt ein Schaben und Kratzen, ich sehe hinunter, Schnee von gestern wird geschaufelt. Ich hoffe, dass es gleich wieder schneit, dass die Sonne sich den ganzen Tag nicht zeigt. Morgen der Heizungsmann also. Die Gastherme reparieren. Das kommt davon, wenn man allein ist, man muss sich selbst um alles kümmern. Wäre es vertretbar, im Zimmer vor dem Computer hocken zu bleiben, während er hier ist? Was soll ich sonst tun. Danebenstehen und dem Typ auf die Finger schauen, wie er werkelt, das kommt nicht in Frage. Im Wohnzimmer ausharren und auf dem Küchentisch mit geöffnetem Laptop so tun, als würde ich etwas Wichtiges erledigen, auch lächerlich. Ich könnte ihm sagen, ich gehe gegenüber einkaufen. Falls er fertig ist, bevor ich zurück bin, soll er anrufen, oder einfach die Rechnung am Tisch liegen lassen. Die Tür fällt eh ins Schloss. Ich könnte einen kleinen Winterspaziergang im verschneiten Park die Straße runter machen. Zurück an den Bildschirm. Im nächsten Durchlauf die Gebäude näher aneinander setzen, dann ist das Überleben garantiert.

 

Wolfgang Fortmüller

 

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