freiTEXT | Tillmann Lösch
Dann sind wir schlimm zueinander
Auf dem Fensterbrett stirbt eine Fliege. Die liegt auf dem Rücken und summt und dreht sich im Kreis. Aber hoch kommt die nicht mehr. Giovanni schaut zu. Zwischen den Händen hält er sein künstliches Gebiss. Langsam dreht er das Gestell zwischen verhornten Fingern hin und her. Leute, die ihn sehen, denken, er wäre Anfang sechzig. Weil er sich bewegt, als hätte er einen Hüftschaden. Die Beine dick vom Wasser. Und die Füße sehen aus, die schaut er sich schon gar nicht mehr an. In seinem Pass steht, dass er '79 geboren ist. In Neapel. „Mafia, Mafia“, sagen die anderen manchmal zu ihm, wenn sie zusammen im Stadtpark sitzen und saufen. Aber was wissen die? Neapel kennt er eigentlich nicht mehr. Und der Mann auf dem Foto, das muss wer anderes sein.
Skupek ist vor einem dreiviertel Jahr das erste Mal im Park aufgetaucht. Die Frau weggelaufen, sagte er und auf Arbeit, da versteht ihn auch keiner. Seitdem saß er nachmittags bei den niedrigen Mauern, die die Beete eingrenzten, und trank ein kleines Boonekampfläschchen nach dem anderen. Er hatte einen stoppeligen Bart und war so dürr, dass ihm die dunklen Jeanshosen um die Beine schlackerten, wenn er sich bewegte. Und wenn er gegen Abend irgendwann aufstand, um nach Hause zu wanken, sah es aus, als könnte der nächste Windstoß ihn einfach umknicken wie einen Strohhalm. Aber Skupek hielt sich. Und am nächsten Tag saß er wieder auf der Mauer.
„Kannst bei mir auf der Couch schlafen, wenn du was brauchst“, sagte er irgendwann zu Giovanni.
„Nur für n paar Tage vielleicht“, antwortete Giovanni. Skupek nickte, trank eines seiner Fläschchen leer und grinste.
Die Fliege auf der Fensterbank summt. Giovanni schaut zu Skupeks Tür hinüber. Die ist angelehnt, aber durch den kleinen Spalt kann er nichts erkennen. Die Rollläden im Wohnzimmer sind halb heruntergelassen, das Licht ist schummrig. Skupek will das so. Dass die Rollläden fast ganz unten sind. Dass kaum Licht reinkommt. Giovanni versteht das. Dann ists nur halb so schlimm. Als er trotzdem einmal versucht hat, etwas mehr Licht reinzulassen, hat Skupek mit seiner Krücke nach ihm geschlagen und auf Slowenisch herumgeschrien.
„Wenn du das noch einmal machst, brech ich dirs Kreuz!“, hat Giovanni damals gesagt, als wieder Ruhe war. Aber der Skupek? Der hat wieder nur gegrinst, so wie er es immer macht und den Ton am Fernseher lauter gedreht.
Giovanni betrachtet die Tür. Vielleicht ist der abgehauen?, denkt er. Vielleicht ist der einfach weg? Seit zwei Tagen hat er den Skupek nicht mehr gesehen. Seit Dienstag, als Fußball lief. Italienspiel. Natürlich Streit. Ganz am Ende war Skupek taumelnd in seinem Zimmer verschwunden. Ob ers noch bis ins Bett geschafft hat, weiß Giovanni nicht.
Er legt das Gestell auf den Wohnzimmertisch und greift nach seinem Handy. Die Lederhülle ist abgewetzt und schmierig, auf der Rückseite stecken lose Papierfetzen. Eine der leeren Flaschen fällt klirrend um, weil er mit dem Fuß dagegen stößt. Er flucht. Er wischt über das gesprungene Display. Er überlegt und weiß nicht, was er machen soll. Sein Blick geht zur Tür. Am Ende lässt er es bleiben, legt das Telefon zurück auf den Tisch und sieht der Fliege dabei zu, wie sie stirbt. Der ist weg, denkt er. Ist abgehauen.
Nach einer Weile steht er doch auf. Mit seinem massigen Körper lehnt er sich gegen die Wand und sieht durch den Spalt. Aber im Dunkeln kann er nichts erkennen. Er wartet, schluckt, merkt, wie sein Herz hämmert. Seine schwere Hand mit den offenen Stellen und dem Schorf liegt auf der Klinke der Tür.
Beim Rausgehen stolpert er über Skupeks Schuhe. Es regnet zwar und es ist saukalt, aber das ist Giovanni egal. Er geht zum Bahnhof und schaut dort in die Mülleimer. Er wartet im Vorraum der Toiletten und sammelt die Gutscheinzettel ein, obwohl er weiß, dass ihm die kein Laden abnehmen wird. Er sitzt auf einer Bank und die Augen fallen ihm immer wieder zu. Als die Sicherheitsleute kommen, steht er auf und verzieht sich. Vor dem Bahnhofsladen im Untergeschoss bleibt er stehen und zählt in seiner Hand ein paar Münzen ab. Er will gerade reingehen, da kommt der Ladenbesitzer und packt ihn an der Schulter. „Verzieh dich, aber schnell!“, sagt er. Er gibt Giovanni einen Stoß und Giovanni spuckt ihn an. Dafür fängt er sich eine. Er fällt und die Bierflasche, die er dabei hat, die er vorhin beim Türken geholt hat, nicht in diesem scheiß Laden hier, die geht kaputt. Er will aufstehen, greift in die Scherben, schneidet sich und rutscht aus. Ein paar Leute schauen, eine junge Frau will ihm helfen. Sie fasst nach seinem Arm, aber Giovanni reißt sich los. „Ich hab erst einen erschlagen!“, schreit er den Ladenbesitzer an und die Frau weicht zurück.
„Mach ich auch noch mal, wenn ich muss!“ Blut läuft Giovanni zwischen den Fingern hindurch. Der Ladenbesitzer verschwindet in seinem Geschäft, die Frau ist schon weiter. Giovanni steht auf und wankt die Unterführung entlang nach draußen.
Er nimmt die letzte Treppenstufe und wartet keuchend vor der Wohnung im fünften Stock. Er drückt die Klingel. Er ist klitschnass vom Regen und die Beine tun ihm weh. Er klopft gegen die Tür und klingelt noch mal. „Skupek!“, ruft er. Als sich nichts tut, nimmt er den Schlüssel und öffnet. Drinnen ist es dunkel. Er zögert, drückt den Lichtschalter im Flur, aber die Birne ist ja schon seit zwei Wochen durch, erinnert er sich. Er schließt die Tür und tastet sich humpelnd den engen, dunklen Flur entlang. Unter seinen Schuhen knirscht es, als ob er über viele kleine Scherben laufen würde. Dann stößt er mit dem Knie gegen etwas. Der Schmerz lässt ihn stöhnen. Endlich erreicht er den Wohnzimmertisch und sucht zwischen leeren Flaschen und Verpackungsmüll nach der Fernbedienung. Er schaltet den Fernseher an. Das Licht des Bildschirms erhellt das Zimmer. Laute Stimmen einer Quizshow quatschen durcheinander. Eine Frau lacht laut, während die Männer noch lauter dazwischenrufen. Giovanni lässt sich auf das Sofa fallen und dreht den Ton ab. Das blaue Licht flutet den Raum. Wenn er sich Mühe gibt, sieht es beinahe so aus, als wäre er unter Wasser. Wenn er die Augen schließt, könnte er sich vorstellen, in einer großen gläsernen Glocke tief unten in irgendeinem Ozean zu sein. Neapel liegt am Meer, denkt er. Aber hier gibt es kein Wasser, und er öffnet die Augen wieder. Hier riecht es nur nach kaltem Rauch, nach ungewaschenen Bezügen und altem Teppichboden. Und dann ist da noch etwas anderes, denkt er.
In der Nacht wacht Giovanni auf. Er hat geträumt. Von Schweinen hat er geträumt. Von Schweinen in einem Schlachthof. Da hat er mal gearbeitet. In Kempten, im Allgäu, direkt neben einer Kaserne. Zwanzig Jahre ist das her. Die Tiere wussten ganz genau, was los ist, wenn die Lastwagen sie nachts brachten. Wenn sie durch die schmalen Gänge getrieben wurden, schrien sie wie kleine Kinder. Vor Angst rissen sie sich gegenseitig die Ohren ab und bissen sich die Körper blutig.
„Wenn wir merken, dass das Ende naht, dann sind wir schlimm zueinander“, hat Skupek mal gesagt, als sie zusammen auf dem Sofa saßen. Giovanni verstand nicht, was er damit meinte und Skupek erklärt nie etwas. Jetzt versteht er es. Er blickt zur Tür hinüber. Die steht offen. Einen kleinen Spalt nur. Aber hat er die nicht vorhin zugemacht?, denkt er. Er weiß es nicht mehr. Wagt nicht, sich zu bewegen. Der Fernseher läuft immer noch. Nackte Frauen stöhnen in die Kamera und Giovannis Mund ist ganz trocken.
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