freiTEXT | Stefan Volkmann

Grünspan

Der 16jährige Ich-Erzähler und zwei Freunde sind nach Stuttgart gefahren, um ein Konzert zu sehen. Das Konzert wird kurzfristig abgesagt, sie sind mindestens drei Stunden früher als gedacht wieder zurück in Wörth am Rhein zuhause.

Wir gingen zum Golf, stiegen ein. Uwe hielt an der Tankstelle, kaufte eine Tüte Chips und ein Sixpack. Wir glitten über die Autobahn.
„War besser als Zuhausebleiben.“
„Looking on the street, better than tv.“
Uwe parkte vorm Jugendzentrum.
„Wir sagen allen, 's war 'n Superkonzert. Hate Convoi ham zwei Stunden gespielt, die Vorband Spätzlekiller is 'n Geheimtip.“
„Ja, so geheim, dass sie nich mal aufgetreten is.“
Olli drehte einen Joint, kurbelte das Beifahrerfenster runter, zündete ihn an und lachte. Ich hoffte, Lene sei bei mir und wollte aussteigen.
„Ich brauch unbedingt die neue Spätzlekiller-Platte.“
„Ich geh nach Hause.“
„Er will zu seiner Kleinen.“
„Mittwoch, Spitz ins Loch.“
„Heut is Donnerstag.“
„Wenn du verliebt bist, is jeder Tag Mittwoch.“
„Ich bin gefahrn und steh nich auf.“
„Ich häng am Joint und kann nich aufstehn.“
Uwe seufzte, stieg aus und klappte den Sitz vor. Ich kletterte von der Rückbank, aber der Asphalt wankte wie ein Schiff bei leichtem Seegang.
„Komm gut nach Hause.“
„Grüß die Kleine.“
„Mach ich.“
Ich ging am Spielplatz, den Schrebergärten und Tennisplätzen vorbei, dachte, wenn die Sportanlagen unter den Flutlichtern fertig seien, lägen beim Freibad oben größere Tennisplätze als die alten hier unten. Würden hier neue Schrebergärten angelegt oder Wohnblöcke hoch gezogen? Ich lief durchs Einkaufszentrum, kam am Kleinstadtwol- kenkratzer vorbei und suchte Nadines Fenster. Es war dunkel, sie schlief. Ich kam an der Bücherei vorbei, ging über die Fußgängerbrücke und schaute zu unserer Wohnung, alle Fenster waren dunkel, Lene nicht da. Ich lief zum Wohnblock, ging das Treppenhaus hoch und schloss die Tür auf, schaltete Licht an, zog meine Converse aus und stand in der Küche. Lenes Jacke hing über einem Stuhl, ihre Tasche lag auf der Eckbank. Ich dachte, sie schlafe, schaltete Flur- oder Küchenlicht aus und schlich in mein Zimmer. Mein Bett war leer, ich hörte Geräusche, ging zu Jens' Zimmer und öffnete seine Tür. Die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm tauchte sein Bett in morsches Licht. Er lag auf seinem Rücken, sie saß auf ihm, ihre Schenkel waren gespreizt, er streckte seine Arme aus, legte die Hände auf ihre Brüste, aber seine Basketballerhände schienen zu groß oder ihre Brüste zu klein. Jens streichelte sie sanft, wie ein Schmetterling, der mit seinen Flügeln schlägt. Sein Unterwäschewerbewaschbrettbauch spannte und entspannte sich in kürzer werdenden Abstän-den. Ich spürte Schleier vor meinen Augen, als regnete Sand unter meinen Lidern.
„Jens sieht aus wie Apollo oder Amor“, hatte Tamara mal gesagt.
„Ja sicher“, hatte ich gelacht, „ne Mischung aus Adonis und Alain Delon, von Rodin gemeißelt.“
Er lag mit dem Kopf zur Tür, hätte mich nicht sehen können, blonde Haare fielen über ihre Brüste, bedeckten seine Hände und Unterarme. Lene öffnete zeitlupenlangsam ihre Augen, starrte mich an, aber schloß die Augen wieder. Ihr Hüftrhythmus geriet ins Stocken wie eine Maschine, die stottert, aber reibungslos weiter schnurrt. Ich dachte, ich sei auf der Rückbank im Golf eingeschlafen, stolperte rückwärts, wankte in mein Zimmer und fühlte mich, als wären Jahrzehnte vergangen. Aus ihren Mündern rieselte Sand, ihr Keuchen, Stöhnen und Atmen wehte Körner in mein Zimmer. Feuchte Dünen bedeckten meine Knie und türmten sich um meine Hüften. Ich kämpfte mich hoch, wankte in die Küche und warf ihre Tasche vor seine Tür, schloß mein Zimmer ab, barg meinen Kopf unterm Kissen und weinte. Dampflokomotiven stürzten auf meinen Körper, Eisen verdichtete sich zu Dunkelheit, die nicht schwarz genug war, darin zu verschwinden. Ich schaute in den Flur, ihre Tasche lag nicht mehr vor seinem Zimmer, und ging in die Küche, ihre Jacke hing noch überm Stuhl. Schlich zu Jens' Zimmer, drückte die Klinke und schob seine Tür auf. Er lag auf dem Rücken, atmete wie ein Baby, sie auf ihrem Bauch, aber hatte ihr Gesicht in seiner Achselhöhle vergraben. Seine Boxershort hing über einem Stuhl, ihr Slip lag am Fußende des Bettes auf dem Teppich. Jens war dunkel und trainiert, Lene schmal und hell, ein schönes, vom Liebemachen oder von Liebe erschöpftes Paar. Ich sah die Schere auf dem Tisch, nahm sie und schlich ans Bett, schnürte ihre Haare zum Zopf, setzte die Schere an und drückte beide Griffe. Lene lag so ruhig, als schliefe sie, aber lächelte, als empfinge sie eine Strafe, die sie für gerechtfertigt hielte und die sie erlöste.
„Kennst du Lene?“
„Ja, die mit den langen blonden Haaren.“
Ich stolperte in mein Zimmer, der Zopf schleifte über den Teppich, glaubte, sie weinen zu hören, aber sie hätte Tränen unterdrückt, bis ich im Flur war. Falls ich sie weinen hörte, war es ein Traum, weil ich hoffte, sie sei traurig. Ich ging in die Küche, öffnete den Abfalleimer und warf ihren Zopf in den Müll, war halb aus der Küche draußen, drehte mich wieder um und öffnete den Abfalleimer, zog eine blonde Strähne raus, rollte sie in meiner rechten Hand zu einer Schlinge und ging in mein Zimmer. Steckte die Schlinge – ihre Strähne – in einen Briefumschlag, legte ihn in die unterste Nachttischschublade und zog mich an, brachte den Müll zur Tonne, holte Brötchen und wartete auf ein Gefühl, was in Ordnung gebracht zu haben, aber es kam nicht, nichts kam, niemand.

 

Stefan Volkmann

 

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Verlorene Kokons

Mein Fenster ist offen, ich döse. An der Bushaltestelle stehen französische Mädchen, warten, sprechen und lachen. Ich erinnere mich an Karens und meinen Wochenendausflug nach Straßburg. Es war Herbst, auf den Brücken und Quais lagen Blätter. Wir gingen Hand in Hand, umarmten und küssten uns. Wenn ich jetzt daran denke, fühlt es sich an wie die Erinnerung eines Fremden oder als hätte es mir jemand in einer Kneipe erzählt. Ich saß auf dem Place Kléber auf einer Bank, zwei Teenagerinnen schauten auf ein Handy und lachten. Acht in schusssicheren Uniformen steckende Soldaten patrouillierten langsam – ihre Maschinengewehre schussbereit – an uns vorbei, spähten in alle Richtungen und suchten Terroristen. Eine aus einem Maschinengewehrlauf sich lösende Kugel hätte mich treffen sollen, mein Leben wäre in einem roten Faden auf den Boden geronnen und aus mir rausgetropft. Plätschern von Springbrunnen, der sonnige Himmel, Karen hätte mir ihre neuen Schuhe nicht zeigen können, sie wären für meine Beerdigung nicht geeignet gewesen, zu fröhlich, lebendig und silbern. Wir bummelten zum Hotel, duschten uns und schliefen miteinander, goldene oder rote Blätter wehten aus meinem Körper in ihren oder aus ihrem in meinen, wir häuteten uns, um einander näher zu sein, aber sie hatte schon was mit Sascha. Warum habe ich sie, oder wir uns, verloren? Weil ich nicht mal mich halten kann? Karen sieh, ein ängstlicher Kahn versinkt. Ich sinke, seit ich denken kann, mir meiner Umwelt bewusst bin, aber mache trotzdem weiter, als sänke ich nicht. Leben ist vom ersten Atemzug an ein Weitermachen, ein Kampf. Ich rutschte die Rutsche runter, kletterte ein sternförmiges Netz aus Tauen oder Seilen hoch und sprang in den Sand, aber verstauchte meinen Knöchel oder schürfte ein Knie auf. Jemand wird gebracht, ein anderer geholt, Kleinkindergesichter kommen und gehen, verziehen sich zu Grimassen, entspannen sich zu Gesichtern, verformen sich zu Fratzen, und so fort. Ich spielte mit Jungs und Mädchen, überall standen Frauen, mit oder ohne anderen Frauen, schoben Kinderwägen vor und zurück, hockten sich hin und beugten sich vor. Haare fielen über Dekolletés, ich scheiterte bei meinen Versuchen, ihre Blicke zu deuten. Blaue, grüne, braune und graue Augen wurden schwarz, sobald ich sie anschaute, rote oder rosa Lippen grau, schwarze Augen steinern. Ich stehe zwischen Statuen im Park, bin ein Mensch, ein Mann, ein Kind, aber will eine Statue sein, oder sitze als nackter König – Grünspan auf der Haut, in der Krone, am Geschlecht – im Kettenkarussell. Es dreht und dreht sich, aber ich komme nicht raus. Die Frauen vom Spielplatz werden älter, fegen Blätter zusammen und gehen nach Hause. Kompost wievieler Herbste fault in meinem Schoß? Ich sitze im Tretauto, rase die Kindergartenautobahn lang und will endlich raus, aber ein Schneepflug nach dem anderen rauscht an mir vorbei, Kabinenlichter blinken rechts und links, türmen Matschberge vor mir auf. Ich müsste einen Tunnel graben, um irgendwo hinzukommen, sehe fahles Licht oder Nebel, durch den oder in das orangene Schneepflüge rutschen. Sie schlittern wie in einer weißen Kugel durch mein Schütteln oder stecken fest. Blonde Haare wehen im Zwielicht, rote Fingernägel winken aus halb geöffneten Fenstern, gespreizte Strumpfhosenbeine dampfen unter Lenkrädern. Herzatemwolken tragen Sonnenbrillen. Ich trete und trete, aber komme nicht raus, als wäre ich festgewachsen. Alles wiederholt sich, die Welt läuft auf Schienen, Kinder hängen wie frisch gewaschene Wäsche an Leinen, zittern körper- und kopflos im Wind. Ich verlasse meine Wohnung, laufe durch den Gleisdreieckpark zur Agb¹ und sitze am Ufer. Pferdeschwänze joggender Frauen und Mädchen pendeln rhythmisch von links nach rechts oder von rechts nach links und messen meine Zeit. Frauen und Mädchen öffnen ihre Zöpfe, Haare fallen und strömen ins Gras, meine Zeit ist abgelaufen, nimm dein Rennrad, tritt in die Pedale, es fährt rückwärts, du weißt nicht wohin, siehst nicht, dass ein Lkw in dich rein fährt, bleib, wo du nicht mehr zuhause bist, auf der Straße liegen und stirb. Ich verheddere mich in den Haaren der Frauen und Mädchen, mit denen ich geschlafen, die ich geliebt habe, ihre Haare wachsen weiter um mich, aber die Frauen und Mädchen sind lange fort und mit anderen Männern und Jungs zusammen. Ich ersticke in Kokons, die niemanden wärmen, bin in meinen Nestern aus Haaren, die ich gebaut habe, auf dass die Liebe – oder Karen – zu mir zurückkehren, aber sie kehren nicht zurück, nie flügge geworden. Habe Milch gesabbert, Haare verklebt und stecke in meinen Nestern, die keine Kokons sind, fest, schaue wippenden Pferdeschwänzen, die meine Stunden zählen, hinterher, und will ein neues Nest, einen neuen Kokon, aber keine Frau, kein Mädchen schenkt mir mehr ihre Haare, alle joggen den Kanal lang oder fahren in Schneepflügen an mir vorbei und spucken auf den fetten Alten, der in seinem roten Tretauto sitzt, das vor einer grünen Ampel steht und nicht anspringt, runter, schlaf ein, träum süß, stirb lang.

¹ Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin

 

Stefan Volkmann

 

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