freiTEXT | Sonja Kittel

Approximation

Sie sitzt mit angezogenen Knien auf einem Stuhl und wartet. Der Hund hat sich am Boden eingerollt und schließt sich dem Warten an. Zwei Feuerkäfer krabbeln an seiner Schnauze vorbei. Einen Moment bleibt sie noch sitzen, hofft, dass doch ein Einfall kommt, ein Anfang. Stattdessen tippt sie etwas in die Suchmaschine, verliert sich in den Nachrichten des Tages. Bald klappt sie den Laptop zu, geht ins Haus und beginnt die Abendroutine. Nicht verhasst, nicht einmal unangenehm, nur Routine, die sie ein weiteres Mal nicht durchbrechen kann.

Markus lief die Treppe hinunter und raus aus der Tür. Er drehte sich nicht um, blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer. Er hatte sich viel vorgenommen für diesen Abend. Schon am Anfang der Woche hatte er begonnen sich vorzustellen, wie es ablaufen würde. War Dialoge in seinem Kopf durchgegangen und Musik, die sie hören würden, hatte die Begrüßung in verschiedenen Varianten durchgespielt. Ein Händedruck oder eine Umarmung, die ein bisschen zu lang dauert.

Die ersten Sätze sind geschafft. Der erste Absatz fertig. Plötzlich ist er aus ihrem Kopf gepurzelt. Weitere fügen sich unaufgefordert hinzu. Sie hat eine vage Ahnung, in welche Richtung es gehen könnte. Es fühlt sich nicht euphorisierend an. Es ist kein Flow. Viel mehr ermahnt sie das Trommeln und Schnaufen der Waschmaschine, dass sie bald geleert werden will.

Markus hatte Robert vor zwanzig Jahren kennengelernt. In einer Vorlesung über „Approximation“. Sie hatten begonnen sich kleine Zahlenrätsel zu stellen. Markus hatte das Papierkügelchen-hin-und-her-schieben an seine Schulzeit erinnert und die Vorlesung war fast zu schnell vorbei gewesen. Sie hatten sich in die Mensa gesetzt und gemeinsam Mittag gegessen – Kohlrabicremesuppe, Lasagne, Erdbeerkuchen – gefolgt von stundenlangem Austausch über gute und schlechte Entscheidungen im Leben. Dieser Tag war der Anfang einer Freundschaft gewesen, die sie durch das Mathematikstudium trug.

Fast eine Woche hat sie nichts geschrieben. Jetzt legt sie dem Hund das Geschirr an und geht mit ihm raus. Durch den Wald, an der Kletterwand vorbei, die heute einsam da steht, und weiter bis zur kleinen Kapelle. Dort setzt sie sich auf eine Bank. Der Hund bleibt stehen und hechelt. Die Schwarzkiefern knacksen und krachen unter der Hitze des Sommertags. Sie wollte immer schreiben. Es ist das, was ihr am meisten Spaß macht. Es ist das eine Kontinuum, das sich durch ihr Leben zieht. Sie zwingt sich, an den Text zu denken.

Sie wohnten zusammen, sie radelten zusammen, sie reisten gemeinsam nach Andalusien und wanderten durch die Sierra Nevada. Sie betranken sich am Ende jeder missglückten Beziehung und stießen auf jede neue Liebe an. Sie gingen auf Tocotronic-Konzerte, brüllten „Hi Freaks“ in die Nacht hinaus und dann war plötzlich alles vorbei. Der Abschluss des Studiums riss ihre Welt auseinander und teilte sie in zwei neue, deren Umlaufbahnen einander nicht tangierten. Robert zog nach Zürich, wo er als Doktorand an der Technischen Hochschule forschte. Markus entschied sich fürs Lehrerdasein, lange Sommerferien und geregelte Tage. Am Anfang telefonierten sie noch ab und zu, dann begann die Verbindung immer loser zu werden, bis sie irgendwann riss.

Sie hat ihr Notizbuch herausgenommen und schreibt schnell ihre Gedanken auf. Lange waren die Seiten leer geblieben. Sie jetzt mit Buchstaben, Worten, Sätzen zu füllen macht sie glücklich. Sie streichelt dem Hund über den Kopf, steckt das Büchlein ein und geht weiter. Ein leichter Wind kommt auf. Die Luft knistert. Der Hund beginnt zu zittern. Er spürt das nahende Gewitter. Erst im Alter hat er begonnen Angst davor zu haben. Heute dreht er hechelnd und zitternd seine Runden, wenn der erste Donner grollt. Sie geht schneller, läuft schon fast. Als sie das Gartentor öffnet, landen die ersten Regentropfen. Sie setzt sich auf den Teppich und krault den Hund. Sie klappt den Laptop auf und schreibt.

Acht Jahre hatten sie nichts voneinander gehört. Dann war da diese Feier. Das Geburtstagsfest einer gemeinsamen Freundin. Markus wollte gar nicht hingehen, hatte sich aber nach zwei einsamen Bier auf seinem Balkon doch einen Ruck gegeben. Als er den Garten des Heurigen betrat, berührte ihn die Szenerie. Bunte Lampions erhellten die gerade eintreffende Nacht. Die Gäste saßen dicht nebeneinander auf den Bänken, Weingläser, Zigaretten, Gesten zwischen den Händen. Es spielte ein Lied, das er einmal geliebt hatte, und er quetschte sich zwischen die feiernden Körper und ließ sich mitreißen in eine längst vergessen geglaubte Vergangenheit. Dann sah er ihn. Robert saß zwischen zwei ehemaligen Kommilitoninnen und lachte. Ein Lachen, das er so oft gehört hatte, dass es ihm zu einer zweiten Heimat geworden war. Jetzt verursachte es ein brennendes Ziehen zwischen seinen Rippen.

Sein erster Impuls war, sich zu ducken, zwischen den Tischen und Bänken hindurch zu krabbeln, unbemerkt zu entkommen. Doch schon hatte Robert ihn entdeckt, stand auf und ging zu ihm rüber. Er nahm ihn in den Arm, zog ihn neben sich auf die Bank. Er war vor ein paar Tagen nach Wien gekommen. Hatte gehofft, Markus hier zu treffen. Die anfängliche Befangenheit wich schnell dem intensiven Gespräch, das sie von Anfang an verbunden hatte. Die Bänke leerten sich, doch Markus bemerkte es nicht, weil er fokussiert war auf einen Menschen, den er so lange nicht mehr gesehen hatte und der ihm trotzdem sofort nah war, näher als zuvor.

Sie öffnet ihr E-Mail-Programm und ordnet Mails in verschiedene To-Do-Ordner. Neben sich sieht sie den Stapel Briefe liegen, der darauf wartet bearbeitet zu werden. Sie öffnet einen nach dem anderen. Der Hund legt sich brummend auf die Seite und streckt sich. Als sie nichts mehr davon abhalten kann, wendet sie sich wieder dem Bildschirm zu und schreibt.

Markus und Robert redeten die ganze Nacht. Sie schlossen nahtlos an das an, was sie gehabt hatten. Gute und schlechte Entscheidungen in ihrem Leben, Zahlenrätsel, „Hi Freaks“. Als sie auseinandergingen, war trotzdem alles anders. Markus konnte nicht aufhören, an Robert zu denken. Alles in ihm zog auseinander. Er wollte zurück in diese Nacht, zurück an die Seite von Robert, zurück in das Gespräch.

Markus lag auf der Couch und starrte sein Handy an. Wartete auf eine Nachricht, verzehrte sich nach einer Nachricht. Doch es kam nichts. Er schaltete den Fernseher an. Zappte von Programm zu Programm. Schaute wieder aufs Handy. Nichts. Er tippte ein paar Worte in sein Telefon, löschte sie wieder. Er schloss die Augen, versuchte, zu verstehen, was passiert war. Dann schrieb er doch eine Nachricht: „Hey, war schön gestern. Wie lang bist du noch da?“ Erst ein Häkchen, dann zwei, dann blau. Keine Antwort. Markus wurde wütend. Er schaltete das Handy aus und ging unruhig in seiner Wohnung hin und her. Aus seinem Verlangen wurde Zorn. Er hasste Robert. Er hasste ihn dafür, dass er damals weggegangen war. Er hasste seine Forschungsambitionen, sein Fernweh, sein Lachen.

Als er abends das Handy wieder einschaltete, war die Antwort da. „Ja, war schön. Bin noch bis Ende der Woche da. Komm doch Freitag vorbei. Ich koche was.“ Die Wut war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Seine Finger kribbelten, sein Gaumen kitzelte. Markus biss sich auf die Zunge, um dem ein Ende zu setzen, das er sich nicht erklären wollte. Er zwang sich dazu, nicht gleich zurückzuschreiben. Fünf Minuten später machte er es doch. Er käme gerne. Er freue sich. Er setzte sich an den kleinen Tisch auf seinem Balkon, rauchte eine Zigarette und begann sich vorzustellen, wie es ablaufen würde.

Der Hund kratzt an der Tür. Sie lässt ihn in den Garten, setzt sich gleich wieder an ihren Text. Die Push-Nachrichten auf ihrem Handy hat sie deaktiviert, später das Handy ganz abgeschaltet. Sie tut es endlich. Sie schreibt einen Text, sie hält eine Deadline ein. Sie weiß jetzt, dass sie es schaffen wird.

Die Tage vergingen zu langsam und viel zu schnell. Am Freitag machte Markus dann alles so, wie er es schon so viele Male in seinem Kopf durchgegangen war. Nach der Arbeit eine Runde laufen, duschen, das hellblaue Hemd mit Rundkragen. Ein Glas Wein für die Nerven. Er setzte sich in die Straßenbahn, lehnte den Kopf an die Scheibe und betrachtete die Menschen draußen. Bei Robert angekommen klingelte er, öffnete die Tür, als das Surren erklang, und stieg die Treppen hinauf. Mit jeder Stufe schlug sein Herz schneller.

Die Tür stand offen. Robert rief ihm aus der Küche zu, er solle es sich schon mal bequem machen. Das Essen – Kohlrabicremesuppe, Lasagne, Erdbeerkuchen – begleiteten Gespräche über Roberts Forschungsprojekte und Markus‘ Alltag als Lehrer. Markus bat Robert um ein bisschen Musik. Er schaltete das Radio ein. Sie gingen auf den Balkon eine rauchen, schauten auf die gegenüberliegende Hauswand, konnten das Gespräch zum ersten Mal nicht am Laufen halten. Markus ging ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er schaute sein Spiegelbild an und versuchte, ihm und sich Mut zu machen.

Als er aus dem Badezimmer trat, stand Robert vor ihm. Er hatte Markus Jacke in der Hand. Er wolle ihn nicht rausschmeißen, aber morgen müsse er früh raus. Der Rückflug nach Zürich, vorher das Apartment räumen. Markus nahm seine Jacke wie in Trance. Er zog seine Schuhe an, öffnete die Tür und stand schon auf dem Gang, als Robert ihn nochmal zurückzog. Einen kurzen Moment zögerten beide und schauten sich an. Dann drückten sie sich kurz. Schön war es gewesen, ihn wieder zu sehen, und er solle doch ab und zu etwas von sich hören lassen. Markus lief die Treppe hinunter und raus aus der Tür. Er drehte sich nicht um, blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer.

Sie klappt den Laptop zu, es ist geschafft. Für heute hatte sie sich die Deadline gesetzt. Entweder du schreibst diese Geschichte fertig, oder du vergräbst deinen Traum in einem tiefen Loch und holst ihn nie wieder hervor. Am Abend wird sie ihren Geburtstag feiern. Sie hat viele Menschen eingeladen, einige davon hat sie schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Als sie den Garten des Heurigen betritt, berührt sie die Szenerie. Bunte Lampions erhellen die gerade eintreffende Nacht.

 

Sonja Kittel

 

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