freiTEXT | Olivia Mettang
Urlaub vom Alten
Er öffnet seinen Geldbeutel. So öffnet er auch seinen Gürtel, kurz bevor es bei ihm und Frauchen zur Sache geht, denkt Marie. Ganz langsam, als ob gleich was von großer Bedeutung passiert.
„Gib mir hundert, nicht fünfzig“, sagt sie.
Ihr Vater zieht zwei Scheine hervor. Marie nimmt das Geld wortlos aus seiner Hand, da ist Widerstand zwischen seinen Fingern. Nicht mal hundert Öcken kann er springen lassen, alter weißer Geizkragen. Sie verschwindet durch den Flur in ihr Zimmer am Ende des Gangs. Natürlich, am Ende des Gangs. Das einzige Zimmer mit Teppichboden, wieder hat er an ihr gespart. Sie wirft sich aufs Bett und rollt die Scheine um die Zeigefinger. Hundert Euro. Shit. Was man damit alles machen kann. Neue Sneakers kaufen. Sich zum Mond schießen. Enten füttern, kleinen Kindern Schnaps besorgen. Sie dreht den Schlüssel zu ihrem Zimmer, greift unters Bett und zieht die Schachtel Lucky Strike hervor. Auf die hat sie jetzt Lust, extra strong, damit es kratzt in der Lunge. Sie zündet sich eine an und raucht, das Fenster lässt sie zu. Wenn sie nachher von ihrem cosy Wohnzimmer zurück in den Flur kommen, wird ihnen der kalte Rauch entgegenschlagen.
Später klopft ihr Vater an die Tür. Abendessen. Frauchen hat Spaghetti Bolognese gekocht. Kohlenhydrate mit Zucker und totem Tier. Wenn Frauchen so weitermacht, wird sie bald platzen. Hätte sich dann ja richtig gelohnt mit dem Fremdgehen und der Scheidung, denkt Marie.
„Marie, komm, es wird kalt“, sagt ihr Vater ruhig durch die Tür.
Sie bleibt stumm, reinkommen kann er eh nicht. Sie weiß, dass er vor der Tür steht und wartet, und da kann er stehen bleiben bis morgen früh, wenn er will. Sie öffnet ihm nicht, sie antwortet ihm nicht, sie braucht ihn nicht. Den fürsorglichen Vater kann er dann in drei Monaten für sein neues Kind spielen. Sie rollt sich auf den Rücken, im Zimmer ist fast kein Licht mehr, dieses Scheißzimmer, in dem nur ein Bett steht, ein Schrank und ein Schreibtisch. Natürlich, ein Schreibtisch. Damit sie auch brav ihre Hausaufgaben macht. Sie raucht noch eine Kippe bis zur Hälfte und drückt sie im Teppich aus.
In der Schule schlägt sie mit zwei Packungen Kippen auf. Sie erzählt es den anderen schon nach der ersten Stunde. Im Park hinter der Schule gibt es ein Versteck, das rechts zu den Zuggleisen abfällt, links von Büschen umgeben ist. Die Oberstufenschüler pissen hier manchmal hin, wenn es ihnen zu weit ist zurück ins Schulgebäude. Sie sitzen im Kreis auf ihren Jacken. Schon verdammt kalt für Juni. Marie hält das Gesicht in die warme Luft aus den Mündern der anderen. Gustav ist der schnellste, aber die Kippen sind abgezählt, acht für jeden. Josefine ist noch bei der ersten, sie erzählt von ihrem neuen Pferd, das sie am Nachmittag „einreiten“ will. Sie zeigt ein Foto auf ihrem Smartphone, das Pferd ist grau mit weisser Mähne. Leon hat einen Arm um Josefine gelegt, aber die merkt das gar nicht und quatscht immer weiter. Das neue Pferd braucht noch einen Namen, und sie selbst neue Reitschuhe. Kleine Bonze, denkt Marie, und wundert sich darüber, weil sie Josefine eigentlich mag.
„Nenn es doch Princess, das Pferd”, schlägt sie vor. Sie hofft, dass das nicht zynisch klingt.
Als die Schulglocke läutet, sind sie immer noch bei der ersten Packung Kippen.
„Lasst lieber zurückgehen“, sagt Hannah, süße brave Hannah mit dem Pferdeschwanz. Leon und Josefine wollen auch in den Unterricht, aber Gustav sagt, dass er bleibt. Sie raucht noch drei Kippen mit Gustav, dabei sagen sie fast nichts. Das ist angenehm. Über ihnen im Baum ist ein Vogelnest, vielleicht Meisen, jedenfalls fliegen Vogelmutter und Vogelvater unermüdlich in der Gegend herum um Futter zu sammeln. Einmal kommen sie sogar bis auf Augenhöhe um zu sehen, ob nicht ein paar Chips oder Pizzakrümel für sie abfallen. Gustav nimmt Maries Hand, und sie erschrickt, weil sie denkt, dass Gustav jetzt was starten will. Sie ist sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie nichts mit Gustav starten will. Aber Gustav hält nur ihre Hand, mit den Fingerkuppen auf ihren Knöcheln, und drückt seinen Daumen in ihre Handinnenfläche.
Sie geht alleine zur U-Bahn, ihr ist schwindelig und ziemlich übel, aber gut übel, leicht im Kopf und in den Beinen. Sie hat noch fünfundachtzig Euro. Vielleicht wird sie zu ihrer Mutter fahren. Sie muss sich setzen, muss sich an der Haltestelle hinsetzen, neben eine Frau mit einem Baby, das vom Teufel besessen ist, zumindest sieht es so aus. Es sieht sie aus fiesen blassen Augen an und wenn es könnte, würde es sie anspucken. Marie starrt hinunter auf das Baby, du kannst mir nichts, du kleiner böser Wicht. Sie hält seinem Blick stand, bis die Bahn einfährt. Sie fährt bis ins Zentrum, das dauert fast dreißig Minuten. Es ist sicher fünf Monate her, dass sie das letzte Mal alleine hier war, damals ist sie bis zwei Uhr morgens bei irgendwelchen Pennern auf der Parkbank gehockt. Die Penner haben sie schweigend akzeptiert, keiner wollte mit ihr reden, sie wollten in Ruhe ihre Bierdosen kippen und in das Laternenlicht glotzen.
Marie rechnet damit, dass ihre Mutter nicht zu Hause ist, irgendwo unterwegs, arbeiten oder beim Psychiater, und sie die Wohnung ein, zwei Stunden für sich hat. Sie holt sich den Ersatzschlüssel, der unsichtbar an einem Haken an der Innenseite der Kellertüre hängt. Die Wohnung riecht nach Rauch und Haarschaum, der ihrer Mutter immer durch die Finger flutscht und dann auf dem Fußboden festtrocknet. Marie ruft nicht Mama oder Jemand zuhause, natürlich nicht, sie geht direkt ins Schlafzimmer und sieht nach. Wenn sie da ist, ist sie hier, um sich die Augen aus dem Kopf zu heulen, das Häufchen Elend. Sie ist nicht da. Marie geht zurück ins Wohnzimmer, das gleichzeitig die Küche ist. Sie setzt sich auf das kleine Sofa, das ihre Mutter neu gekauft haben muss. Vielleicht wurde es ihr auch geschenkt, von einer ihrer Freundinnen, die jetzt pausenlos um sie herumwuseln. Jedenfalls ist es hässlich, genau wie der Rest der Einrichtung. Marie fragt sich, wie man für ein kleines hartes braunes Sofa überhaupt Geld ausgeben kann. Sie steht auf und geht zurück ins Schlafzimmer, nicht mal drei Schritte, die Wohnung ist wirklich winzig. Im Schrank oben links hat ihre Mutter eine Box mit Kleingeld und ein paar losen Scheinen, Marie greift hinein. Ihre Mutter wird überhaupt nicht merken, dass da ein paar Handvoll Geld fehlen. Sie lässt das Geld in ihre Jackentaschen fallen, müssten so um die zwanzig Euro sein. Für zwanzig Euro bekommt man jede Menge Schminke bei dm, oder eben zwei Packungen Kippen und einen Döner. Sie hat Hunger, und da im Kühlschrank nichts steht außer einem Bier und einer Tüte Milch verlässt sie die Wohnung früher als geplant. Kurz bevor sie die Tür zuzieht geht sie nochmal hinein, um ihrer Mutter die zweite Packung Luckys dazulassen.
Der Dönertyp ist richtig nett zu ihr. Schenkt ihr einen Ayran und versucht ein bisschen zu flirten, obwohl er locker zehn Jahre älter ist als sie. Marie lächelt zurück, sie weiß, dass sie älter aussieht als sie ist. Sie würde gerne noch ein bisschen in der Dönerbude sitzen bleiben und versucht langsam zu essen. Als sie fertig ist kauft sie noch einen Börek mit Spinat. „Hunger, ha?“, sagt der Dönertyp grinsend und packt den Börek in den Ofen. „Nimm noch mal Ayran, Kleine.“ Marie nimmt sich einen Ayran aus dem Kühlschrank, der hinten völlig vereist ist. Außer ihr ist niemand in der Dönerbude, aber es hätten auch nicht viel mehr Leute Platz gehabt. Marie wischt mit dem Ellenbogen ein Stück Tomate vom Bistrotisch. Draußen leuchtet der Asphalt in der Sonne, obwohl es schon fast acht Uhr ist. Zwei Männer kommen herein, sie begrüßen den Dönertyp mit Handschlag und unterhalten sich, vermutlich auf Türkisch. Schöne Sache, so eine Dönerbude zu haben, denkt Marie. Muss Spaß machen, den ganzen Tag mit Leuten zu quatschen, Ayran zu verschenken und ab und zu den Kühlschrank abzutauen. Sie guckt zu den Typen rüber, die jetzt in der offenen Tür stehen, jeder einen Yufka in der Hand, und mit dem Dönertyp Witze reißen. Wenn er lacht, sieht er jünger aus. Er öffnet den Ofen und schiebt ihr den Börek über die Theke ohne hinzusehen.
Als die Männer gegangen sind steht Marie auf.
„Alles gut?“, fragt der Dönertyp, „hat geschmeckt?“
„Ja“, sagt Marie.
„Weil ich ess nie Döner. Hab vergessen, wie schmeckt.“
Marie findet, dass seine Wimpern ziemlich lang sind für einen Mann.
„Ich weiß“, sagt sie, „Döner ist gar kein türkisches Essen.“
„Ja, genau. Kein türkisches Essen. Aber wir essen viel Fleisch. Viel Schaf, uh“, der Dönertyp sucht das Wort mit den Fingern, „so kleine Schaf.“
Sein Deutsch hört sich extra-nett an, weil er ein kleines bisschen lispelt.
„Seit wann bist du in Deutschland?“, fragt Marie, sie will mehr wissen.
„Vielleicht zwei Jahre. Bisschen länger. Hier ist besser, weil ich kann in Dönerbude arbeiten und mit schöne Frauen reden.“
Er zwinkert ihr zu.
„In der Türkei gibt’s doch auch schöne Frauen“, sagt Marie.
„Klar, klar. Aber ich komm gar nicht aus Türkei. Ich komm aus Zypern.“
„Ist das nicht griechisch“, sagt Marie, aber der Dönertyp wedelt mit der Hand.
„Neee, ist auch türkisch. In Nordteil ist türkisch. Gibt’s nix dort, nur Armee und kaputte Häuser und paar Hotels für Touristen.“
Marie öffnet ihren Browser und googelt Zypern. Türkisenes Wasser, hellbraune Steine.
„Ich war noch nie dort“, sagt Marie und der Dönertyp sagt, das macht nichts.
Marie bleibt in der Dönerbude. Der Dönertyp heißt Ali und wohnt mit seiner ganzen Familie in Stuttgart. Seine Eltern heißen Yusuf und Elif, seine Geschwister Olcay, Ahmet und Meryem. Ali redet von ihnen, als würde Marie sie längst alle kennen. Auf Zypern war er beim Militär, das war gar nicht sein Ding, weil sie bei fünfundvierzig Grad auf den Truppenübungsplatz Kniebeugen machen mussten. Irgendein Arschloch hat ihm außerdem in der Kaserne bei einem Streit eine Rippe gebrochen, die dann nie ganz verheilt ist. Jetzt kippt er beim Gehen ein bisschen nach links, er kommt hinter dem Tresen vor um es vorzuführen. Die Dönerbude gehört seinem Onkel, und so richtig sein Ding ist das auch nicht, Döner verkaufen. Lieber würde er beim Fernsehen arbeiten. Und er hat auch schon versucht zu wechseln, hat sich für eine Ausbildung zum Kameramann beworben.
„Aber gibt keine Arbeit, weil Leute denken ich bin Türke. Aber ich hab europäische Pass. Ich kann überall arbeiten, in ganze EU!“
Ali ist ein bisschen laut geworden. Marie versteht ihn. Sie hat das Bedürfnis, Ali auch was aus ihrem Leben zu erzählen. Sie wartet, dass er nachfragt, aber er fragt nicht.
„Mein Vater hat meine Mutter geschlagen“, sagt sie, und es fühlt sich ein bisschen falsch an, das zu sagen, vor allem, weil es nicht stimmt. Tatsächlich hat sie ziemlich lange nicht gewusst, was eigentlich Sache war. Es gab es einen Streit in der Küche, und danach wurde nicht mehr gesprochen. Dann stand irgendwann ein Möbelwagen vor dem Haus, als sie von der Schule zurückkam. Als er ging hat ihr Vater die Wohnungstür ganz leise geschlossen, und ihre Mutter hat ein paar Pillen eingeworfen und sich schlafen gelegt. Sie selbst ist feiern gegangen und hatte nach sieben Berentzen-Apfel Shots eine kleine Fummelei mit Nico aus der Zehnten.
Niemand hat niemanden geschlagen, sie reden ja nicht mal miteinander. Aber sie hat Lust die Geschichte so zu erzählen, darum tut sie es.
„Er hat sie geschlagen, bis sie nur noch auf dem Bett herumlag und nicht mehr aufstehen konnte“, sagt sie.
Ali sieht sie aufmerksam an, er zwinkert nicht einmal. Also setzt Marie noch einen drauf.
„Mich hat er auch geschlagen. Ins Gesicht.“ Das ist nicht ganz gelogen, es entspricht metaphorisch gesehen der Wahrheit.
Ali will wissen, was eine Ohrfeige ist, und Marie demonstriert es an sich selbst. Ali nickt voller Mitgefühl. Er sagt, dass Eltern, die ihre Kinder schlagen, keinen Respekt vor dem Leben haben. Marie stimmt ihm zu. Sie sagt: „Manchmal würde ich gerne abhauen, in ein anders Land, weißt du, so wie du das gemacht hast.“
Ihr Vater hat ihr am Nachmittag eine SMS geschrieben. Sie hat die SMS nur überflogen, aber es wird wohl darauf hinauslaufen, dass ihr Vater ihr diesen Monat kein Taschengeld geben wird. Alter Choleriker. Die Zahnbürste von Frauchen ist ihr aus Versehen ins Klo gefallen heute Morgen, der Zahnputzbecher stand so wacklig, dass er umfallen musste. Soll sie etwa ins Klo greifen und das Ding wieder rausholen? Ist ja nicht ihre Schuld, dass Frauchen ihren bescheuerten Becher nicht richtig hinstellen kann.
„Wie lange dauert es nach Zypern?“, will Marie wissen.
„Mit Flugzeug paar Stunden“, sagt Ali. „Mit dem Schiff dauert länger.“
„Kannst du mir ein Ticket kaufen?“, fragt Marie. Ali sieht sie an, als wäre sie verrückt.
„Ich hab auch keine Geld, Kleine. Denkst du in Dönerbude man wird reich, oder was?“
Er lacht. Marie zieht die zwei Scheine aus ihrer Hosentasche und legt sie auf den Tresen. Ein fünfziger und ein zwanziger. Dann greift sie in ihre Jackentaschen und holt das Kleingeld heraus. Sie hat sie noch nicht gezählt, aber es muss ziemlich viel sein.
„Ich hab Geld“, sagt Marie, während sie zwei Euro Münzen stapelt, „ich hab nur keine Kreditkarte.“
Ali schweigt kurz. „Warum willst du nach Zypern?“, fragt er dann und widerholt: „Gibt nix dort außer Armee und kaputte Häuser.“
„Ich will mal Urlaub machen“, sagt Marie, „Urlaub von meinem Alten.“
„Okay“, sagt Ali, „aber machst du Urlaub lieber woanders, oder? Italien? Spanien?“
Marie schüttelt den Kopf.
„Nee. Zypern ist gut. Auf Zypern kommt keiner.“
Sie öffnet wieder den Browser. Die günstigste Verbindung ist nächsten Dienstag um zehn Uhr morgens, vierundachtzig Euro, sechseinhalb Stunden Reisezeit. Sie schiebt Ali ihr Handy hin und hundertzwei Euro.
„Kannst du mir den buchen“, sagt sie. „Bitte.“
Ali zieht seine Kreditkarte aus dem Geldbeutel.
„Kannst du selber buchen“, sagt er, „aber mach schnell, bevor ich anders überlege.“
Marie tippt ihre Daten ein, zuletzt die Kreditkartennummer. Sie klickt Kaufen, ihr Magen hüpft. Wenige Sekunden später blinkt die Buchungsbestätigung in ihrem Emailpostfach auf. Als sie den Kopf hebt, hat Ali das Geld schon weggeräumt. Er steckt die Kreditkarte zurück in seinen Geldbeutel, holt zwei kleine Schnapsgläser aus einer Schublade und nimmt eine Flasche mit blauem Schraubverschluss aus dem Kühlschrank.
„Raki“, sagt er, „zum Feiern. Weil du Urlaub machst von deinem Alten.“
Marie trinkt ihren Raki, wie man ihn trinken muss, schnell und ohne nachzudenken. Kann sein, dass man die meisten Dinge im Leben so angehen sollte. Draußen ist es jetzt dunkel. Sie würde gerne länger in der Dönerbude sitzen bleiben, aber Ali möchte Schluss machen. Also nimmt sie ihre Jacke vom Stuhl und verabschiedet sich von ihm. Er nickt ihr zu. Sie hätte ihn gerne umarmt. Draußen hat es höchstens fünfzehn Grad. Verdammt kalt für Juni. Sie steckt ihre Hände tief in die Jackentasche und macht sich auf den Weg nach Hause.
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