freiTEXT | Nicolai Busch

Die unter Schutz Geflogenen

Wir sind gar nicht mehr da, aber auch noch nicht ganz tot. Nein, Moment, falsch, hier steht: Jemand habe bestätigt, wir seien nicht zu finden und daher mutmaßlich nicht mehr am Leben. Das ist ein Unterschied! Was? Nein, sagen Sie? Na, also hören Sie mal! Es ist doch etwas Anderes, ob man noch lebt oder von vornherein tot ist! Es ist doch nicht das Gleiche, wenn man flieht und dabei stirbt oder flieht und danach stirbt oder fliegt und mutmaßlich stirbt oder mutmaßlich lebt, wobei man ständig gesucht wird. Manche fliehen durchs Meer und sterben im Meer und werden weder gesucht noch gefunden im Meer und andere fliegen und sterben im Meer, aber eben nicht gleich, sondern erst, wenn wir sie wirklich nicht mehr finden im Meer. Ja, am Leben hängen wir natürlich alle, aber manche hängen vielleicht etwas mehr dran, an denen hängen wir vielleicht etwas mehr und in deren Suche hängen wir uns dann eben auch mehr rein. Also einen großen Fang der Gleichheit und Gerechtigkeit kann ich da jetzt eigentlich nicht erkennen, liebe Menschenfischer, die ihr entscheidet, wer herausgefischt wird und wer nicht. Und das obwohl sich im Tod doch sonst immer alle so einig sind. Aber der meeresgrundlegende Unterschied zwischen einem Toten und einem Toten liegt vielleicht einfach darin, dass man nach den Geflogenen sucht, während man die Geflohenen leider immer erst findet, wenn sie schon tot sind oder sie erst gar nicht finden will, weil man eben rein gar nichts an ihnen findet, nicht? Da sucht man ewig nach sich selbst und dann findet man doch immer nur den Andern, der dann aber meistens keinen Pass hat und sich nicht ausweisen kann und das obwohl er doch schon längst Vollwaise ist. Also für mich war das immer ganz verschieden zueinander, wenn auch recht ähnlich. Auf der einen Seite eben das Leben, das immer da ist, oder eben da, wo’s niemand bemerkt, auf der anderen Seite der Tod, der nur da ist, wenn wir es sagen oder, wenn wir ihn sehen wollen. Naja und dazwischen eben von Beidem ein bisschen, was wir Zeit nennen, solange wir sie haben. Manche haben gar keine und für andere vergeht sie eben wie im Flug, wenn man denn fliegt. Ganz anders im Boot, wo sie eben wie im Boot vergeht und plötzlich einfach stehen bleibt, während alle anderen sitzend sinken, ohne dass jemand den Sinkflug eingeleitet hätte, worüber man vielleicht mal in einem Sinktank, äh, ich meine in einem Thinktank, diskutieren könnte, damit sich nie irgendwas ändert. Ach, Sie denken gar nicht? Und geflogen sind Sie auch noch nie? Müssen Sie mal! Also beides, fliegen und denken. Aber am besten erst denken und dann fliegen. Oder erst fliegen und dann gar nicht mehr denken müssen. Probieren Sie’s mal! Letztlich ist es doch ein und dasselbe: Ganz viel Bewegung, die man macht, ohne sie selbst zu machen und Distanzen, die so klein werden, bis sie und Sie verschwinden. Ein echtes Ereignis, wenn auch keins stattfindet! Von A nach B und dazwischen: Nichts. Macht aber gar nichts, denn das vergeht schließlich auch. Erst ist man am Boden und dann hebt man ab und dann ist man manchmal am Boden zerstört. Oder im Meer. Ja, wer A sagt, muss auch B sagen. Hereinspaziert, angeschnallt und los geht’s! Jeder Zug gewinnt, aber eben nicht jeder Flieger und erst recht kein Boot. Ich wähle ein A und möchte lösen: Anemone. Und der drei Jahre gesuchte chinesische Herr in der Business Class mit dem Weinglas in der Hand wählt danach ein B und löst sich auf: Buckelwal. Herzlichen Glückwunsch zum Trostpreis von zweihundert neununddreißig Komma null, null und ein paar Zerquetschten inklusive der größten Rettungsaktion in der Geschichte der Luftfahrt. Sie können sich den Preis irgendwo westlich von Australien abholen. Tatsächlich waren erst im April zweitausendfünfzehn vor Italien ganze achthundert im Jackpot und obwohl wir wissen, wo Italien liegt und wer da vor Italien liegt, hat die erstmal keiner geknackt. Also den Rekord hat erst einmal keiner geknackt, nicht mal versucht hat das am Anfang jemand, nicht mal gesucht hat die am Anfang jemand, aber gezahlt haben die trotzdem, ohne was zu gewinnen. Ganz nach dem Sprichwort: Kein Glück im Spiel und auch keins im Ableben und auch keins danach. Das ist schade, aber entschädigt wird eben nur, wenn man fliegt und dabei stirbt. Naja und jetzt fliegen halt andere drauf, anstatt beim Kentern drauf zu gehen. Und wer drauf fliegt, der kann sich immerhin geborgen fühlen, auch wenn er es vielleicht nie wird. Also von gleicher Liebe und Trauer für alle kann hier eigentlich keine Rede sein. Wenn jemand ersäuft, hat das ja überhaupt in den wenigsten Fällen mit Liebe zu tun und wie die Titanic sah dieses Schlepperboot vor Italien, wenn Sie mich fragen, nun eigentlich auch nicht aus, die Boeing dagegen schon eher. Und ich spreche hier nicht von der Zeitschrift, sondern von dem Film, wobei es mit der Ironie der Massenschicksale natürlich auch nicht allzu weit her ist. Zu welcher Masse Sie, werter Leser, jetzt genau gehören, lässt sich nur herausfinden, indem sie ertrinken und spätestens da hört die Satire dann eben auch schon wieder auf, nicht? Also bei aller Liebe, aber lustig kann man das nicht finden, wenn zwei oder achthundert sich weder suchen noch finden. Liebe Anna, ich schreibe diesen Brief, denn ich fühle mich seit langer Zeit schon nicht mehr gefunden und erst recht nicht geborgen bei Dir. Wie kommt es, dass sich unsere Frequenz ständig verschiebt? Ich frage mich, ob nicht ein Flug daran etwas ändern könnte. Unsere Liebe soll ein Großraumjet ohne Sauerstoffmangel und unsere Sehnsucht nacheinander wie ein Tauchroboter sein. Bitte unterschreibe hier für eine gemeinsame Zukunft in trockenen Tüchern oder hier, damit alles ins Wasser fällt. In Liebe, fest glaubend an unsere Allianz und hoffentlich bis zur Landung, dein Reiseversicherungsberater. Naja, bei irgendwem muss man ja mal landen und wer ein Leben lang sucht, wird wahrscheinlich keins finden in Peking und noch weniger im Mittelmeer. Aber suchen kann man ja mal, solang es sich rentiert. Nach Gründen und Antworten suchen können Sie ja mal, weshalb eine stabile Aktie minus zweihundert neununddreißig Toten plus tausendsiebenundvierzig Tage gleich fünfundsechzig Millionen ergibt und eine humanitäre Katastrophe minus achthundert gleich null Komma null. Für wen sich das am Ende rechnet, können Ihnen die Subtrahierten und deren Bootsgesellschaft jetzt leider nicht mehr sagen, da müssen Sie schon die Fluggesellschaft oder die gegründete Interessengesellschaft fragen, deren Interessen eben mehr interessieren als die der Afrikaner. Die müssten das auf dem Schirm haben, auch wenn der Flieger vom Radar schon längst verschwunden ist. Die müssten das unter dem Finanzschirm haben, der die Hinterbliebenen beschirmt und die Airline abschirmt, bevor man sie verstaatlicht. Wenn Sie heute noch anrufen, lieber Leser, erfahren Sie, ob auch Ihnen eins dieser Geldschirmchen zusteht. Profitieren Sie jetzt von unserer großen Crowdfunding-Aktion! Ob auch Ihre Crowd gefunded wird, erfahren Sie nach der Auszählung und Auserwählung der Auserwählten durch die Ungerechten in den Gerichten. Naja, manchmal greift die Police eben und manchmal kommt sie erst gar nicht. In Italien ist sie jedenfalls gar nicht erst gekommen. In Italien hätte man ein ungeahntes Comeback von achthundert Toten sicher nicht mit Musik gefeiert. Da können noch so viele ertrinken, einen Klassiker werden die nie landen. Dafür fehlt denen nämlich die Landeerlaubnis und erst recht die Bordkarten, die ja überhaupt immer als erstes über Bord gehen. Und was über Bord, also über die Reling, das ist weg, aus, vorbei, verschwunden, ganz sicher, aber eben längst nicht in Sicherheit. Wobei in Frankreich mal einer gesagt hat, dass überhaupt nichts wirklich verschwindet, auch wenn es schon längst nicht mehr da ist. Alles, was fort ist, infiltriert unser Leben in kleinen Dosen, die Sie übrigens heute noch sehen können, wenn Sie der Dosenfutterspur von Lampedusa nach Lybien folgen. Oh, danke für den Tipp, aber das ist mir dann, glaube ich, doch zu weit. Verzeihen Sie, aber ich kann hier im Westen das Böse nirgendwo entdecken, obwohl es doch irgendwo sein muss. Wo so viele gute Menschen sind, die sich miteinander gut fühlen und gemeinsam regelmäßig abheben, muss doch irgendwo das Böse sein. Könnten Sie mir vielleicht sagen, für wann das Sterben im Westen heute angesetzt ist? Ach, Sie sagen, das findet hier gar nicht mehr statt? Und wenn überhaupt, dann nur noch als Folge technischen oder menschlichen Versagens, das dann aber durch viel Geld kompensiert werden kann? Hör mal, Schatz, der Mann sagt, wir müssen den nächsten Terroranschlag abwarten oder in den Kongo oder nach Syrien, wenn wir das Böse erleben wollen. Schaust du mal bitte schnell, ob es noch Flüge gibt? Achtung, Achtung, meine lieben Damen und Herren, hier spricht jetzt ausnahmsweise Ihr Autor. Ich freue mich, dass Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben und begrüße Sie recht herzlich im Text. Unter uns sehen Sie die endlosen Weiten des Kapitals, zu dem Sie hoffentlich selbst gehören. Wenn Sie jetzt mal ganz nach rechts schauen, sehen Sie das kleine Steuerparadies und dicht daneben, direkt unter den brennenden Turbinen, quasi außerhalb der Erzählung, ein gelbes Schlauchboot mit Tauchfunktion, von dem aus ich in diesem Moment, unter uneingeschränkter psychischer Gesundheit zu Ihnen spreche. Fakt ist, dass sich unter der Ladung unserer Maschine Lithiumbatterien befanden, die in den Frachtpapieren als entzündlich gekennzeichnet waren, was sich soeben bestätigt hat. Die Stimmung im Text ist aufgrund der Batterien derzeit etwas aufgeladen und da kann es eben leicht passieren, dass ich als Schreiber, wenn auch nicht als Flugschreiber, explodiere. Wenn Sie also bisher geglaubt haben, der Autor sei nicht zu belasten, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass es mir nach wie vor schwerfällt, ein Katastrophenszenario vorzustellen, das garkeinen Faktor menschlicher Intervention beinhaltet. Lieber Leser, gestatten, dieser Faktor bin ich und bin ich eben doch nicht. Wer oder was auch immer dieses Ich ist, mir ist es jedenfalls nicht bekannt. Sollte Ihnen durch diesen Text ganz bewusst etwas zustoßen, können Sie dagegen rechtlich leider gar nichts unternehmen. Ein Unternehmen, also zum Beispiel eine Fluggesellschaft, das juristische Dienstleistungen anbietet, wird sich Ihnen aber wohl trotzdem anbieten, solange Sie es zahlen können. Manchmal liest man etwas und stößt sich daran und trägt eine Beule davon. Die Lösung wäre also, entweder den Kopf einzuziehen oder sich an die Schmerzen zu gewöhnen. Wir sitzen nun einmal alle im selben Boot, wobei manche von Ihnen natürlich im Flieger sitzen und deshalb mehr Recht auf ein Grab abseits des Meeres haben als andere. Den Grund hierfür versucht dieser Text in diesen Momenten unter Hochdruck zu finden, wenn auch ohne Erfolg. Dabei kann es passieren, dass der Druck zwischen den Worten so groß wird, dass der Zweifel Funken sprüht und wir notfalls auf die Schlauchboote umsteigen müssen. Also von einem Druckabfall an Bord kann hier wirklich keine Rede sein. Überhaupt ist so ein Zweifel wie eine Tragfläche, die es ganz plötzlich mehr oder weniger dramatisch zerreißt, während man sich eigentlich noch getragen fühlt. Und trotzdem reisen und fliegen die meisten, anstatt im Wasser zu gründeln. Trotzdem fliegen die meisten und stecken den Kopf in die Luft, wo sie am dünnsten ist, nur damit man wo war, während man war und damit man mal da war ohne zu sein. Weil in Kuala Lumpur waren die Damen und Herren ja noch da, obwohl die in Peking später nicht mehr da waren. Also wenn Sie das Auftauchen eines Körpers in einem Video einer Kamera als Dasein definieren, das Aufblähen desselben im Wasser dagegen als sein Ende, waren die Gäste in Malaysia noch deutlich da, sind dann aber nach dem Auftauchen (weiß Neptun wo) vollständig abgetaucht. Alle zuletzt empfangenen Satellitensignale deuten auf einen steilen, ausgelassenen, aber kontrollierten Absturz der Fluggäste bis in die frühen Morgenstunden. Werter Leser, hier noch ein Tipp: Entschlüsseln Sie weiter eifrig die Signale, aber suchen Sie vorher nach den richtigen. Es ist in der Vergangenheit immer wieder zur Verdrehung von Fakten und Messwerten gekommen, auch im moralischen Bereich. Einfach wird es nicht werden, aber Sie können es ja mal ausprobieren. Entschuldigen Sie bitte, ich habe viel Geld für diesen Tauchkurs bezahlt und jetzt ist das Wasser ganz trüb. Wir sehen ja gar nichts, obwohl es doch hieß, die Sicht sei eindeutig. Wie soll man denn so etwas finden, wenn man nichts sieht? Was soll man denn suchen, wenn eh alles gleich ist? Wie soll man denn auffallen, wenn einem nie etwas auffällt? Naja, versuchen Sie’s halt wenigstens mal! Aber suchen Sie nicht zu lange. Ein ganzes Leben, das wäre nun wirklich zu lang. Davon haben wir hier sowieso schon viel zu viele. Aber drei Jahre, die geben wir Ihnen, wenn Sie denn fliegen statt fliehen, bevor wir Sie aufgeben.

Nicolai Busch

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