freiTEXT Spezial | Miljan Milanović

Produžetak vrste // The Continuation of Species (Auszug)

Ein exklusiver Text von Miljan Milanović in der Übersetzung von Anne-Kathrin Godec.

Diesen und drei weitere Texte findet ihr exklusiv zum Download:

>> Miljan Milanović - The Continuation of Species <<

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Plüschigel pieken nicht

Mein Bruder

Er starb an einem Tisch an acht Dosen Redbull & Wodka, umgeben von hartgesottenen Amateuren des Bürgervereins für den Erhalt von Sprachen, Traditionen und altem Handwerk. Sein Herz blieb bei einer mitternächtlichen Poker-Partie stehen. Eine detaillierte Beschreibung dazu findet sich im ärztlichen Autopsiebericht. Die trostlose Beschreibung dieses plötzlichen Todes. Mutter spürte die Stärke der Explosion im Herzen meines Bruders, als habe ihr jemand mit einem Vorschlaghammer auf die Knie geschlagen. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel über den Holzschaukelstuhl, in dem Oma und ihre Mutter vom Alter verrunzelt gestorben waren. Den Stuhl hatten wir von einem Zimmer ins andere getragen, ohne wirklich zu wissen, wo er einen dauerhaften Platz finden könnte. Immer störte er irgendwen oder stand irgendwo im Weg. Nur mein Bruder hatte immer zufrieden darin herumgeschaukelt, mit vollem Magen, etwa nach einer reichhaltigen Portion Broccoli und rotem Fleisch zum Sonntagsessen. Mutter hörte die synthetisierte Sprachnachricht ab, die von einem entspannenden buddhistischen Gong und einem Rauschen begleitet war. Schlechte Nachrichten werden heutzutage zusammen mit so einem Mist überbracht, der Stress vermindert, wenn man der Psychoakustik Glauben schenken möchte.

Sie werden nie wieder gehen können (Gong, der lange nachklingt).

Ihr Ehemann betrügt Sie (Gurgeln und zwei kurze Anschläge der Klangschalen).

Sie existieren gar nicht (Donnernder Wasserfall).

Vera

Tagelang kam sie nicht aus dem Bett. Sie hoffte darauf, im Schlaf ihrem Sohn zu begegnen. Dessen Körper befand sich in einem großen Kühlschrank. Das Familiengrab war überfüllt. In einer automatischen Nachricht hatte eine eintönige männliche Stimme eine mögliche Graberweiterung angeboten. Die von der Situation betroffenen Eltern wägten die möglichen Optionen ab. Firmen besaßen Grabmäler, Krypten oder Türme. Ihre sterblichen Reste wurden in der Erde bestattet, mumifiziert oder verbrannt und die Asche später vom Flugzeug aus verstreut, in den Kosmos geschickt, in einen Diamanten verwandelt oder mit Farben vermischt und zu einem Portrait verarbeitet.

„Ich will nur noch einmal eine Möglichkeit haben, mit meinem Sohn zu sprechen.“

Vera trat mit geschwollenen Augensäcken, in verknittertem Nachthemd und einem leeren Glas in der Hand ins Zimmer. Ihre Worte unterbrachen die Anspannung, die von einem irritierenden Angriffsgeräusch der Armlehnen des Schaukelstuhls dominiert wurde. Ein beharrliches Flmmchen nach dem Schweigen.

„Ich habe eine Firma gefunden, die Begräbnisse auf einer neuen Art von Friedhof anbietet, den sie Taiga nennen. Außerdem bieten sie zusätzliche Möglichkeiten an, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Ich habe für morgen um neun einen Termin abgemacht.“

ETERNIME (Because We Care Group)

In die gläserne Kugel traten wir durch einen Wasservorhang, der sich vor uns auftat. Über der Tür strahlte eine Aufschrift DER TOD IST NICHT DAS ENDE. Die Halle war vom Duft eines Sommerregens erfüllt, geräuschvoll abgestimmt mit Orgelklängen und einem Schwarm winziger verschiedenfarbiger Lichter, die chaotisch an der Decke herumschwirrten. Meine Sandalen quietschten auf dem Marmorboden. Ein Schmetterlingshologramm schwebte nur eine Handbreit vor uns, entschwand aber immer wieder geschickt, wann immer ich versuchte, einen zu erwischen, und leitete uns so durch einen gepflegten Garten mit einem Bonsai und einem Felsen, der als Gebirgsspitze geformt war, bis hin zum Berater Nummer zweiundfünfzig.

„Wie Sie der Reklamebroschüre entnehmen konnten, bieten wir unterschiedliche Ewigkeitshäuser für Ihre Liebsten an. Wir bestatten ihren Verstorbenen in einer biologisch abbaubaren Kapsel und pflanzen darüber einen Baum, der von den Zersetzungsprodukten des Verblichenen genährt wird. Wir haben ein reichhaltiges Angebot an Baumsetzlingen. Und alle unsere Grabstätten erinnern an Gedenkwälder. Vor jedem Baum befindet sich ein Stein, auf den ein Hologramm mit allen biografischen Daten des Verstorbenen projiziert wird. Das ist das Basispaket, das wir im Angebot haben.“

„Ich habe gesehen, dass sie noch ein besonderes Angebot in Hinblick auf das Gedenken haben.“

„Ja, dabei handelt es sich um eine Neuheit, die wir im letzten Quartal ins Programm aufgenommen haben. Wir bieten Kommunikation mit dem Verstorbenen an.“

Vera zitterte und schluckte ihre Spucke.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht um einen Chatbot, der in Bezug auf nonverbale und verbale Kommunikation alle Charakteristiken des Verstorbenen besitzt, dieselbe Stimmfarbe hat, Mimik, Handbewegungen und gern benutzte Phrasen einsetzt. Sie werden fast vollkommen überzeugt davon sein, dass Sie mit Ihrem lieben Verstorbenen sprechen.“

„Ist das wirklich möglich?“

„Vera, warte mal, da müssen wir gut drüber nachdenken. Ich bin eigentlich nicht für solche Spielchen mit Technik und künstlichen Sachen.“

„Stojan, ich glaube nicht, dass ich das alles aushalten kann. Nimm mir doch nicht die Möglichkeit, noch einmal mit ihm zu sprechen.“

„Ich stimme meiner Mutter zu.“

„Wenn Sie einverstanden sind, bräuchten wir alle verfügbaren Video- und Audioaufzeichnungen. Was die Aktivitäten in den sozialen Netzwerken des Verblichenen angeht, darum kümmern wir uns. Sie bekommen die Initialversion des Chatbot, mit dem Sie eine Weile kommunizieren müssten. Je häufiger Sie dies tun, desto überzeugender wird Ihr Gesprächspartner am Ende sein. Danach kann man den Chatbot ausschließlich im Gedenkwald benutzen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass dies die einzig vertretbare Nutzungsoption ist, die den Trauerprozess nicht verlängert.“

„Na gut, aber es soll doch jeder trauern und verarbeiten, wie er möchte. Ich unterstütze Sie. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich es benutzen werde.“

Mein Vater verschränkte die Finger ineinander, dehnte sie und ließ die Fingerknochen knacken.

Begräbnis

Die Beerdigung fand im Kreis der Familie statt. Vor dem Friedhof schrie eine kleine Gruppe Demonstranten und religiöser Fanatiker, während über ihren Köpfen Transparente gegen die Entweihung von Traditionen flatterten. Um den Ort herum, an dem wir den Leichnam niederlegten, wuchsen über dem Stein Pflanzensetzlinge von der Größe eines menschlichen Schädels. Am anderen Ende des Friedhofs hatte der Wald schon begonnen, sich zu formieren. Ich spazierte ein wenig umher.

„Du musst ihn anfassen“, sagte mir der dünne, gebückte alte Mann in weißem Anorak, der den Rasen pflegte und die Steine von Vogeldreck und schmutzigem Regen reinigte.

„Bitte?“

„Ich sage, du musst den Stein anfassen, damit er sich aktiviert.“

„Aha, danke.“

„Der Platz hier ist leer. Du siehst doch, dass hier keine Bäume mehr sind. Versuche es dahinten. Der da hat einen halben Liter Schwefelsäure getrunken und seinen Freund kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag zu einer Partie Tennis eingeladen, aber das wirst du in den Bildern nicht sehen. Die tun nur schöne Sachen rein.“

Eine Hologramm-Projektion der Biografie und Gedenksequenzen eines Selbstmörders. Sympathisch. Weiter nichts.

„Versuch’s mal dahinten. Mit der kannst du sogar sprechen.“

Ich berührte den Stein und vor mir erschien ein hübsches, rothaariges Mädchen meines Alters, das mich fragend ansah. Ich erschrak, drehte mich um und ging. Der Alte lachte mir hinterher.

Chatbot

Unsere erste Sitzung hatten wir im Büro des Beraters Nummer Sieben.

„In Ordnung, zuerst versuchen wir einmal, das Gespräch ohne die Stimme des Verstorbenen in Gang zu bringen. Wegen des Schocks. Bitte schön. Sagen Sie etwas.“

„Roman, bist du da?“

Es entstand ein Moment des Schweigens, endlos lang wie der Schmerz.

„Ich streife umher“, sagte die Stimme eines Jungen.

„Das ist nicht seine Stimme“, schrie Vera auf und zeigte auf den Berater.

„Entschuldigen. Mein Fehler. Das passiert manchmal.“

Stojan schnaufte durch die Nase.

„Versuchen Sie es jetzt nochmal, bitte. Entschuldigen Sie nochmals.“

„Ich hänge hier den ganzen Tag herum. Ich hoffe, Ihr macht nichts Interessantes ohne mich“, war die Stimme meines älteren Bruders zu hören.

Vera schluchzte auf. Stojan stürmte mit hochrotem Gesicht und die Hände über den Mund geschlagen aus dem Büro.

Roman 1

Vera versuchte, das Hologramm zu umarmen. Um ein Haar hätte sie alles zunichte gemacht. Ich hatte ja versprochen, intensiv mit ihm zu kommunizieren.

„Roman, das ist dein digitales Gedenkmonument.“

„Wofür soll das gut sein?“

„Du fehlst uns. Dafür ist es gut. Ich habe dich zuletzt gesehen, als du mal kurz zu Hause vorbeigeschaut hast.“

„So sieht wohl Liebe aus. Mir fehlen unsere gemeinsamen Mittagessen und das Kaffeetrinken auch.“

„Aber, Roman, ich trinke doch gar keinen Kaffee.“

„Erzähl mir mehr darüber.“

„Dämlicher Chatbot!“, fuhr ich ihn an und warf mich aufs Bett. Romans Hologramm lachte blöde und tänzelte auf der Stelle.

Roman 2

„Roma, komm zurück.“

„Keine Sorge, alles ist in Ordnung. Ich bin hier.“

„Das Leben ist nicht fair.“

„So ist das Leben eben.“

„Du warst eine wichtige Person in meinem Leben, Roma. Ich will, dass wir über alles reden, was dir wichtig war.“

„Dann sorge dafür, dass uns keiner stört.“

„Die Menschen sind so blöde, Roma.“

„Die Menschen haben Angst vor dem Tod.“

„Weisst du, was mit dir passiert ist?“

„In den letzten drei Jahren habe ich einiges darüber erfahren.“

„Schön für dich. Zeichnest du da, wo du bist?“

„Manchmal. Aber meistens hänge ich den ganzen Tag herum.“

„Komisch.“

„Was ist komisch?“

„Na, unsere Unterhaltung.“

„Ich muss in der Nähe von Menschen sein. Erzähl mir noch was.“

„Ich habe dir nie gesagt, dass ich dich liebe. Ich habe dir nie zugegeben, dass ich den Reifen wegen dieses Trikots durchstochen hatte. Ich habe dir nie gesagt, dass ich Mutter das mit dem Haschisch gesteckt hatte.“

„Was noch? Interessant.“

„Ich habe dir mal in den Kaffee gespuckt.“

„Wo bin ich?“

„Du bist tot, Roma.“

„Ist es möglich, dass ich träume?“

„Weiß ich nicht. Ich hätte gerne, dass du mir das, was du träumst, aufmalst.“

Roman 3

Vera und Stojan erhielten nach einigen Tagen die Gelegenheit, sich mit ihrem verstorbenen Sohn zu unterhalten. Stojan fluchte und schimpfte darüber, dass wir ihn dazu gebracht hatten, sich darauf einzulassen. Als sie ins Zimmer kamen, stand Roman neben dem Schaukelstuhl.

„Mein Sohn!“, jaulte Vera auf.

„Sieht wirklich echt aus“, kommentierte Stojan.

Den ganzen Nachmittag plauderten sie mit dem Hologramm.

Vera bot ihm Suppe an. Stojan erzählte von seiner wilden Kindheit. Ich machte mir wirklich Sorgen. Am Schluss brachte ich sie dazu, mir zu bestätigen, dass die Sache mit dem Geist gut funktionierte. Stojan klopfte mir auf die Schulter und seine Augen füllten sich mit Tränen. Vera weinte die ganze Zeit.

„Du warst ausgezeichnet, Roma.“

„Ihr fehlt mir.“

„Halt endlich die Klappe. Das hast du schon millionenfach gesagt. Zeig mal Interesse. Frag sie beim nächsten Mal, wie es ihnen geht.“

„Wie geht es dir? Läufst du den Mädchen hinterher? Was ist mit diesem jähzornigen Moppelchen?“

„Dämlicher Chatbot. Ich schalte dich ab. Ciao.“

„Menschen werden bald ewig leben.“

„Von was für einer Ewigkeit redest du, du zeichnest nicht mehr, Roma, lass mich mit dem Quatsch in Ruhe.“

All Tomorrow’s Parties

Es verging ein halbes Jahr, bis ich Romans Fehlen wirklich bemerkte. An den Wochenenden trank ich ihm zu Ehren Dirty Steve. Ich tröstete seine Ex-Freundinnen und erzählte Lügen über das Hologramm, das sie bald vögeln können würden. Eines nachts im Oktober sprang ich über den Zaun des Gedenkwaldes. Ich wünschte mir, mit ihm sprechen zu können. Vor der Steinwand war ein Murmeln zu hören. In dem Augenblick, in dem ich mich von der anderen Seite hinüberschwang, flackerte unter jedem Baum das Hologramm des jeweiligen Verstorbenen. Die leuchtenden Geister beobachteten mich neugierig. In der Mitte der linken Seite stand Roman und winkte mir.

„Wo bist du, Bruder?“

Er reichte mir die Hand und meine Hand wurde von einem Lichtbündel erhellt.

„Was ist hier los?“

„Das bin ich. Dein älterer Bruder. Du hast den Stein berührt.“

„Hab ich nicht. Alles hat schon von alleine geleuchtet.“

„Das Leben ist schön. Voller Licht.“

„Red keinen Mist. Du weißt gar nichts mehr vom Leben.“

„Es ist sicher schwer.“

„Ich hasse dich.“

Ich fuchtelte mit der Faust und fuhr ihm durch den Kopf. Der junge Magnolienbaum bog sich unter dem Gewicht meines Körpers. Ich lag auf der Erde, riss mit dem Mund Halme aus dem gestutzten Kunstrasen aus, bis der Alte im weißen Anorak mir aufhalf.

Stacheln

Ich war mittlerweile Besitzer einer Igelfarm, die ich erfolgreich züchtete und vermehrte, und damit verdiente ich gut. Kinder kauften sie als Haustiere. Ältere Leute kauften sie aus therapeutischen Gründen. Es war eine neue Sorte. Sie piekten nicht. Waren weich wie Getreide.

Vera warf mir vor, dass ich nicht mehr zum Friedhof ging. Ich log und behauptete, ich hätte zuviel zu tun.

„Roman fragt immer nach dir.“

„Sag ihm, ich komme nächstes Mal mit.“

Ich fütterte zwei Jungtiere mit einer Pipette. Der 3D-Drucker im Büro spielte plötzlich verrückt. Druckte einfach von selbst. Ich versuchte, ihn aufzuhalten. Er reagierte nicht mehr auf Befehle. Schließlich kam ein Hardcover-Comic heraus, das aussah, wie die Comics meiner Kindheit. Ich erkannte Romans Stil, hatte aber bisher seine Zeichnungen nie zu Gesicht bekommen.

Zwei Jungs, die am Fluss das Eis brechen.

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Miljan Milanović

Aus dem Serbischen von Anne-Kathrin Godec.

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Die Übersetzung dieses Textes wurde gefördert vom Creative Europe Programme der Europäischen Union.

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