freiTEXT | Luise Barth
Happy Birthday
Am Tag nach meinem 22. Geburtstag wache ich mit Kopfschmerzen auf. Mühsam hieve ich mich aus dem Bett und besehe mir das Chaos in dem Raum, der von mir als Wohn-, Arbeits- und Abstellraum genutzt wird. Die leeren Flaschen und Chipsreste sind noch zu verkraften, ebenso wie die schlappen Luftballons und Luftschlangen. Aber ist das etwa ein Brandfleck auf meinem Sofapolster? Entnervt fahre ich mir übers Gesicht. Ich hatte doch extra darum gebeten, nicht in der Bude zu rauchen. Warum hatte ich das nicht mitbekommen? War ich echt so dicht gewesen? Ich werfe eine Aspirin in ein Glas Wasser und schaue ihr beim Sprudeln zu. Dann trinke ich dieses medizinische Gift, schmeiße mich aufs Sofa und warte darauf, dass der kleine Mann in meinem Kopf aufhört, mit dem Hammer gegen meine Schädeldecke zu klopfen. Währenddessen checke ich mein Handy. Die WhatsApp-Gruppe ist voll mit Videos und Bildern von gestern Abend. Ich, mit einer Partykrone, über den Kuchen gebeugt, während alles um mich herum brüllt: „I don’t know about you, but i'm feeling 22.“ Ich sehe nicht sehr fröhlich aus, finde ich, und das liegt nicht daran, dass ich eigentlich gar nicht so ein riesiger Taylor-Swift-Fan bin. Ich denke nicht, dass es den anderen aufgefallen ist, aber meine Augen glänzen verdächtig. Wenn es ihnen doch aufgefallen ist, halten sie es bestimmt für Freudentränen wegen der coolen Party, die sie für mich organisiert haben. Und ich habe mich natürlich auch gefreut, als es an meiner Tür klingelte und statt des erwarteten „Lieferando, eine Lieferung für sie“ plötzlich „Üüüüüüberraschung“ durch die Sprechanlage gebrüllt wurde. Eigentlich hatte ich mir den Abend mit einer Pizza, einem schönen Geburtstagsanruf von meinen Eltern und meiner besten Freundin und einem schnulzigen Liebesfilm à la Pretty Woman oder Dirty Dancing vorgestellt. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Geburtstage. Im Gegenteil, ich liebe sie, vor allem als ich noch zu Hause wohnte, mein Papa das Haus mit Luftballons und Girlanden schmückte, meine Mama einen mehr oder weniger schönen Schmetterling aus Biskuitböden und Obst backte und ich vor Aufregung kaum schlafen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich den batteriebetriebenen Hund oder das Einhorn mit den pinken Flügeln geschenkt bekomme. Als ich gestern früh aufwachte, hasste ich plötzlich mein 22 Jahre altes Gesicht im Spiegel. Nicht wegen der Zahl und auch nicht wegen meines Aussehens, sondern eher wegen des Gedankens, dass die 25 nicht mehr weit war, und dann die 30 und dann die 40 und dann… Naja, ich glaube, man versteht es. Dabei habe ich gar keine Angst vor dem Altern. Der Gedanke, irgendwann weißhaarig mit meinen Freundinnen am Tisch zu sitzen und dabei Tee mit Törtchen zu verzehren, gefällt mir. Was mich stört, ist, dass ich die 22 Jahre scheinbar nicht gut genug genutzt habe. Das vermittelt mir zumindest mein Handy. Ich habe Europa noch nie verlassen, keine abenteuerliche Backpacking-Tour gemacht oder ein Semester lang Cornetto und Cappuccino in Italien gefrühstückt. Ich hatte auch keinen „Hot-Girl-Summer“ oder -Winter oder generell irgendwas Hottes. Und jetzt, jetzt erscheint es mir aus irgendeinem, komplett sinnfreien Grund zu spät, noch irgendwas daran zu ändern, weil ich ja mit 40 Jahren wahrscheinlich eher keine Backpacking-Tour durch Asien mache und mir nur noch ein Jahr für ein Auslandssemester bleibt. Meine Oma würde jetzt sagen: „Eure Generation hat wirklich große Sorgen.“ Dabei würde sie lachen, weil sie und ihre Freunde damals in Trümmerhaufen spielen mussten und es zu Weihnachten eine Orange gab. Ja, meine Generation hat viele Möglichkeiten, aber vielleicht zu viele. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Persönlichkeiten: Clean Girl, Boss Bitch, Moongirl, Sungirl, Slut, und mit achtzehn haben manche schon das erste Startup, den Modelvertrag oder die Million. Alle sind natürlich mega schlau, schlank und super sexy. Ja, kein Wunder, dass ich mich mit meinen 22 Jahren und meinem mittelmäßigen Bachelorstudium komplett unfähig fühle. Und während ich schwitzend meine Zeit in der Bibliothek verbracht habe, zeigt ein schlaues, schlankes und super sexy Girl auf meiner For You, wie sie „den Flug einfach gebucht hat“. Schließlich sollte man nicht immer nur überlegen, sondern einfach mal MACHEN. Aber davor: „Rennt zu DM.“ Und ich mache das auch, ich renne zu DM und kaufe diesen blöden Lippenstift, weil ich ihn mir leisten kann, das Flugticket für die viermonatige Workation aber nicht. Ich seufze, weil ich merke, dass meine Unterlippe wieder zu zittern beginnt. Prophylaktisch greife ich nach der Packung mit Taschentüchern auf dem Sofatisch, als eine neue Nachricht auf dem Bildschirm aufploppt. Sie ist von meiner Mama. Ein Bild von mir, vier Jahre alt, mit Zahnlücke und Geburtstagskrone. Sie schreibt: Papa und ich haben gerade die alten Fotoalben von dir angeschaut. „Wir sind so stolz auf dich, meine Große.“ Ich stehe auf, gehe zum Kühlschrank und hole mir ein restliches Stück Geburtstagstorte, schließe die Augen und stelle mir vor, sie wäre aus Biskuitteig und hätte die Form eines Schmetterlings.
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