freiTEXT | Kristina Baumgarten

Die Beschaffenheit des Abschieds

Ziehen, nicht drücken. Steht an der schmutzigen Glastür des paprikaroten Apartmenthauses. So rauchig und staubig wie ihre Kehle, beinahe streckt sie gierig die Zunge aus, um den heißen Stein der Mauer anzulecken, etwas anderes zu schmecken als Trockenheit und Traurigkeit. Im letzten Moment besinnt sie sich und schließt Mund und Tür.

Das Gebäude gleicht denen rechts und links von ihm aufs Haar. Hoffentlich findet sie zurück. Was würde passieren, wenn sie es versehentlich passieren und ein anderes betreten würde? Ihre Gedanken verschmelzen in der schwülen Hitze miteinander. Kurz blitzt eine Antwort auf, dann drängt das eigene Wortspiel sich klebrig in den Vordergrund. Die Lösung zerfließt in winzige Partikel, die sich hinter ihrer Stirn in die Tiefen des Kopfes zurückziehen. Als sie den Gedanken loslässt, dehnen sich die Nerven in der Hitze, erscheint die Auflösung wie aus dem Nichts: Drücken, wenn sie von außen kommt, nicht ziehen.

Passt ihr Schlüssel nur in dieses eine Schloss? Sie nähert sich einem weiteren Haus, drückt die Glastür auf und betritt einen dunklen Gang, bleibt vor einer Tür stehen, von der die braune Farbe wie Schokolade von einem Croissant abblättert. Das scheint ein Spiegelbild ihres Apartments zu sein, die Häuser sind offenbar nicht nur außen gleich. Nervös schiebt sie den Schlüssel in das Schloss, er passt, die Tür protestiert zwar kurz mit einem hohen Quietschen in den Angeln, gibt aber nach und schwingt einladend auf.

Ungelüftete Luft vermischt sich mit Zwiebelduft. Ein Teil des Geruchs ist betörend, er erinnert sie an eine Zeit, als sie Essensgerüche noch wahrgenommen und mit Hungergefühlen reagiert hat. Vor einer Ewigkeit. Eine rundliche Frau mit beschlagenen Brillengläsern und pechschwarzem Haar steht am Herd und bereitet Tortilla de patatas zu, der pure, erdige Geschmack nach Kartoffeln und Eiern. Jede spanische Hausfrau hat ihr eigenes Rezept, die Zutaten sind übersichtlich. Faszinierend, wie oft sind Schlüssel und Schlösser kombinierbar, wie oft Kartoffeln und Eier? Der Dunst auf den Gläsern der Señora am Herd weicht langsam zurück wie der auf kalten Fensterscheiben, an die sie früher gehaucht haben, wieder und wieder. Erstaunt, nicht überrascht hebt die Spanierin den Kopf von ihrer Pfanne. Im Raum hält sich außerdem ein Papagei auf, so bunt wie die Bilder in ihrem Kopf, die doch schwarz-weiß sein müssten, sogar völlig schwarz. Er plustert sich vor der Besucherin auf wie auf dem Catwalk im Schauflug, die räudigen Stellen geschickt verborgen flattert er hektisch wie ein alternder Flamenco-Tänzer durch den Raum. Die Frau hebt beruhigend, fast schon anmutig ihren fleischigen, rosafarbenen Arm, ihre Schürze schlägt Falten, der Arm ebenfalls. Unentschlossen verharrt sie in der Bewegung, wie zum Gruß hält sie die altersfleckige Hand erhoben. Der Vogel lässt sich beleidigt auf der Stange seines Käfigs nieder, trotzig schweigend.

Auf dem grün-samtenen, verschlissenen Stoffbild einer traurigen Madonna tanzen gräuliche Stoffmäuse in einem Sonnenstrahl, der durch einen Riss in der Jalousie fällt. Geknicktes Metall schaukelt sacht im Luftzug, reflektiert helle Blitze, etwas unterhalb der Lücke. Sie treffen auf einige verblichene Bilder, das Meer als Motiv, natürlich.

Ihr Blick streift die Fotos, bleibt hängen an einem Segelboot. Mit so einem ist sie gestern auf das Meer hinausgefahren. Mit blassem Arm hat sie die Urne mit der Asche den Weiten des Ozeans übergeben. Dabei hat sie die hohe, vertraute Kinderstimme vernommen, die ein Jahr zuvor an derselben Stelle gefragt hatte: „Warum ist das Meer immer da, Mama?“

Die kleine Hand unerschütterlich vertrauensvoll in ihre große geschmiegt.

„Meinst du Ebbe und Flut? Das gibt es hier auch, aber das Meer atmet hier nicht so tief ein und aus, das macht nur etwa 10 cm Unterschied.“

„Warum ist das so?“

„Weil der Ozean viel größer ist als die Nord- oder die Ostsee.“

„Unendlich?“

Sie schwieg einen Moment, beide waren versunken in den Anblick der Wellen.

„Ich glaub schon“, flüsterte sie leise. „Es fließt. Ein ewiger Kreislauf.“

„Wenn ich zu Hause etwas in den Fluss werfe, kommt es dann hier an?“

„Ja, das tut es. Irgendwann. Und wenn du hier etwas hineinwirfst, dann kommt es irgendwann zu Hause an.“

Mit einem Ruck kehrt sie in die Gegenwart zurück. Die Augen der Spanierin betrachten sie, seltsam wissend, gütig und so weise, als hätten sie die ganze Welt gesehen. „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen“, sie sagt es auf Spanisch. Sie versteht trotzdem. Wie die Hitze und das Wasser kommt die Trauer in Wellen. Die Fotos werden weiter verbleichen, wie die Frau selbst. Sie werden unsichtbar, aber das macht nichts, denn niemand schaut sie an, außer dem Papagei. Ein schwarz-weißes, verblasstes Leben altmodisch dokumentiert auf Papier. Was bleibt?

So weit ist sie in Gedanken, als sie erwacht. Erschrocken fährt sie auf, die kalten, klammen Laken schmiegen sich seltsam unwirklich an ihre Haut in dem heißen, engen Raum. In ihre Wange hat sich eine scharfe Kante vom Kissen eingefräst. Die Zeit bleibt nicht stehen, schon gar nicht wandert sie rückwärts. Ob diese Falte je wieder verschwindet? Sie seufzt und greift nach ihrer Tasche, irgendwann muss sie etwas essen, da kann sie genauso gut gleich ein paar Schritte gehen und sich ein Café suchen.

Der Portier lässt freundlich einen Schwall unverständlicher, langgezogener Silben mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs auf sie los, der sie, hilflos nickend und lächelnd, in Sekundenschnelle durchsiebt und dann hinter ihrer Stirn spurlos verpufft. Schmerzhaft begreift sie, dass er sie womöglich warnen wollte, als sie sich die Nase heftig an der schmutzigen Glastür stößt. Ziehen, nicht drücken. Steht dran. Der Concierge sieht sie bestürzt an, beinahe verlegen. Ihre Hand fährt automatisch in ihr Gesicht, aber da ist kein Blut, nur eine leichter Hubbel, den sie vorsichtig betastet. Sie nickt dem Portier höflich zu und zieht dieses Mal ordnungsgemäß am Griff der Glastür.

Aus der Kühle der Vorhalle tritt sie kampfbereit in die Glut des Nachmittags wie in eine Arena. Die Hitze sucht sich ihren Weg bis in ihr kaltes Herz. Sie blinzelt in den gleißend hellen Himmel und spürt den Schweiß unter der schweren Furche ihres Armes, er bildet ein Rinnsal und kitzelt sich bis zum Bund ihrer Hose, der es auffängt, bevor es verdunsten kann.

Müssen Türen nicht schon aus Brandschutzgründen nach außen aufgehen oder ist das in Spanien anders? Wer wird ihre Fotos betrachten, wenn sie stirbt? Es wird Zeit, herauszufinden, was bleibt. Zeit, nach Hause zu gehen.

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Kristina Baumgarten

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