freiTEXT | Emil Fadel
Schlick
„Ich finde, wenn man auf das Wasser schaut, und nur auf das Wasser, dann sieht es fast aus als wären wir am Meer“, hatte er gesagt und sie hatte kurz nachgedacht und ihm dann zugestimmt, denn es sah wirklich so aus. Die Wellen, die an den Strand spülten, die kleinen Tang- und Algenfelder, die in den Wogen auf- und niederschwappten, die träge blaue Masse, die sich vor ihnen erstreckte – das alles hätte genauso gut auch das Meer sein können, in einer Lagune an der Adria, oder an einer der südfranzösischen Küsten. Aber es war trotzdem nicht das Meer, sondern der Gardasee, und da, wo normalerweise der Horizont das Wasser berührt, ragten Bergmassen in den Himmel. Sie nahm seine Hand und zeigte ihm, wie er sie halten konnte, um das gegenüberliegende Ufer zu verdecken, dann war es noch viel einfacher, nur das Wasser zu sehen, das Meer.
Wenn sie jetzt die Hand über das andere Ufer hält, dann sieht sie auch nur noch das Wasser, aber wie Meer fühlt es sich trotzdem nicht an. Der See ist trüb und schlickig und hat sich weit zurückgezogen, nur noch die Verfärbungen an den Steinen zu ihren Füßen lassen noch erahnen, wie hoch das Wasser einmal gestanden hat.
Es war ihr erster gemeinsamer Sommer gewesen, sie hatten eine ganze Weile hin- und herüberlegt, wo sie hinfahren wollten, aber weil es zu viele Orte gab, die sie gerne entdecken wollten, weil sie beide zu viel Rücksicht auf die Wünsche des jeweils anderen nahmen, waren sie zu keinem richtigen Schluss gekommen. Schließlich hatte eine ihrer Kolleginnen ihr den Gardasee empfohlen, weil sie oft als Kind mit ihren Eltern dorthin gefahren war, „da gibt es anscheinend auch einen tollen Vergnügungspark“ hatte sie ihm erzählt, direkt als sie an diesem Tag von der Arbeit nach Hause gekommen war. Das hatte ausgereicht, um ihn zu überzeugen und zwei Wochen später saßen sie in seinem Mitsubishi Eterna, der nach vier Jahren irgendwie immer noch neuem Plastik roch, und fuhren die Brennerautobahn hinunter. Sie waren beide vorher noch nie in Italien gewesen und sprachen so gut wie kein Wort Italienisch, aber er meinte, dass das schon kein Problem werden würde.
Sie hat kein Gefühl dafür, wie lange sie am Ufer gestanden hat, als nun der Hotelmitarbeiter hinter sie tritt und sie in holprigem Englisch darauf hinweist, dass den Gästen des BuonviaggoSpa von Seiten der Hotelleitung nicht empfohlen wird, sich längere Zeit im Freien aufzuhalten, jetzt, wo die Brände so nah sind. „Lasciami stare“, sie winkt ärgerlich ab und er verschwindet wieder, wahrscheinlich ein wenig überrascht darüber, dass diese offensichtliche deutsche Touristin mit dem Sommerkleid und dem Strohhut ihn plötzlich auf Italienisch anfährt. Natürlich weiß sie, dass er eigentlich recht hat, ihre Lungen brennen schon und ihr Hals ist ganz wund von dem scharfen Rauch, der hier überall in der Luft liegt. Aber ihr Zimmer mit der Lüftung und der Klimaanlage ist ihr noch viel mehr zuwider als hier draußen zu sein. Hotelzimmer können sich ganz schön furchtbar anfühlen, vor allem wenn man alleine ist.
Das kleine an der Durchfahrtsstraße gelegene Hotel, in dem sie nach langem Suchen abgestiegen waren, trug den Namen CASABLANCA in schönen, großen Lettern auf dem Dach und alles daran fühlte sich auch genauso an – auch für jemanden, der noch nie in Casablanca gewesen war. Ihr Zimmer war winzig und gefliest und von einer eigenartigen Kühle erfüllt, als sie eintraten und die Koffer auf die Betten warfen, um direkt unter die Dusche zu springen und den Schweiß der Fahrt loszuwerden. In der Ecke stand ein alter klappriger Ventilator, der sich sichtlich Mühe gab, die Luft im Raum in Bewegung zu bringen. Die Betten waren steinhart, als sie die Koffer nach der Dusche beiseiteschoben und auf den schneeweißen Laken miteinander schliefen und hinterher sagte er: „Willkommen im Urlaub“ und sie lächelte still in sich hinein, während er einschlief und der Ventilator in der Ecke vor sich hin ratterte.
Über ihrem Kopf ertönt aus der Ferne ein Rattern, das langsam lauter wird und als sie hochsieht, ist es ein Helikopter der Feuerwehr, der mit hoher Geschwindigkeit und nach unten gesenkter Nase über den See eilt, um am Berghang gegenüber eine große Ladung Wasser auf die Flammen fallen zu lassen. Sie sieht zu, wie die Wolke aus Tropfen auf die glühenden Skelette der Bäume niedergeht, wie eine gewaltige Dampfwolke aufsteigt und wie der Hubschrauber abdreht, um die nächste Ladung zu holen. Sie sieht auch, dass es nichts nützt. Die gelöschte Stelle lodert immer noch an vielen Punkten und hinter der anderen Flanke des Berges zeugen Rauchsäulen davon, dass sich weitere Brände nähern. Kopfschüttelnd geht sie einige Schritte am Ufer entlang, die Haufen von Tang, die der Sturm an Land gespült hat, vorsichtig übersteigend. Das Hotelpersonal gibt sich normalerweise Mühe, den Strand von allerlei Treibgut freizuhalten, aber seitdem man ohnehin nicht draußen sein soll, wurden die Säuberungsarbeiten eingestellt.
Das Seeufer in der Nähe ihres Hotels war malerisch, aber ziemlich überfüllt, weil direkt angrenzend ein großer Campingplatz lag, der jeden Morgen pünktlich um zehn eine gewaltige Menge badesüchtiger Wohnwagenbewohner aus seinen Pforten quellen ließ. Dennoch verbrachten sie die ersten Tage fast ausschließlich dort, im Wasser planschend wie Kinder, auf den heißen Steinen in der Sonne schwitzend, die Strandtücher nur als notdürftige Unterlage gegen den harten Untergrund, oder im Schatten der Bäume ruhend. Es war wunderbar. Sie war vorher nur an der Nordsee gewesen und hatte das ziemlich furchtbar gefunden, er hingegen hatte schon immer das Meer geliebt, und trotzdem fanden sie beide, dass das hier irgendwie genau richtig war. In diesem Sommer verliebten sie sich also nicht nur ineinander, sondern auch in den Gardasee.
„Der See stirbt“, denkt sie bei sich. Er liegt auf dem Totenbett und sie besucht ihn ein letztes Mal. Im nächsten Sommer wird es keinen Urlaub mehr hier geben, zumindest nicht für sie. Ohnehin ist es dieses Jahr einfach nicht mehr dasselbe gewesen, mit all den Bränden und ohne ihn. Es ist das erste Mal gewesen, dass sie alleine irgendwohin fahren muss, das erste Mal seit dreißig Jahren. Inzwischen ist sie am Ende des begehbaren Bereiches angekommen, hier endet der Strand – oder das, was davon übrig ist – und die Klippen beginnen, ins Wasser zu greifen. Hier an dieser Stelle haben sie gestanden, als sie ihm den Trick mit der Hand und dem Ufer gezeigt hat. Damals hat er gelacht und sie in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert, dass er sich so sehr auf diesen Sommer mit ihr freut und auf alle anderen Sommer, die danach noch folgen werden. Jetzt ruht er in der kühlen, dunklen Erde eines deutschen Friedwaldes und es wird kein Sommer mehr mit ihm folgen und vor ihren Füßen liegt der vertrocknete Kadaver einer Möwe, ein sandverkrustetes Elend, aus dem an allen möglichen Stellen Federn und grätenartige Knochensplitter ragen.
„Ich freue mich auch so sehr“, sagte sie und zerzauste sein von der Sonne hell gebleichtes Haar. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte es sich auch so an, als würde sie es wirklich meinen, wenn sie das sagte.
Sie sieht den toten Vogel noch eine Weile an, dann dreht sie sich um und beginnt, den Hügel zurück zum Hotel wieder hinaufzusteigen. Oben kommt ihr schon ein Hotelmitarbeiter entgegengelaufen, genauso freundlich und gesichtslos wie der erste – oder ist es gar derselbe? Sie ist sich nicht sicher – und informiert sie, dass soeben ein Erlass der örtlichen Tourismusbehörde eingegangen ist. Das Hotel wird evakuiert. Die Brände kommen zu nah. Sie lassen sich nicht löschen. Der Ort wird aufgegeben. Kurz überlegt sie, was sie tun soll, und für einen Moment ist da die Verlockung, einfach zurück in ihr Zimmer zu gehen, sich aufs Bett zu legen und auf die Flammen zu warten. Dann fängt sie sich wieder und folgt dem emsig vorauseilenden Jungen in der Hoteluniform. Bei der Eingangspforte des Hotels bleibt er stehen und fragt, ob sie noch ihr Gepäck aus dem Zimmer holen möchte, der Shuttlebus könne solange warten. Sie dreht sich noch einmal um, sieht auf den See und strafft dann die Schultern. „Lascialo bruciare.“ Soll es doch brennen.
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