freiTEXT | Clemens Braun
Halbzeit
Ich bin zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen, dachte ich, Jots Worte noch einmal wiederholend, die nicht nur ihre, nein, ursprünglich auch die Worte jenes Querulanten gewesen waren, der seit Jahren meine Familie, die Familie meines Onkels und somit eines berühmten österreichischen Dichters mit seinen unerwünschten Wortspenden und noch weniger erwünschten Bittgesuchen in strafrechtlich relevanter Weise zu belästigen pflegte, der aber tatsächlich, wie er bei seiner Einvernehmung, die einstweilige Verfügung gegen ihn betreffend, zu Protokoll gegeben hatte, zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen war. Seine in jeder Beziehung prekäre Lage, die natürlich auch Gesprächsthema auf der Familienfeier im Waldviertlerhof war, erinnerte mich an Jot, an ihre Verfassung als wir uns vergangenen Juni, mühevoll der Rube-Goldberg-Maschine der Deutschen Bahn entkommen, in einem winzigen bayerischen Kurort wiederfanden, um an einer wissenschaftlichen Tagung teilzunehmen.
Seitdem sie ihre Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, bei der er sich de facto um eine Hundertprozentstelle handelte, so wie alle de jure Fünfzigprozentsstellen de facto Hundertprozentstellen sind, hatte sich ihre ohnehin ins Katastrophische tendierende Weltanschauung nur verdüstert. Das Unglück, sagte sie, fange jeden Tag aufs neue in der Früh an, habe man Schlafstörungen, gebe es den Morgen, der die dunkle von der hellen, die insgeheime von der offiziellen Arbeitszeit trenne, ohnehin nur als soziales Ritual, bei dem man wohl oder übel mitspiele. Man wache auf, sagte sie, und finde sich seelisch wie geistig zerklüftet vor, mürbe, zusammenhangslos, bevor man langsam und unter Rückfällen der schmerzvollsten Art die nächste Bewusstseinsstufe ansteuere. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich begonnen hatte, Notiz von ihren Monologen zu nehmen, die immer stärker jenen philosophischen Schriften ähnelten, die Jot sich zur eigentlichen Lebensaufgabe gemacht hatte zu untersuchen und von denen sie mehr als einmal gesagt hatte, sie sollten ebenso gewürdigt und bewundert werden, wie man das Chamonix-Mont-Blanc-Tal oder ähnlich erhabene Gebirgslandschaften bewundert. Gerade weil sie diesen Vergleich selbst mehr als einmal angestellt hatte, war ich überrascht, wie gleichgültig sie die geradezu kitschige Alpenkulisse ließ, die sich vor dem Frühstückssalon des Kurhotels Höllrigel erstreckte. Ein einziges Frustfressen, murmelte ich Jot halblaut zu, die zwei Teller mit den dick bestrichenen Buttersemmeln und dem Schwarzwälder Schinken in den Händen, Jot, die zerklüftet über ihrem doppelten Espresso vor sich hin weste, und im Gegensatz zu mir, der unter den Verwerfungen des akademischen Arbeitslebens immer fülliger wurde, mit jedem neuen Tag dünner zu werden schien. Diese Gegenüberstellung, dachte ich, ließe sich beliebig fortsetzen, denn während ich immer ausgiebiger dem Alkohol zusprach, wurde sie beklemmend nüchtern, ich fing zu rauchen an, sie hörte mit dem Rauchen auf etc. Auf so unterschiedlichen Wegen näherten wir und unsere Symbolkörper uns seit geraumer Zeit, seit wir unser chronisch unterfinanziertes, im Grunde unter Selbstausbeutungsbedingungen betriebenes Langzeitprojekt zu stilometrischen Analysen begonnen hatten, einem Zustand der völligen Erschöpfung und Erniedrigung, aber zugleich: der Weltvergessenheit, glücklich nicht, aber ebensowenig traurig.
Der Körper, setzte ein Philologe mit morgendlichem Stück Schwarzwälderkirschtorte neben uns trocken an, der Körper brauche bis zu zwei Kilogramm reinen Zucker täglich, das bilde Blut, das Gemüse hingegen sei völlig verbleit und verstrahlt, gerade in sogenannten Mondjahren. Ganz zu schweigen von Jahren mit dreizehn Monden, schmunzelte die Salzburger Psychoanalytikerin, deren Anwesenheit ich jetzt erst vollends bemerkte; eine Anspielung, auf die hin der Philologe zwischen den gebleckten Zähnen Luft entweichen ließ und anmerkte, dass er tatsächlich im Besitz eines handschriftlichen Briefes von Rainer Werner Fassbinder an seinen Astrologen wäre und dass jener ja nur Ende Mai auf die Welt hätte kommen können, gar nicht weit von hier, dass ein Charakter wie Fassbinder ja ein geradezu klassischer Zwillingscharakter wäre. Von hier aus entspann sich ein Gespräch, das mit Unterbrechungen bis zur Mittagspause andauerte, und an dem Jot, die sich nicht für Astrologie, sehr wohl aber für Geistespathologien aller Couleur interessierte, rege Anteil nahm. In den geschlossenen Abteilungen, sagte sie zu mir auf dem Weg zur Sonnenterrasse im Halbstock, wo ich eine Zigarette rauchen und Jot den Wunsch unterdrücken würde, eine Zigarette zu rauchen, in den geschlossenen Abteilungen säßen ja Tausende von Leuten, die sozusagen eine Verrücktheit begangen haben, die nicht annähernd so verrückt sei wie die ihrige. In den geschlossenen Abteilungen würden Leute festgehalten, die nur einmal nicht Nein gesagt haben, wo sie Nein hätten sagen sollen, die einmal gelächelt haben, wo sie nicht lächeln hätten sollen, sagte Jot, das müsse man sich einmal vorstellen. In der Psychiatrie, fuhr sie fort, zeige sich unser eigenes Doppelbild, das Doppelbild von uns allen, nämlich verrückt zu erscheinen und es nicht zu sein, verrückt zu sein und nicht so zu erscheinen. Auch aus meinem Onkel hätte ebensogut ein berühmter Verrückter wie ein Dichter werden können, aber weil er in Wahrheit verrückt sei, wie ich bestätigte, erscheine er nicht so. Nein, in Wahrheit brauche mein Onkel den Querulanten, den Jot durch meine Erzählung zur Genüge kannte, wie der Polizist den Kriminellen brauche, ein unseliges Zwillingsgespann wie in diesem Meme der zwei aufeinander zeigenden Spidermen, in das ich Jot auf der Zugfahrt eingeweiht hatte.
Nicht zuletzt, schien es mir, dachte sie bei diesen Ausführungen an sich selbst, immerhin hatte man in dem Moment, als sie ihre quasi unkündbare Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, begonnen, über ihre Geistesverfassung zu munkeln, nur, weil sie es gewagt hatte, statt wie bisher zu allem Ja zu sagen, nur zur Hälfte der an sie herangetragenen Verpflichtungen Ja zu sagen, was logischerweise bedeutete, dass sie begonnen hatte, zur Hälfte Nein zu sagen. Aus der Fluchtlinie, die ihre Fünfzigprozentsstelle hätte bedeuten sollen, wurde eine Falltür, hatte man doch aus Jots aufflackernder Selbsterhaltung den Schluss gezogen, die Entfristung wäre ihr restlos zu Kopf gestiegen und zöge eine nachhaltige intellektuelle Verheerung mit sich. Jedes Dienstverhältnis sei auch ein Verhöhnungsverhältnis, sagte sie, wohl wissend, dass ich als Neffe eines berühmten österreichischen Dichters keineswegs arbeiten hätte müssen, mir keineswegs erniedrigende Schlupflöcher durch den universitären Mittelbau hätte bohren müssen. Unser gewissermaßen freigewähltes Unglück verband uns auf besondere Weise, verschwisterte uns, dachte ich später, den Waldviertlerhof verlassend, hatte Jot doch ihre nicht wenig erfolgreiche Künstlerkarriere aufgegeben, um in die akademische Halbwelt ein- und in dieser abzutauchen, um Luft ringend, bis man ihr den bleiernen Rettungsring der Entfristung um den Hals gelegt hatte.
Spätabends, als wir uns durch Wogen von Kölner Fußballhooligans, deren freundschaftlicher Rückenklopfer mir die halbe Luft aus dem asthenischen Brustkorb gepresst und in mir einmal mehr das Bedürfnis geweckt hatte, der verbrecherischen Tragikomödie der Menschheit ein Ende zu setzen, den Weg aus der Bierstube des Höllrigelschen Hotels bahnten, wo die Psychoanalytikerin wiederum meinem Onkel, von dem sie nicht wusste, dass es sich um meinen Onkel handelte, dem berühmten österreichischen Dichter jedenfalls attestiert hatte, in Wahrheit ein Kolonialdichter zu sein, der mit herrischem Blick die halbe Erdkugel abschreiten würde, fragte mich Jot, ob ich mir dieser, meiner Entscheidung bewusst wäre. Man suche sich die eigene Falle nicht zur Gänze aus, sagte sie, aber vielleicht zur Hälfte, als wollte sie mir an diesem Abend die Augen öffnen, als wollte sie mir ihrerseits einen letzten Rettungsring zuwerfen, mein halbes Leben läge ja noch vor mir, sagte sie. Wie gerne wollte ich ihr glauben, als ich mich anschickte, den Waldviertlerhof durch den Garten zu verlassen, an der vom Blitz gespaltenen Robinie vorbei, im Kopf noch die Geräusche und Formulierungen meines Onkels, die längst mein Neffenbewusstsein kolonisiert hatten, längst meine Geräusche und Formulierungen geworden waren, sein lautes Grüßgott etwa, das ich nicht weniger gewohnheitsmäßig als er bei Betreten eines Raumes mit ostentativer Höflichkeit in selbigen Raum hineinbellte. Auch das Familientreffen hatte ihm gehört, seine Stimme tönte weiter, den abwesenden Querulanten verwünschend, und die Gummiknödel schwer im Magen war mir, als füllte die riesige, geradezu orwellianische Visage meines Onkels mit seinen schwarzen Augen den Waldviertlerhofhof, drängte sich mir aus zwei der vier Ecken auf und zwänge mich hinaus, zwänge mich zur Flucht, hinaus auf die Schönbrunner Straße, stadteinwärts, in Richtung Universität.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at