freiTEXT | Christa Blenk
Scham
„Weißt du, was IUCN ist, Tante Carlotta?“
Mit diesen Worten empfing mich mein 11 Jahre alter Neffe Philipp. Ich sollte mir die letzten Instruktionen bezüglich der Betreuung seines Hamsters abholen.
„Sag nicht immer Tante zu mir, Carlotta reicht!“
„Verschone Carlotta bitte mit deinem Vortrag und beeil dich, sie hat nicht den ganzen Tag Zeit“, ermahnte ihn seine Mutter.
Philipp musste mit seinen Eltern ein Wochenende in den Bergen verbringen und ich durfte seinen Hamster sittern. Er hasste diese Kurzurlaube, aber in seinem Alter hatte man nicht allzu viel Mitbestimmungsrecht, wenn es um Freizeitgestaltung ging.
Nicht dass ich Florian, dem Hamster, besondere Gefühle entgegen gebracht hätte, aber Philipp war mein Lieblingsneffe. Ich hätte Florian ja auch mit zu mir nehmen können, aber El Tato, mein Kater, war vehement dagegen.
„Morgens und abends je eine halbe Stunde Streicheleinheiten mindestens“, waren die Vorgaben von Philipp. Ich bin keine Frühaufsteherin und musste deshalb ein wenig schwindeln, aber Florian würde mich schon nicht verraten. Die Abende hingegen gehörten Florian. Ich fütterte ihn, streichelte ihn 30 Minuten lang und erzählte ihm meinen Büroalltag.
Wir hatten uns ein paar Monate nicht gesehen. Philipp hatte sich verändert, das merkte ich sofort. Eine Reportage im Fernsehen über aussterbende Tier hatte ihn geradezu erschüttert. Meine Schwester hatte mich schon vorgewarnt. Allerdings habe ich das nicht so ernst genommen, weil Kinder ständig für irgendetwas brennen.
Dieses Mal war es aber anders. Philipp glühte, vor Leidenschaft und vor Leid. Seit dieser Sendung durfte in seinem Elternhaus keine Fliege, kein Insekt, keine Biene, gar nichts mehr einfach nur so zerquetscht oder getötet werden. Er beobachtete mit Interesse Ameisenstraßen, freute sich über Spinnweben an der Wand und wenn ihn im Garten eine Biene umwarb, war er stolz.
Abgesehen von meinem Kater waren Florian oder die Kanarienvögel meiner Freundin die einzigen Tiere, mit denen ich in Berührung kam. Spinnen machen mir Angst, Fliegen nerven mich, Insekten stehe ich generell sehr skeptisch gegenüber und wenn eine Wespe über mein Tortenstück fliegt, werde ich hysterisch.
„IUCN, nein, tut mir leid, ist das eine neue Musikgruppe?“
„Ihr Erwachsenen seid einfach nur peinlich“, meinte Philipp und blickte mich bedauernd an.
„IUCN steht für International Union for Conservation of Natur, also eine Weltnaturschutzunion. Sie bringt einmal im Jahr eine rote Liste bedrohter Tiere, Insekten oder Fischen heraus. Aber von der Klimakrise hast du schon gehört, denn sie ist einer der Gründe, warum Tiere aussterben, aber auch unser Fleischverzehr, das Überdüngen, Abholzen und Überfischen sind schuldig. Wenn ein Meeressäugetier als Beifang im Netz eines Großfischers stirbt, dann nennt ihr das Kollateralschaden. Das Ihr sprach er mit Verachtung aus. Denk an aussterbende Dugongs oder die Tiger- oder Elefantenjagd. Aber wer braucht schon Tiger, wirst du jetzt sagen. Die sind doch gefährlich und außerdem gibt es im Zoo ja noch welche.“
Philipp hatte wirklich eine schreckliche Meinung von mir.
„Der Baltische Stör ist genauso bedroht wie der Feldhamster, von den unzähligen, gefährdeten Insekten ganz zu schweigen“, setzte er seinen heißblütigen Vortag fort.
„Und wenn dann unser Ökosystem komplett zerstört ist, werdet ihr aufwachen, aber nur weil euch der Honig auf dem Brot fehlt. Obwohl, dann erfindet ihr ja einfach ein chemisches Ersatzprodukt.“
Schon wieder war sein Ihr eine Ohrfeige an mich und die komplette Erwachsenen-Welt.
„Das wirst du sogar noch erleben, auch wenn du nur noch ein paar Jahre zu leben hast. Aber ich, ich habe ungefähr noch 70 Jahre vor mir!“
Also so alt war ich nun auch wieder nicht, fuhr es mir durch meinen hochroten Kopf.
„Was ist ein Dugong?“, fragte ich ihn, um mir irgendwie wieder Pluspunkte zu verschaffen.
„Eine herbivore Seekuh, also pflanzenfressend. Sie gehört zu den Gabelschwanzseekühen. Man findet sie an den Küsten vor Ostafrika und Australien.“
„Oh!“
Mir war diese Seekuh total unbekannt und ich hatte keine Ahnung von bedrohten Lemuren oder von seltsamen Meeresschnecken und Korallen kannte ich vor allem in Form von Schmuck. Aber nun hatte mich dieser 11-jährige Junge beschämt, in dem er mir vor Augen hielt, was für Tiere – oder waren Korallen Pflanzen? – praktisch täglich verschwinden, auf Nimmerwiedersehen. Er hat mir meinen bequemen, ruhigen und langweiligen Kokon madig gemacht, in dem ich es mir jeden Abend mit meinem schnurrenden Kater und einem Glas Rotwein vor einer dämlichen Fernsehserie gemütlich zu machen pflegte. Philipp hat mir unsere Unverantwortlichkeit, unseren Egoismus und unsere Kurzsichtigkeit um die Ohren gehauen.
Er erzählte weiter von Bienen und Honig und Spinnen und ich wagte es gar nicht auf deren Aggressivität aufmerksam zu machen oder die Bienen- oder Insektenallergiker in Schutz zu nehmen. Dies würde nur zu weiteren Vorhandlungen führen. Er wurde beinahe bedrohlich, als er von seiner Zukunft, der schwarzen Zukunft der heutigen Kinder, zu reden anfing.
In den Nachrichten hatte ich davon auch schon gehört, aber aus dem Mund dieses Kindes, klang das so viel mehr bedeutend, so vernichtend, so endgültig.
„Ich werde Biologie studieren und mich dann nur noch um den Erhalt von Tieren und Pflanzen kümmern. Weltweit gibt es ungefähr 150 000 erfasste Tierarten und circa 42 000, also fast ein Drittel, sind bedroht, werden aussterben, für immer weg! Denk mal darüber nach, Carlotta!“
Als ich nach einer Stunde die Wohnung meiner Schwester verließ, fühlte ich mich persönlich für das Aussterben der Dugongs verantwortlich. Schon auf dem Nachhauseweg kaufte ich mir direkt ein großes Glas mit Schraubverschluss, um damit die Spinnen im Haus in den Garten oder in den Wald zu transportieren. Das mit dem Glas war eine Order von Philipp. Den Staubsauger würde ich in Zukunft nur noch für den Teppich benutzen. Dass ich ihn früher auch zweckentfremdet eingesetzt habe, habe ich ihm vorsichtshalber nicht gebeichtet.
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