freiTEXT | Zara Leander
Krokodilszähne
Du machst gerade deinen Mittagsschlaf, während ich das schreibe. Mams liegt auf dem Sofa mit dem Laptop auf dem Bauch und tippt mit halboffenen Augen. Seit ein paar Tagen schreist du in der Nacht. Die Ärztin sagt, das kommt, weil dir Zähne wachsen. Es ist gut und wichtig, Zähne zu haben. Aber das kannst du noch nicht verstehen.
Gestern hat Mams beim Kochen geweint. Sie hat den ganzen Nachmittag in der Küche gesessen und ich durfte nur rein, um mir ein Glas Wasser zu holen. Du warst bei Grossmams, damit sie lernen kann. Als ihr zurückkamt, hat sie Mams gescholten, weil ich noch nichts gegessen hatte.
Es kommt vor, dass sie plötzlich zu weinen anfängt. Meistens gibt sie mir einen Kuss auf die Stirn und sagt, dass es nichts mit mir zu tun hat. Dann gibt sie mir dich in die Arme, geht in ihr Zimmer und wenn sie wieder herauskommt, ist alles gut. Aber gestern hat sie einfach weiter Käse über die Nudeln gerieben. Ich bin zu ihr hin und habe ihre Beine umarmt, wie ich es gemacht habe, als ich noch klein war. Sie ist ganz still gestanden, mit der Käsereibe in der Hand. Und als ich ihre Beine losgelassen habe, ist sie auf den Balkon und hat eine Zigarette geraucht. Ich hasse es, wenn sie Zigaretten raucht.
Du hast deinen Schoppen getrunken. In der Nacht davor hattest du wieder Schmerzen. Mams hat für dich gesungen und dich geschaukelt, bis du eingeschlafen bist. Danach ist sie ins Bad, hat ihre Haare gebürstet und die Lippen angemalt. Erst mit einem Töpfchen rosaroter Farbe, dann mit einem dünnen, dunklen Stift. Sie hat eines der schwarzen Tops angezogen, die hinten im Schrank hängen. Dann hat sie etwas aus der Kommode in ihre Handtasche gepackt und ihren Schlüssel gesucht.
Eigentlich wollte ich mich vor die Haustür setzen und weinen, weil ich es hasse, wenn sie uns alleine lässt. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Erst als sie den Schlüssel zweimal umgedreht hatte und ihre Schritte im Treppenhaus leiser wurde, bin ich aus unserem Zimmer gekommen und auf den Balkon gegangen. Sie fuhr aus der Garage und bog in die Strasse ab. Ich habe gewinkt und nach ihr gerufen. Aber sie hat mich nicht gesehen.
Du hast von all dem nichts mitbekommen und deinen Daumen gelutscht. Wenn du so still bist, denke ich, dass du etwas träumst, das mit uns nichts zu tun hat. Du bist an einem Ort, von dem nur Babys träumen können, einem breiten, braunen Fluss.
Manchmal stelle ich mir vor, dass dir gar keine Menschenzähne wachsen, sondern Krokodilszähne. Erst fällt es niemandem auf, aber nachdem du ein Kind auf dem Spielplatz gebissen hast, bemerken die anderen, dass etwas an dir anders ist. Später bekommen wir das Klassenfoto nach Hause und alle Eltern starren nur auf dein Lächeln, fasziniert und verängstigt zugleich.
Mams sagt immer, ich solle dich in Ruhe lassen, wenn du schläfst. Aber ich habe dich aus deinem Gitterbett gehoben und durch die Wohnung getragen, weil mir alles so still und leer vorkam. Du hast ein bisschen gequengelt und geweint, bist dann aber an meiner Schulter wieder eingeschlafen. Als ich dich zurück in dein Gitterbett legte, hatte ich einen Sabberfleck auf dem T-Shirt.
Ich holte mir Cinniminnies aus der Küche und schaltete den Fernseher ein. Mams hasst es, wenn ich aus der Packung esse. Ich glaube, deshalb habe ich es gemacht. Auf den meisten Sendern waren die Bilder dunkel, es gab viel Wald und Polizei. In einem Film ging es um einen Mann im Gefängnis. Er hatte einen orangen Anzug an und viele Tattoos, darunter eins im Gesicht, wie Sam. Ich weiss nicht, ob du dich an ihn erinnerst. Er hat rote Haare, Sommersprossen und ein Spinnennetz unter dem linken Auge.
Bevor du gekommen bist, sind Sam, Mams und ich oft in den Park gegangen. Sam hat einen Drachen mitgebracht, wenn es windig war, und ich durfte ihn steuern. Auf dem Drachen war ein Feuerwehrauto, das in der Sonne rot glitzerte. Als Mams und du im Krankenhaus wart, hat er einen Luftballon gekauft, den er an euer Bett gebunden hat. Er hat sich auch deinen Namen auf den Unterarm tätowiert, mit Sternen drumherum. Das fand sie erst nicht gut. Aber dann hat sie es Grossmams erzählt und dabei gelacht. Also muss es ihr doch gefallen haben.
Abends haben wir immer zusammen Fernsehen geschaut. Sam hat in Mams Zimmer geschlafen und seine Zahnbürste im Bad gelassen. Manchmal haben sie sich gestritten, aber am nächsten Tag war alles wieder gut. So ging das eine Weile. Dann wurde sie wieder traurig und hat die ganze Zeit geweint. Grossmams hat ihr gesagt, dass sie nicht mehr auf dich aufpasst, wenn sie nicht zur Schule geht. Danach hat sie sich jeden Nachmittag mit dem Laptop in der Küche eingesperrt und Sam ist mit uns in den Park gegangen.
An einem Abend hat Sam Lasagne gekocht. Mams hat nichts gesagt, nur still auf ihren Teller geschaut. Da hat Sam mit der Faust auf den Tisch gehauen. Er hat ihr gesagt, dass er das Leben geniessen will und dass er das mit einem Gesicht wie ihrem nicht kann. Mams ist in ihr Zimmer gegangen und hat noch mehr geweint. Manchmal möchte ich sie schlagen, wenn sie so weint. Aber dann sehe ich sie alleine auf ihrem Bett sitzen und nehme mir vor, mehr für sie zu machen. Sie sagt ja immer, dass ich mehr im Haushalt helfen könnte. Also habe ich die Wäsche aufgehängt und Staub gesaugt. Aber das hat sie gar nicht gemerkt.
Am nächsten Tag ist Sam mit einem Strauss Blumen zurückgekommen. Er hat wieder in Mams Zimmer geschlafen und am Morgen gesagt, dass wir zusammen in die Ferien fahren. Wir haben Orte aufgezählt, die uns gefallen: Portugal, Spanien, Sardinien, Ibiza, Türkei…
Seither habe ich ihn nicht wieder gesehen und Mams nennt ihn nur noch „das Thema“. Ich sage z.B.: „Kannst du die Lasagne so machen wie Sam?“ Und sie sagt: „Fang nicht wieder mit dem Thema an.“
Vielleicht ist es besser so. Grossmams sagt, dass Leute, die viel versprechen, viel lügen.
Trotzdem würde ich gerne wissen, was passiert ist. Letzte Woche hat mich Frau Mörgler auf dem Schulweg angesprochen und mich etwas zu Mams und Sam gefragt. Ich habe mit den Schultern gezuckt. Sie sagte: „Das darfst du mir wahrscheinlich nicht sagen, gell?“ Dann hat sie mir gesagt, dass sie und Herr Mörgler oft über uns sprechen. Und dass ich bei ihr läuten darf, wenn wir alleine sind.
Ich bin davongerannt. Ich finde es komisch, dass die Mörglers über uns sprechen und es mir auch noch sagen. Ich habe das Gefühl, dass sie ein Geheimnis von uns kennen, von dem ich selbst nichts weiss.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at