freiTEXT | Susanne Schmalwieser

du kadaver wolltest zuckerbäcker werden

mein grosser vorsatz wäre
nicht wie eine verrückte dir zu verfallen
er ist schon immer gewesen nicht verrückt zu sein wie das blutgetriebene muttertier
einen anzug tragen und ein paar stunden lang vergessen dass die haut darunter sich ablöst dass ich ein reptil bin wenn man mich
(nur als solches behandelt)
als ein solches klassifizierbar macht
ich also zerlegbar bin in meine einzelteile du also zerlegbar bist in deine einzelteile
dass dort drüben sie dir gerade
vielleicht ja einen zahn ausschlagen oder das blut ausschlagen den schädelknochen anhand der zu erwartenden bruchlinien spalten ohne die friedliche sorgfalt des sezierbestecks und dass du schreist wie eine schlachtsau

wir sind verschiedener mütter oder bloss weil einmal ein paar menschen mit dem geodreick und der landkarte ein spiel überlegt haben jetzt durcheinander jetzt verschieden
meine heimat der abdruck eines whiskeyglases im atlas
deine ausgebrannt ein historienort ein zigarrenfleck
kein fensterglas mehr in den häusern die jetzt mit vielen dunklen augen starren wo sie kein blick mehr fasst

es ist die flugzeugstille und du mir wie in irgendeinem traum dahingerafft
oder vor mir ausgerollt wie strudelteig
irgendein gratis wlan erkenne ich wieder und in deiner wohnung ist mir alles fremd geblieben
ein stempel im reisepass ein paar digitalisate unserer polaroidbilder ein kochrezept das mir nie recht gelingen will
natürlich hat der vater recht behalten dass ich einen ganzen menschen nicht besitzen kann

kölsches schokolademuseum und die reisegruppen die sich mir in den bauch stossen
machete im glassturz
(interaktiver creative space)
als ob wir erleben um es auszustellen
oder als knochensammlung ausgestellt zu werden
grabbeigaben oder auf der flucht noch hastig
nach dem handy gegriffen, ein paar münzen und dem
hochzeitsfoto der grosseltern
historische einblicke eine multimedia
experience du hast noch versucht anzurufen
anzurufen als man dich analogisiert
(zu staub oder in alle deine pixel zerfallen)

ist ja normal dass ich dich noch etwas hin und her spüle wie mundwasser zu weit hineingerutscht zu spät dich auszuwürgen
heimlichmanöver
kein wunder dass mir oder wem du mehr gewesen bist schaudert vor dem leeren sarg dieser schreckensfantasie
und weil du erdnüsse nicht verträgst hab ich schon manchmal viel abstrakter gefürchtet dass du sterben musst

diese mayaschen 5 tage nach dem ende aller monate
sogar die zeit ist also erfunden worden
analytisch betrachtet gibt es nichts
bis auf das ende einer prophezeiung
aztekische schattengestalt auf rot, in der hand eine kakaofrucht vor saftigkeit beinahe berstend
historisch gesehen gibt es uns alle immer wieder
du kadaver wolltest zuckerbäcker werden
ich in der schokoladenfabrik gedenke deiner hülle in eine fahne gewickelt von ein paar engerlingen kompostiert vermutlich irgendwann
einer aussaat zugestreut, vielleicht einem weizenfeld,
vielleicht nach noch ein zwei metamorphosen einer zuckerrübe oder einer theobroma
(einem gott dich über dem nachtisch zu zermalmen)

ich will alles nur nicht ein letztes mal so tun als wäre es mir peinlich
wenn du mich mit der hand am oberarm nimmst und in eine richtung drängst bloss nicht überlegen müssen wann unser letzter streit und ob mein letztes wort an dich zu streng gewesen ist nicht jedes wort bereuen
das ich an dich verschwendet habe wo ich doch einfach hätte sagen
wie schön du mir bist oder schweigen können
ich stell mir deine tagträume vor
du hast eine liste gemacht mit wünschen für die kremierung

stell dir vor der himmel bräche später
und was du tätest mit einem letzten tag in deiner alten welt
stelle vor der himmel bräche nie

ein blechschiff voll augen mich in der trauer zu bestaunen
oder gaffend in diesem gefühlszwischenraum
der sich meistens auftut wenn du leben musst
oder noch leben darfst
und die jännerkälte in spitzen vektoren auf dich zufährt, die spitzen unters fleisch fährt
ein land vor dem ofen erdacht unter frostbeulen geschaffen worden;
als ob wir nicht nach dem minutenlangenkreisen auf der weltuhr
(einmal mit den körpern)
etwas neues zu erzählen vermögen

 

Susanne Schmalwieser

 

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freiTEXT | Susanne Schmalwieser

Wir beide haben immer schöne Anziehsachen

Zu diesem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt lebt Claudia in Australien und mit ihr niemand, den sie liebt. Probleme eines unglücklosen Lebens; doch von den Palmen sieht sie meistens nur die langen Schatten; bedrohlich ihr entgegenwachsend. Gedruckt aus der Zeitung entwischt und mit dem Boot über die See gefahren. Süßlich säuselnd in der Brandung, auf dass sie sich ihnen hingibt und dort ertrinkt.

Claudia sitzt auf der anderen Seite der Welt und winkt. Durch einen Bildschirm hindurch, in Georgs Küche hinein. der sitzt da mit seiner Teetasse und ist gespannt, von Claudias Tag zu hören, so wie sie seit Wochen immer von seinem hört. Täglich um neun, ihre Zeit, halb zwei, seine Zeit. Tastendrücken routiniert wie Zähneputzen.

Die Milchflaschen sind um sechzig Cent teurer geworden, sagt Claudia, und das Pfand nicht mehr. Bei uns auch; das erinnert mich an die Jugend, antwortet Georg, als wir donnerstags Pfandflaschen gesammelt haben, fürs Ausgehen am Freitag. ans Münzen-Aufklauben am Bahnhof Mödling und Münzen-Klauen aus der Tasche der Mutter und ans schlechte Gewissen deswegen, den ganzen Abend lang tanzend unter den Lichtern des einen Lokals oder des es anderen. Witzig, antwortet Claudia, dass wir diese Lokalnamen noch kennen, nach all den Jahren, und ich mir heute kaum die Busstation merken kann, über der ich lebe.

„Frühe Demenz?“, fragt Georg. „Ich glaube, Depression“, sagt Claudia.

„Oh“, meint Georg am anderen Ende der sie beheimatenden Kugel. Stille zwischen ihnen. Stille in jedem ihrer Räume; der eine sonnendurchflutet, der andere von Nacht umfangen.

Dann fragt Georg: „Gefällt es dir denn nicht in Australien?“

Gefallen, denkt Claudia. Gefallen hat ihr mit siebzehn mit der Mutter zehn Tage lang in Paris zu sein. Die erste Großstadt, der Bus durch Montmartre hinauf, endlich einmal zu sagen: „ich hab mir den Eiffelturm kleiner und das Moulin Rouge grösser vorgestellt“. Die verbindende Suche nach billigem Wein und gratis Aktivitäten, die Fußschmerzen nach Fußmärschen, um die Metropreise zu vermeiden. Gefallen hat ihr Wien, die ersten Wochen mit den neuen Freundinnen, das tägliche Nudeln-Kochen und -Essen und die Happy Hours in Clubs mit Musik, deren Text keine von ihnen verstanden hat. Der Stand vor der Uni mit den Ein-Euro-Reclamheften, die Stunden im Lesesaal „Altes Buch“, die Regentage im Seminarraum und die geschnorrten Zigaretten. Und gefallen hat ihr Georg. Die Sommer in Kärnten mit ihm und seiner Familie, die Zugfahrten in kurzer Hose und heruntergezogener Sonnenblende vor Beginn der Zeitrechnung ihres selbstbestimmten Lebens.

„Es ist so komisch, daran zu denken“, sagt Claudia, „dass es mir doch so gut gehen soll. Dass es uns gut gehen soll. Wir beide haben gut zu essen. Wir beide haben immer schöne Anziehsachen. Wenn ich nachhause komme, habe ich um niemanden Sorge, als um mich. Also klar, es gefällt mir, ich mach das Beste draus“, sagt Claudia, „aber einmal ein vertrautes Gesicht zu sehen, das wäre schön“, sagt Claudia.

„Das glaub ich dir“, sagt Georg.

„Und eine Person, die mich wirklich liebt.“

„Klar, sicher“, sagt Georg.

„Die mich versteht.“

„Ja, verstehe ich“, sagt Georg.

Auf irgendwessen Seite tropft ein Wasserhahn.

„Bitte besuch mich“, sagt Claudia.

Auf irgendwessen Weltseite: ein Martinshorn.

„Ich hab das Geld nicht, Claudia.“

„Ich borg‘s dir.“

Georg wackelt seine Handflächen dem Bildschirm entgegen.

„Nein, nein, nie. Das könnt ich nicht annehmen, ich hasse es in jemandes Schuld zu stehen.“

„Ich lad dich ein.“

Georg lacht nur.

Durch Claudias Nase wandert eine Träne nach oben, kitzelnd ins Augenlid.

„Da borg ich mir noch lieber von meiner Familie was.“

Dass ich dir nach all den Jahren nicht zumindest etwas ähnliches bin, denkt Claudia, aber sie fragt: „Wirst du‘s machen?“

Georg sagt: „Nein.“

Claudias Blick wandert vom Bildschirm in eine unbestimmte Ferne.

„Es wird alles so viel teurer, Claudia, wir müssen an unsere Zukunft denken.“

„Wir sind doch immer ohne Geld ausgekommen, und miteinander ausgekommen.“

Claudia denkt an die Ferien in Kärnten bei Georgs Familie. Kein See unter ihren runzeligen Fingerspitzen je wieder so blau wie dieser eine erste. Jenseits aller Moden durch die Stadt fahren auf Rädern ohne Gangschaltung. Fremde Wörter in der eigenen Sprache lernen und Zucchininudeln essen. Niemand hat von Claudia Geld gefordert, fürs Wohnen oder Essen, nur den Müll zur Tonne tragen hat sie sollen, zwei oder dreimal in der Woche. Georg hat sie dabei immer begleitet und sich für den Vater entschuldigt, als hätte der Claudia nicht ein erstes Stück Zukunft geschenkt mit einer Extramatratze und einem Extrabesteck. Aber das war vor Beginn der Zeitrechnung ihrer selbstbestimmten Leben, vor jeglicher Zeitrechnung der Schuld.

„Schau dir die Welt an, Georg, andere Leute haben so viel weniger als wir. Wir selber hatten einmal so viel weniger, als wir heute.“

„Eben“, sagt Georg.

„Eben“, sagt Claudia.

Georg zählt: Er hat drei horizontale Linien auf den Händen und zwei vertikale. Gesamt sind das zehn Linien unter zehn Fingern.

Claudia zählt: Der Wasserhahn tropft dreimal, dann pausiert er einen Schlag, dann wieder dreimal. Der erste Tropfen klingt höher, als die weiteren zwei.

Georgs Eltern haben nicht über Geld geredet. Manchmal, wie heute, zuckt Georg, wenn Claudia so tut, als wäre Geld wie alles andere, das Menschen besitzen: Konkret; austauschbar. Als hätte das alles keine Bedeutung mehr: Dass Claudia mehr verdient als er, dass die Eltern nicht über Geld reden wollen, dass er und die Frau im Bildschirm tagelang um den Bahnhof gestreunt sind zum Münzen-Klauben, dass die Milchflaschen jetzt sechzig Cent teurer sind, aber das Pfand nicht mehr. Wäre Georg wie Claudia, glaubt er, wäre er Teil dieser Menschheit, die über die andere nur in Formeln spricht. Angst davor keine Angst mehr haben zu müssen. Luxusprobleme, denkt Georg und schämt sich; wir beide haben doch alles was wir brauchen und dazu auch noch immer schöne Anziehsachen.

Claudia kennt diese Stirn. Die beiden Falten, parallel gelegt zu den dunklen Augenbrauen. Sie weiß, dass ihre Bitten vergebens sind.

„Ich vermisse dich, Georg, wirklich.“

Georg sagt: „Ich dich auch.“

Die Schatten der Palmen sind im Dunkeln verschwunden. Morgen werden sie zurück sein, und Claudia unter ihnen der kleinste Mensch der Welt. Manchmal wird sie Zeitung lesen und manchmal aufs Meer schauen, in der Hoffnung, dass es, wenn schon nicht Georg, dann ein Kopfhaar oder eine Hautschuppe von ihm heranträgt. Dass es zumindest in einer anderen Zustandsform ihn schon einmal berührt hat.

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Susanne Schmalwieser

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