freiTEXT | Jane Stone

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Charlotte rauft sich die Haare. Ihr Kinn juckt, wo sich heiße Tränen treffen. Unter ihrer Straßenlaterne beginnt sie, die Schlaglöcher vorm Restaurant zu zählen. American Bar & Grill, est. 1990. Hat drinnen überhaupt jemand gemerkt, dass sie abwesend ist? Schon verzählt. Nochmal von vorne. Der Shot Whiskey gegen die Nervosität und die Zurückweisung brennen gemeinsam. Jeder Augenschlag verdoppelt das Dröhnen in ihrem Schädel. Warum kommt Viktoria nicht nochmal heraus? Mehr wehtun kann sie Charlotte nicht. Wieder verzählt. Es hört nicht auf, Dezember zu sein. In der Hocke zittern ihre Beine. Heute Morgen frisch rasiert für ein schreckliches Kleid. Die Verkäuferin hat es ihr für zu viel Geld aufgedrängt, weil sie ihre unsicherste Kundin hasst und –
Charlotte stößt einen Schrei aus. Etwas schlängelt sich ihre Wirbelsäule hoch, bohrt sich mit einem Stich in ihrem Hinterkopf. Schlagartig steht ihr Körper und läuft mit wackeligen Schritten nach Hause.

Komplette Überforderung. In den ersten Minuten des Menschseins spüre ich jedes Gramm Körpergewicht. Massen an Bewegungen erschlagen mich fast. Allein die Augen umgeben das Prickeln tausender Muskelfasern. Blinzeln nicht vergessen. Wie kann die Nacht hier so grell sein? Man sieht nicht mal die Sterne! Grade prasseln all die körperlichen Instinkte auf mich ein, die ein Mensch zu ignorieren lernt. Das Bedürfnis, fremde Dinge in den Mund stecken. Zu kreischen, bis einem die Luft ausgeht. Zu starren. Zu sabbern. Ich hätte mir die Nase aus dem Gesicht gerieben, wenn ich sie eben nicht ausgeblendet hätte. Ganz tief im Gehirn habe ich mich eingenistet. Dieser wabblige Klumpen triumphiert über die körperliche Hülle.

Am Tag danach wird mir die Schwere meiner so spaßigen Spontanentscheidung bewusst. Unter der Schwerkraft ist alles anstrengender. Die Müdigkeit verschwindet nicht. Der erste Muskelkater schmerzt unaufhörlich. Alles lässt mich daran zweifeln, das für einen Menschen Freude drin ist. Zumindest ein Glück: Es ist Samstag. Dieser träge Körper muss nirgendwo hin. Auf dem Wohnzimmerteppich liegt es sich kratzig. Seit gestern ist das hier meine winzige Wohnung. Eine Ruine aus Staubfäden und dunklen Fusseln finde ich unter der Kommode. Darin lebt eine tote Fliege, die mich bemitleidet. Ohne mein Zutun schlägt das Muskelgedächtnis zu. Handy in meiner Hand. Instagram öffnen. Scrollen bis zum ersten Foto dieser einen blonden Frau. Double tap. Viktoria da. Rotes Herzchen. Viktoria dort. Familienfoto mit Geschwistern, Weihnachten mit hässlichen Pullovern. Grübchen. Warte, was mache ich hier? Die Finger wehren sich, aber mit etwas Nachdruck ist die App gelöscht. Kurz ringe ich mit den Überresten eines Verlangens, dann erkläre ich mich zum Gewinner.

Letzten Juni führte der Chef eine blonde Frau in den Pausenraum, ein höfliches Lächeln in ihrem glühenden Gesicht. Grübchen.
„Ich bin die neue Kollegin, Viktoria. Schön euch alle kennenzulernen. Ich freue mich schon auf gute Zusammenarbeit.“
Charlottes Gedanken rannten ihr davon: Wenn diese Frau hetero ist, werde ich zum schönsten Mann der Welt. Wenn sie nicht an Liebe glaubt, will ich ihre engste Freundin werden. Du bist perfekt. Ich liebe dich.
Fast ließ Charlottes Zunge diesen Eifer in die Welt hinaus. Schnell versteckte sie ihren Mund hinter ihrer Kaffeetasse. Ihr Blick blieb so lange auf Viktoria, wie ihr Schamgefühl es zuließ. Jede Millisekunde genoss sie, kam aus dem Schmunzeln nicht heraus.

Ein Montagmorgen, 7 Uhr. Bequemes Bett. Kein Herzinfarkt oder epileptischer Anfall im Schlaf. Vielleicht sogar ein guter Traum, den ich längst vergessen habe. Jeder Tag überlebt ist ein Erfolg. Ich sollte diesem Körper applaudieren, stattdessen strecke ich meine Hand in Richtung des offenen Fensters. Eine kalte Brise umspielt meine Fingerspitzen. Der frische Geruch der Atmosphäre umarmt mich. Dieser Fetzen Himmel ist blauer als alles, was ich je wahrnehmen durfte. Krähen hallt durch die Straße. Frage und Antwort, hin und her. Letztes Wort in drei tiefen Tönen. Argument beendet. Nur noch ein sporadisches Rauschen von Autos. So fühlt sich wohl der Frühling an. Genau dafür bin ich ein Mensch geworden.

Sonnenstrahlen brauchen acht Minuten, bis sie auf die Erde treffen. Nur eine Kleinigkeit müsste dabei schiefgehen und ich könnte nicht das tiefrote Gewand der Frau wertschätzen, die neben mir sitzt. So viele Gesichter. So viele Orientierungspunkte, an denen wir vorbeifahren. Wie schön Busfahren zur Arbeit sein kann. Die Strecke hat die perfekte Länge, um entspannend zu sein. Der Bus schnurrt unter meinen Füßen. Ich schließe kurz die Augen, sauge das Geräusch ein, bis es verstummt. Nächster Halt. Eine blonde Frau steigt ein. Seit wann fährt Viktoria diese Strecke? Sie hat die Fähigkeit meinem Körper Gedanken zu entwenden und um sich herum kreisen zu lassen. So unangenehm. Den Platz in diesem Kopf brauche ich für mich allein. Ihre Augen blicken in meine. Jede Alarmglocke klingelt. Schnell wende ich mich ab.

Stille im Pausenraum. Nachdem ich die nachlässigen Krümel der Kollegen weggewischt habe, lehne ich an der Theke. Langsam gewöhne ich mich an den Kaffee. Die Tasse wärmt angenehm meine Hand. Der Koffeinkick ist nur ein Bonus. Etwas bringt meine Nase zum Rümpfen.
„Du rauchst wohl immer noch in der Mittagspause.“
Viktoria zieht das Pflaster ab: „Charlotte, gehst du mir mit Absicht aus dem Weg?“
Meine Gegenfrage: „Ist das ein Problem?“
„In letzter Zeit bist du irgendwie… anders.“
Viktoria steht am anderen Ende des Raums, Rücken zum Kühlschrank, in dem immer jemand was vergisst. Ein Schritt Abstand zwischen uns und ihr Blick bohrt dennoch.
„Ich bin eine neue Charlotte. War noch nie glücklicher.“
„Es tut mir leid… wegen dem Korb bei der Weihnachtsfeier“, sprechen Viktorias Schuldgefühle.
So gut es geht verhandle ich für eine Charlotte, die ich nur aus Impulsen kenne:
„Nicht deine Schuld. Um ehrlich zu sein: Als ich dich zum ersten Mal draußen rauchen gesehen habe, war ich schon etwas weniger verliebt.“
Ein Schatten fällt über Viktoria.
„Irgendwie tut es weh, das zu hören. Also war es keine richtige…“
„War nur in die Idee von dir verliebt.“
Eine Idee, die längst zum Wohle der Menschheit begraben wurde. Eine Lücke, in die ich schlüpfen konnte. Viktoria gebührt all mein Dank.
Ihre knappe Antwort: „Dann ist es wohl so.“
Warum klingt sie nicht erleichtert?

 

Jane Stone

 

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