Erinnerungen an Zitronen und Flughäfen

Als das Licht erlischt, wünscht er sich von Herzen, ein Blitz hätte das Haus getroffen. In sehnlicher Erwartung einer höllischen Katastrophe harrt er im Dunklen, harrt vergebens. Nicht mal ein beschissenes Erdbeben. Der Boden unter seinen Füßen teilt sich nicht, nicht ein klitzekleiner Riss. Nichts. Selbst einen Stromausfall, Feueralarm oder bewaffneten Überfall würde er nehmen, aber das Universum verweigert ihm auch das. Nichts will den Lauf der Dinge unterbrechen. Nichts. Nichts. Nichts. Zwischen den Stockwerken gestrandet wie ein Fisch an Land, hört er Holzdielen knarzen, Toilettenspülungen plätschern, Fernseher brüllen, Paare streiten, eine geschundene Seele mit einer Geige kämpfen. Alles wie immer. Leider. Kein Donner. Keine Sirene. Kein brechender Beton. Nichts. Die Einkaufstüte in der Hand zieht ihn in die Tiefe, als wäre sie mit Ziegelsteinen gefüllt.

„Mrs. Kelly!“, stößt er ertappt hervor, als über ihm plötzlich das Licht angeht und die alte Dame vor ihm steht. „How’s the kidney?“. Zu so später Stunde hat ihre Lordschaft aber keine Lust auf Plauderei: „Mr. Lutz, why are you standing in the stairwell? In the dark? At this time?“. Ohne seine Antwort abzuwarten, nestelt die Duchesse of Highsmith, wie sie von den anderen Parteien des Mietshauses in der Highsmith-Street gerne genannt wird, ihre Lesebrille aus dem Etui. „Don’t you feel well?“, bohrt sie nach und mustert ihn streng. Die Situation ist ihr nicht geheuer. So ein Verhalten duldet sie an ihrem Hof nicht. „Something’s wrong? You’re on drugs, son?“. „No, no, don’t be bothered. Everything is fine. No drugs! Not today!“, versichert er mit einem Zwinkern, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er hätte sich bis eben noch gewünscht, eine Naturkatastrophe würde auf das Haus niedergehen und seine Probleme ins Jenseits verschieben. „Way ahead“ und „rough day“ murmelt er zusammenhangslos hinterher und flüchtet eilig die Treppe hinauf, bevor sie nach Sophia fragen kann.

Als er außer Sichtweite zu Atem kommt, die Echos seiner Schritte im Haus verschwinden, bemerkt er, wie idiotisch sein Vorhaben doch ist, wie vollkommen verblödet und verblendet, wie gaga, bescheuert, wie meschugge, lächerlich, albern, wie grunddämlich. Einer neugierigen Rentnerin mag er entlaufen, seinem Hirn nicht. Das kommt erst in Fahrt. Durch das Fenster sieht er die Sterne über dem dunklen Garten aufziehen und das Erlebte zerrt ihn durch die Glasscheibe, hoch in den Nachthimmel, über den Ozean, auf den alten Kontinent. Italien, ihr Baum, alles fällt ihm ein. Das Kopfsteinpflaster, Bologna, die Brunnen, ihr Kleid, der Rotwein, wie sie auf der Dachterrasse liegen, wie Sophia die italienischen Namen der Sterne ausspricht. Croce del Sud. Corona Australe. Idra femmina. Der Weg von der Universität zu ihr. Die Treppe. Die Dusche in der Küche. Das Porträt ihrer Eltern über dem Bett. Der Geruch von Sonnenmilch. Die Madonnen-Statue. Ihr Hals. Das Blitzlicht der Polaroid-Kamera im abgedunkelten Zimmer.

Wie ein Derwisch kramt er das Foto aus der Brieftasche, reißt darauf seinen Kopf aus ihrer Umarmung. Als zelebriere er im Treppenhaus einen Exorzismus, schließt er seine Augen und drückt sich die Fetzen auf die Stirn. Er drückt und drückt und drückt, aber es funktioniert nicht. Er vergisst sie nicht. Er vergisst Italien nicht. Er vergisst nichts. Er denkt er an ihr Gesicht, ihre Sommersprossen, ihre Lippen, an ihre aufgerissenen Augen, als sie in die Zitrone beißt, wie sie hinterrücks von ihrem Ast kracht, wie sie in der Notaufnahme mit Händen und Füßen erklären, was passiert ist und warum eine Zitrusfrucht die Schuld trage. Ihm fallen die Plastikstühle in den grellen Fluren des Krankenhauses ein, der Schokoriegelautomat, die Ventilatoren, die Latexhandschuhe an braungebrannten Händen, das Fußballspiel im Fernseher in der Ecke des Ganges, die blinkenden Monitore, wie sie endlich einschläft, wie er neben ihr Wache hält. Verzweifelt versucht er sich vorzustellen, wie der Baum zwischen den Palazzos der Altstadt in den Himmel wächst, heute andere auf ihn klettern, andere in seinen Wipfeln sitzen und auf die Lichter des Städtchen schauen. Es klappt nicht. Sein Smartphone vibriert.

Im freien Fall stürzt er aus dem Luftschloss durch den Kamin zurück in seinen Körper, zurück ins Treppenhaus. Es ist ihr Festnetzanschluss. Sie ist also noch wach. Sie steht in ihrer Wohnung im siebten Stock und wartet auf ihn. Er stellt sich vor, wie sie oben mit dem Phone in der Hand durch die Küche tigert und von allem, was hier unten in ihm vorgeht, von allem, was mit ihrem gemeinsamen Leben passieren wird, keine Ahnung hat. Panisch streckt er den Kopf über das Geländer, vergewissert sich, dass sie ihn nicht beobachtet. Tut sie nicht. Sie läuft, vermutet er, wie immer das Telefon am Ohr und eine Zahnbürste im Mund vom Bad ins Wohnzimmer, um den Sessel, in die Küche, ins Bad, ins Wohnzimmer, um den Sessel, in die Küche, wieder ins Wohnzimmer, um den Sessel und immer so weiter. Der Empfang reicht nicht bis auf den Balkon und nicht ins Treppenhaus.

Als sie oben auflegt, glotzen ihn unten vier achsoverliebte Augen von seinem Smartphone an. Ist er das? Ist sie das? Als wäre das Gerät plötzlich aus tonnenschwerem Stahl bricht er mit der Last in seiner Hand wie ein Amboss durch die Decke und landet drei Jahre jünger in hohem, buschigen Küstengras. Es dauert damals bis sie dieses Selfie hinbekommen. Der Wind auf der Klippe ist so stark, dass es Sophias Locken vor ihre Gesichter weht. Er erinnert sich, wie die Spitzen in seinen Augen kitzeln, wie sie ihm aus ihren Haaren einen Schnurrbart flechtet, wie Böen ihre T-Shirts zu Luftballons aufblähen. Sie sind zum ersten Mal in Irland, um Weihnachten mit ihrer Familie zu feiern. Die Eltern Judie und David. Lehrerin und Optiker. Drei Brüder. Marvin, Dave, Joshua. Katholiken. Zwei Hunde. Toby und Jake. Golden Retriever Mischlinge. „It’s a wonderful life“ an Heiligabend. „Home alone“ am ersten Weihnachtstag. Bier am Flughafen. Bier im Wintergarten. Bier vor der Messe. Bier zum Lunch. Bier zum Dinner. Bier zum Tee. Er erinnert sich an den permanenten Kater, an ekligen Fisch zum Frühstück, den geschmückten Tannenbaum, das NYSNC-Poster über dem Bett in ihrem alten Kinderzimmer. Sein Smartphone vibriert.

Ein Sturm weht ihn durch die Ritzen in den Mauern zurück in seinen Körper, zurück ins Treppenhaus. Es ist die Mobilnummer. Auf dem Display das Bild aus Amalfi. Sie mit Taucherbrille. Badeanzug. Türkises Meer. Einen Seestern und eine Fanta-Dose in Händen. Wellen, die gegen das Land schlagen. Sonnenbrand. Zimmer mit Klimaanlagenfernbedinungen. Das Herz rutscht ihm in die Magengegend ab wie im Flugzeug, als er die Uhrzeit in der oberen Ecke des Bildschirms liest. In spätestens fünfzehn Minuten wird sie seinen Weg zum Laden abgehen und ihn entdecken. Und dann? Wird er es ihr sagen? Was ist, wenn er sich irrt? Menschen irren sich. Er irrt sich. Ständig. Dauernd. Quasi immer. Warum nicht auch jetzt? In seinem Kopf ist alles wirr und furchtbar und kalt. Seit er unten die Tür aufgeschlossen hat, ist dieser eine fatale Gedanke wie ein Weisheitszahn in sein Bewusstsein durchgebrochen und jetzt bekommt er ihn nicht mehr los. Was soll er tun? Auf den beschissenen Blitz warten? Ein beschissenes Erdbeben? Den beschissenen Feueralarm? Einen beschissenen Überfall? Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts, nichts, nichts wünscht er sich mehr, als dieses Hirngespinst von ihr fern zu halten, zu fühlen, was er fühlen will.

Als er widerwillig in ihr Stockwerk schleicht, wartet sie schon im Türrahmen. Küstenwind, der aus dem Inneren der Wohnung in das Treppenhaus bläst, wirbelt die Locken dramatisch vor ihrem Gesicht auf und ab und hin und her. Sie trägt das Kleid aus Bologna und eine Taucherbrille. Durch die kleinen Bullaugen schaut sie ihn ängstlich an, sagt aber kein Wort. Wie frisch aus der Notaufnahme hat sie einen Arm verbunden. Von der Schulter bis zu den Fingerspitzen reicht der schwere, weiße Gips. Die andere, unverletzte Hand hält eine angebissene Zitrone. Als sein schelmisches Herz unverhofft munter wird, bemerkt er, wie sich Tränen hinter den Brillengläsern sammeln, die Kammern vor ihren Augen langsam volllaufen. Er stellt die Einkaufstasche auf den Boden, heilfroh, dass es nicht gewittert.

 

Stefan Sommer

 

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