Der Klang der Stille

Stille könnte die Lösung sein, absolute Stille. Wenn nur nicht in der Stille, gerade in der absoluten Stille erst diese Androhung von Lärm steckte, in der Stille wächst sogar die Vorstellung eines Geräuschs ins Unerträgliche, zu einem Grad, der denjenigen des realen Geräuschs um ein Vielfaches übersteigt. Das Einschalten der Kaffeemaschine etwa, diese Kakophonie von Schaben, Klicken, Mahlen, Reiben, Zischen: Jede Komponente für sich genommen ein kleiner Stich, zusammen schon richtig schmerzhaft, in der Vorstellung aber die reinste Folter. Das Hoch- und Niederfahren der Sonnenstoren, der Geschirrspüler, unregelmäßige Schritte auf der Treppe, das Öffnen und Schließen der Zimmertüren. Am schlimmsten: menschliche Laute in all ihren Facetten. Wäre es gleichmäßig, permanent, ginge es vielleicht noch an, aber es ist eine chaotische Abfolge der unterschiedlichsten Teilgeräusche – Tausende, Hunderttausende, wahrscheinlich mehr – und jedes reißt mich von Neuem aus der konzentrierten Arbeit. Ich bin an der Buchführung, an einem Bericht, an einer Statistik, da schreit das Baby, meine Frau murmelt beruhigende Worte, extra leise, aber dadurch erst recht störend, es folgen Schritte, das Schließen von Schranktüren, Geschirrklappern, der Wasserhahn. Und selbst wenn es tatsächlich einmal ganz leise ist, warte ich nur auf das nächste Räuspern, Klirren, Rauschen, Klicken oder Scheppern, und wenn sie mir diesen Wahnsinn ersparen und mich in meinem Home Office oben in Ruhe lassen will, dringt zuerst das Rascheln der Jacken und Mäntel zu mir hoch, das Klimpern von Kleiderbügeln an der Garderobenstange, das Zuschlagen von Schranktüren, die Geräusche des Schlüssels im Türschloss, dann Schritte auf dem Kies, Autotüren, das Anlassen des Motors, aber auch dann, wenn ich ängstlich in die Stille lausche, dauert es nicht lange und fremde Kinder lärmen auf dem Trottoir, der Bus rauscht vorbei, ein Auto hupt oder die Müllabfuhr fährt mit unerträglichem Krach vor.
Dabei muss ich funktionieren, muss meinen Job machen, ich brauche Konzentration, muss eins werden mit meinen Zahlen, meinen Abrechnungen, den Konten und Bilanzen. Absolute Stille wäre nur die angstvolle Erwartung der nächsten Störung, außerdem völlig illusorisch. Nein, die Lösung liegt darin, die unregelmäßigen, unkontrollierbaren Geräusche durch gleichmäßige, kontrollierbare zu überlagern, um aus dieser zermürbenden Erwartung neuer Störungen zu kommen. Radio zum Beispiel geht anfänglich ganz gut, dieser immergleiche Strom von inhaltslosem Schwatzen und anspruchsloser Musik. Alle paar Monate optimiere ich die Senderwahl, stoße auf Radio Swiss Jazz, bei diesem Geplänkel dauern immerhin die Stücke länger, aber irgendwann ist jedes Stück fertig, und schon zuvor warte ich verkrampft darauf, dass nach den letzten Tönen die unkontrollierbaren Geräusche in die kurze Leere platzen, dass unten die Tür geht, ein Kind von der Schule kommt, mit Freunden telefoniert, Videospiele spielt. Ich bin zu Hörbüchern übergegangen, dann zu längeren Hörspielen, die haben weniger Leerräume, nach weiteren Jahren zu Opern, zuerst wahllos, Berlioz, Verdi, Mozart, wie sie alle heißen, dann entdecke ich Wagner. Es ist zwar scheußlich pathetisch, und überhaupt mag ich keine klassische Musik, aber eine Wagneroper hält mich fünf Stunden an der Arbeit, die Berichte und Auswertungen fließen nur so aus mir heraus, ja letzten Endes hat bei der ersten Restrukturierung Richard Wagner wohl meinen Arbeitsplatz gerettet.
Die Chefs oben sind nämlich zufrieden mit meiner Leistung, aber ich weiß, das reicht nicht, ich muss noch produktiver sein, die nächste Restrukturierung kommt, ich muss mehr tun als ich müsste, darf mich nicht ablenken lassen, gar nicht, nie. Nun ist es nicht so, dass die Wirkung eines einmal gewählte Klanghintergrunds über Monate andauert, nein, sie nutzt sich ab, mit der Zeit weiß man intuitiv, wo die Pausen sind, und schon wartet man ängstlich darauf, dass gerade dann eines der Kinder mit dem Wagen vorfährt, mit Partner und Kleinkindern unten Lärm macht, dass die Frau Freundinnen bewirtet, der Postbote klingelt. Immer müssen neue Lösungen her. Ich gehe kaum mehr nach unten, ich kann mir diese Auszeiten nicht mehr leisten, dafür bin ich mit den Jahren aber auch immer besser geworden, meine Berichte lassen keine Beanstandung zu, die zweite und dritte Entlassungswelle schwappt über mich hinweg, viele werden entlassen, ich bleibe. Entdecke irgendwann Youtube-Videos, auf denen stundenlang ein bestimmtes Musikgenre abgespielt wird, Hintergrundmusik für Hörspiele oder Filme: 10 Stunden Horrormusik, 15 Stunden Flamenco-Gitarre, ohne Unterbruch, das ist herrlich, ich steigere meine Effizienz gleich nochmals, werde mit über fünfzig sogar befördert, habe dadurch noch mehr zu erledigen, muss noch mehr Zeit für die Geräuschbewältigung investieren. Denn mit den Videos ist es nicht etwa einfacher geworden: Man muss sie zuerst finden, probehören, herunterladen, die Internetverbindung könnte ja mal abbrechen und man wäre dann dem ganzen Klangdschungel schutzlos ausgeliefert. Außerdem gibt es immer noch Steigerungspotenzial: Von den musikalischen Klangteppichen bin ich auf Geräusche gekommen: 15 Stunden Brandung, Wellen und Möwen, 12 Stunden Alpen mit Kuhglocken und dem Wind in den Tannen, Waldgeräusche in Endlosschlaufe, 10 Stunden fahrendes Auto, 12 Stunden das gleichmäßige Geräusch einer Waschmaschine. Ich nähere mich der Perfektion, auch wenn ich nur noch wenige Jahre arbeiten muss.
Dabei ist es mittlerweile im Haus selbst immer still. Seit die Kinder studieren oder selbst schon zu wichtigen Rädchen in der Maschinerie der Berufswelt geworden sind, seit sich auch meine Frau für ein neues Leben entschieden hat, könnte ich grundsätzlich wieder nach unten gehen, ich könnte sogar unten arbeiten, aber wenn der Ort einmal durch jahrzehntelangen Lärm infiziert ist, bleibt die Erinnerung und die Stille ist nur die Androhung weiteren Lärms und damit weit zerstörerischer als der Lärm selbst.
Wenige Tage vor meiner Pensionierung stoße ich auf ein neues Video: 10 Stunden Alltagsgeräusche eines Haushalts mit Kindern. Damit mache ich weiter, sobald ich offiziell im Ruhestand bin, man kann ja ohnehin nicht einfach aufhören.

 

Marc Späni

 

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