Als die Leiter fiel

Der erste Fall von der Leiter geschah Mitte August. Niemand hätte es vorhersehen können außer die Person, die fiel, und das war der Vater. Er stieg mit klobigen Straßenschuhen auf die Leiter, holte etwas aus der Kammer oberhalb der Garage, ließ den Gegenstand von oben auf die Wiese plumpsen und stieg dann verkehrt von der Leiter. Auf einer der unteren Sprossen blieb er mit dem Absatz seiner Schuhe hängen, sprang ab und landete mit Kopf, Händen und Knien auf den unebenen Fliesen. Er richtete sich mühevoll auf, hielt eine Hand an den Kopf, die andere ans Knie, beide waren blutig. Geht schon, dachte er sich und holte die Gartenschere aus der Garage. Auf dem Rückweg in den Garten tropfte schon Blut von der Stirn übers Kinn auf sein Arbeitshemd. Papa, was ist los?, rief der Sohn, als er ihm begegnete. Und da war es schon geschehen. Der Vater klappte auf dem Rasen zusammen. Ruf den Notarzt!, rief der Sohn zum Nachbarn, der zu Gast war, schnell!

Geht schon, sagte der Vater wieder bei Bewusstsein, als der Notarzt eintraf, aber der Sohn hielt ihn auf dem Boden. Geht nicht, sagte der Arzt dann, Sie haben eine Platzwunde am Kopf und Abschürfungen auf Händen und Knien, Verdacht auf Gehirnerschütterung, wir nehmen Sie jedenfalls mit. Alle Beschwörungen des Vaters gingen ins Leere. Es sei alles nicht so schlimm, er sei nur von der Leiter gehüpft, weil es nicht anders ging, es sei ja eigentlich nicht viel passiert, jeden Tag fallen Leute von der Leiter. Der Notarzt hörte ihn an und bereitete dann die Liege vor, denn beim Aufstehen schwankte der Vater ordentlich.

Die Tochter war gerade auf der Autobahn unterwegs, als der Bruder anrief. Der Papa ist umgekippt!, sagte er, wir fahren ins Landesspital. Was passiert sei, wollte sie fragen, aber da war die Leitung tot, und sie dachte: Schlaganfall oder Herzinfarkt. Sie änderte die Route und fuhr geradewegs zum Landesklinikum. Die Fahrt dauerte quälend lange. Und der Bruder war nicht mehr zu erreichen.

Die Rettung brachte den Vater in die Notfallambulanz des Landesspitals. Er wurde geröntgt und genäht und sollte zur Beobachtung über Nacht bleiben. Die Tochter stürzte herein, als der Vater die Dokumente entgegennahm. Auf seinem Gesicht lag ein mildes Lächeln, und der Bruder sagte erleichtert zu seiner Schwester: Fast nichts passiert!, worauf der Vater entgegnete: Hab ich doch gesagt!

Am nächsten Tag wurde der Vater entlassen. Verkrustetes Blut überzog einen Teil der Stirn und auch Arme und Beine. Ich bin komplett schmerzlos, sagte der Vater wie zum Spaß zur Mutter, die ihn besucht hatte. Die Mutter rügte ihn mit Blicken und Worten. Wie so etwas passieren könne, rückwärts die Leiter heruntersteigen, herunterspringen! Man müsse auf ihn aufpassen wie auf ein Kind. Sie verließ das Wohnzimmer und holte aus dem Medizinschrank Ringelblumensalbe. Dann sagte sie zu ihm: Dass du sie auch verwendest!

Einen Tag später taten sich Mutter und Sohn zusammen und verräumten die Leiter umständlich in der Garage. Auf die an der Wand befestigte Vorrichtung steckten sie zusätzlich zur Leiter Ketten und Seile, davor stellten sie den Rasenmäher und die Autoreifen. Als die Mutter vorschlug, sie könnten die Leiter versperren, antwortete der Sohn: Der Papa ist erwachsen. Es vergingen einige Tage, ehe der Vater wieder ordentlich hantieren konnte. Bald wurden die Nähte gezogen und die Abschürfungen schienen gut zu verheilen. Nicht kratzen!, ermahnte der Sohn den Vater, wenn er an den Krusten kratzte. Dann erheiterte der Vater sich zu sagen: Das weiß ich schon.

Bald bekam die Tochter von der Mutter einen Anruf. Sie lebte in der Stadt und war nur alle Zeiten mal am Land. Im Grunde konnte man sagen, sie hatte sich vollkommen von ihrer Familie emanzipiert. Die Mutter trug vorwurfsvoll vor, was sie über die Verhältnisse zu sagen hatte. Dass der Vater meistens ganz allein sei, dass sie zu selten nach ihm sehe, dass es gar nicht hätte passieren dürfen, dass der Vater von der Leiter fällt. Die Tochter hörte sich das an und antwortete, dass das nicht in ihrer Macht stehe.

Bald war der Vater wieder fit. Er setzte gemeinsam mit dem Gärtner Blumen, grub Wurzeln verdorrter Bäume aus, montierte einen Sichtschutz am Maschendrahtzaun. Er war ganz in der Tat. Anfang September stieg er zum ersten Mal seit seinem Unfall auf die Leiter. Mühevoll hatte er sie aus der Garage hervorgeräumt, geputzt und aufgestellt. Zur Demonstration seiner Gesundheit hatte er den Nachbarn bestellt, der ihm zusah, als er die Leiter erklomm. Von oben winkte er herab, und der Nachbar sagte händeringend: Seien’S bloß vorsichtig! Kaum war er wieder am Boden, lachte er wie ein Kind, das sich freut, eine Aufgabe gemeistert zu haben. Alles halb so schlimm, sagte der Vater.

Als er zum zweiten Mal von der Leiter fiel, war der Vater allein. Er platzierte die Leiter an einer anderen Stelle der Hausmauer, um die Satellitenschüssel zu justieren, denn der Fernseher hatte ausgesetzt. Als er ganz oben war, überkam ihn Schwindel. Er hielt sich fest, aber trotzdem schien sich alles zu bewegen. Er bemühte sich, so schnell wie möglich herunterzusteigen, und dann, fast war er da, stürzte er rücklings auf die Wiese. Wie eine umgedrehte Schildkröte lag er auf dem Rücken, die Wiese war hart und hatte den Sturz kaum abgefedert, und als er aufstand sagte er sich, wie immer, wenn etwas passiert war: Nichts passiert!

Am Wochenende kam die Familie zusammen. Der Vater saß mit steifem Rücken auf der Wohnzimmer-couch und trank seinen Kaffee. Die erste, die Verdacht schöpfte, war die Mutter. Sie beobachtete ihn einige Zeit, und dann sagte sie nicht ohne Vorwurf: Warst du wieder auf der Leiter? Der Vater verneinte, wie man eine Frage verneint, die man nicht gestellt bekommen will. Wortlos ging die Mutter hinaus und holte die Kette aus der Garage und das Vorhängeschloss vom Gartentor. Damit kettete sie die Leiter an die Winterreifen. Genauso wortlos setzte sie sich zurück ins Wohnzimmer.

Als er im Laufe des Nachmittags in die Garage kam, entdeckte der Vater die angekettete Leiter. Er stand einen Augenblick da und betrachtete das Werk. Dann griff er in die Schlüsselschublade, in der sich alle Zweitschlüssel des Haushalts befanden, probierte mehrere von ihnen, bis einer passte und machte die Leiter frei. Bald stand sie wieder an der Wand, fern von Satellitenschüssel und anderen Gründen, auf eine Leiter zu steigen.

Er hielt Ausschau und entdeckte hinter dem Fenster, über das die Leiter reichte, seine beiden Kinder. Sie standen einander gegenüber. Der Sohn schien etwas zu erzählen, über das die Tochter schon erwartungsvoll lachte. Dann lachten beide. Und dann lagen sie einander vor Lachen in den Armen. Der Vater war versucht, ebenfalls zu lachen, aber es blieb bei einem Lächeln. Mit Bedacht stieg er auf die Leiter, er hatte wieder die Straßenschuhe an und das Arbeitshemd mit rosa Flecken auf Brust und Bauch, in Richtung der Schwerkraft, dachte er, als er an sich herabblickte. Dann hörte er die Terrassentür, und im selben Moment rafften seine Kinder im Haus die Vorhänge und blickten ihn ungläubig durchs Fenster an. Es ist die Zeitspanne, in der man versucht, aus der gegebenen Information Schlüsse zu ziehen, und, kann man es nicht, zu handeln, ganz gleich, ob es hilft oder nicht. Die Mutter stürzte in den Garten, die Kinder öffneten die Fenster und versuchten den Vater wie die Feuerwehr von der Leiter ins Haus zu hieven. Indes stand die Mutter hilflos vor der Leiter, schrie, wedelte mit den Armen, flehte den Vater an, er möge herabsteigen. Aber der Vater stand mit einer Festigkeit und Sturheit auf der Leiter, knapp eineinhalb Meter über dem Boden, und ließ sich nicht bewegen, auf den Boden zu kommen. Stattdessen lächelte er seiner Familie wie aus einem Passfoto entgegen und umklammerte die Leiter umso mehr.

Zuerst hielt die Tochter inne. Ruhig stand sie am Fenster und schaute ihren Vater an. Sie sah die Furchen auf der Stirn, die jetzt geglättet waren, das arglose, halb schadenfrohe Lächeln, das sie manchmal selbst nach dem Zähneputzen aufsetzte. Was wollte der Vater sagen?, fragte sie sich. Da hielt auch er Bruder inne und blickte sie an. Die Mutter hatte sich inzwischen in die Hosenbeine des Vaters verkrallt und versuchte ihn unter noch größerer Gefahr auf den Boden zu ziehen. Aber still war es geworden. Die Kinder schwiegen und der Vater stand unverändert starr und wortlos auf der Leiter. Die Mutter schnaufte, hing mit den Fingern noch an der Hose, kämpfte mehr mit sich selbst, als mit dem Vater, und letztlich, als sie auf den Boden plumpste, musste sie einsehen, dass es allein dem Vater oblag, von der Leiter herunterzukommen oder nicht.

Die Fenster wurden geschlossen. Der Vater stand noch einige Zeit auf der Leiter, aber ohne Publikum macht auch das größte Kunststück keinen Spaß. Er drehte sich um hundertachtzig Grad, nahm Sprosse um Sprosse, sprang von der letzten ab und landete sicher er auf dem Rasen. Im nächsten Augenblick sauste die Leiter an ihm vorbei und fiel klirrend auf die Wiese. Nichts passiert!, dachte sich der Vater heiter und saß bald wieder auf der Wohnzimmercouch.

 

Lisa Gollub

 

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