In den Plakatiefen – Tyoko, 2002
Jedes Mal, wenn ich durch das Fenster meines Hotelzimmers schaue, sehe ich diese riesige Reklametafel. Japanische, weiße Lettern auf karminrotem Hintergrund, darunter eine lächelnde Frau mit einem beschlagenen Glas Bier. Die Plakatbahnen sind ausgebleicht, obwohl die Sonne der Gasse vor dem Hotel nie einen Besuch abstattet. Auch Menschen kommen keine vorbei. Es ist, als hätte jemand dieses Plakat nur für mich dort aufgehängt, vor Jahren schon, und als hätte es hier seitdem auf mich gewartet. Seine untere rechte Ecke hebt sich sachte von der Tafel ab, wie bei einem Abziehbildchen. Jeden Tag ein bisschen mehr.
Auf meinen Reisen in den letzten Jahren habe ich so etwas wie einen Tick entwickelt. Ich kann Städte, sobald ich sie einmal besucht habe, nicht mehr beim Namen nennen. Die Diskrepanz zwischen dem Namen – seinem Klang, seiner Form, seinem Charakter – und der Stadt selbst ist einfach zu groß und wächst mit jedem weiteren Schritt auf ihren Straßen nur mehr. Ein Germanistensohn hat mir mal erzählt, dass er unter der gleichen Störung gelitten habe und darum alle Schriften Saussures aus der Privatbibliothek seines Vaters während eines rituellen Brandopfers vernichtet habe. Seitdem seien Signifikat und Signifikant bei ihm wieder deckungsgleich. Für mich ist das aber leider keine Lösung. Zu einer Bücherverbrennung kann ich mich einfach nicht durchringen, selbst wenn es nur die Grundlagen der germanistischen Linguistik in der dritten Auflage sind. Die Chance auf Veröffentlichung meiner Reiseberichte schmälert dies ungemein.
Während meiner Streifzüge durch Shin-Okubo sehe ich in den Schaufenstern von Lokalen häufig Nachbildungen von Essen. Kunstfertige Skulpturen aus Wachs, zubereitet in einer komischen Küche. Sie erzählen mir Geschichten von dampfender Ramen, deftiger Gyuudon und knusprigem Tempura und ehe ich mich versehe, sitze ich in einer Seitenstraße in einem Tonkatsu-Restaurant. Die Kellnerin bringt mir erst einen warmen, feuchten Lappen, dann fragt sie etwas auf Japanisch. Ihre Stimme klingt wie die einer Nachrichtensprecherin. Klar und aufgesetzt und furchtbar unpersönlich. Ich nenne ihr die Nummer eines Tonkatsu-Gerichts aus dem Schaufenster und bestelle zusätzlich eine Flasche Ramune, weil in den Flaschen dieser Limonade eine Murmel eingelassen ist Die Kellnerin nickt und lächelt, so als meinte sie es. Wenig später stellt sie die Bestellung vor mir ab und ich kann es kaum fassen. Das Gericht hat nichts, aber wirklich gar nichts mit der Wachsskulptur im Schaufenster zu tun. Reiskörner und Panko sind völlig anders angeordnet, weißes Schweinefleisch lugt durch Löcher in der Panade hervor und die Soße wird durch Reflektionen des Deckenlichts verunreinigt. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Eine Frechheit, mir so etwas vorzusetzen. Belogen und betrogen verlasse ich das Restaurant. Nur die Flasche Ramune lasse ich dabei mitgehen.
In Kabukicho stehe ich vor der Ladenfront eines Adult Video Stores. Ein verführerisches Reich verpixelter Erotik. Ich versuche gerade, das Geschäft mit meiner Polaroid einzufangen, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legt. Ich zucke zusammen. Es ist eine große Hand und sie gehört einem ebenso großen Mann.
How do you want to spend your night, man?
Er grinst breit. Seine Zähne sind unwirklich weiß. Mit einer theatralischen Geste klappt er vor meinen Augen einen Katalog auf. Die Doppelseite ist gespickt mit Fotos wunderschöner Frauen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die ersten japanischen Fotografen es schwer hatten, Kundschaft zu finden. Die Japaner glaubten damals nämlich, fotografiert zu werden würde ihnen einen Teil ihrer Seele stehlen. Gefährlich exotistisches Halbwissen? Kann gut sein. Bisher hatte ich das auch immer als Aberglauben abgetan. Doch beim Betrachten der Mädchen in diesem Katalog kann ich die Angst zum ersten Mal nachvollziehen.
Do you want to have a good time tonight?
Er grinst noch breiter als zuvor und ich seufze. Eine perfide Frage, wirklich gewieft. Natürlich möchte ich eine gute Zeit haben, wer denn nicht? Ich bejahe seine Frage, denn sonst müsste ich lügen.
Wir gehen unter einer surrenden Neonreklame hindurch in eine schmale Gasse, passieren eine ratternde Lüftungsanlage, aus der uns der Geruch von altem Fett entgegenkommt, und ein paar längst vergessene Müllsäcke. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt ein Messer zückte, um mich meiner Habseligkeiten zu berauben. Oder mich zu einem Bankautomaten führte, um dort gleich mein ganzes Konto zu räumen. Soll’s geben hier, hab ich gehört. Doch er tut nichts davon und dafür bin ich ihm recht dankbar. Über eine Treppe aus Edelstahl erreichen wir schließlich einen Laubengang. Nichtssagende Türen führen – vermute ich – in umfunktionierte Apaatos. Hin und wieder meine ich hören zu können, wie jemand dahinter eine good time hat. Fast am Ende des Ganges öffnet der Mann schließlich eine der Türen und deutet mir, ich solle eintreten. Ich folge seiner Anweisung, er bleibt auf dem Gang und schließt hinter mir die Tür.
Der Raum ist nahezu würfelförmig. Da steht ein Bett in westlichem Stil in der einen, ein Mülleimer in der anderen Ecke. Eine Tür führt in eine rudimentäre Nasszelle. Eine Neonreklame wie die von vorhin hängt direkt neben dem Fenster und wirft alles in ein rotes Licht. Auf dem Bett sitzt die Frau aus dem Katalog, ich setze mich zu ihr und sie sich auf mich. Prostitution ist in Japan illegal. Wir bewegen uns hier rhythmisch in einer rechtlichen Grauzone. Schenkelsex nennt sich das, Sumata. Ich schaue zu ihr hoch und sie sieht tatsächlich haargenau so aus wie im Katalog. Wenn ich sie mit einem Chotto kurz unterbrechen, ein Auge zukneifen und das Foto zwischen uns halten würde, dann könnte ich wohl nicht erkennen, wo Abbild aufhört und Wirklichkeit beginnt.
Als ich fertig bin, liegen wir noch etwas nebeneinander, weil ich für zwanzig weitere Minuten bezahlt habe. Wir schweigen. Kurz vor Schluss dreht sie sich noch einmal zu mir, formt mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund und sagt:
Ha!
Verdutzt starre ich sie an. Sie erklärt in gebrochenem Englisch, dass sie schauen wollte, ob ich echt sei.
Und?, frage ich.
No echo, sagt sie und schüttelt den Kopf. Real.
Ich verlasse das Zimmer, als gäbe es mich.
Vor der Kühlschrankwand eines Konbini leuchten mir Flüssigkeiten in allen Farben des Regenbogens entgegen. Ich bin kurz davor, mir ein Strong Zero zu greifen, als ich im Augenwinkel sehe, wie sich eine junge Frau ein Asahi nimmt. Der folgende Moment verläuft wie in Zeitlupe. Ihr wallendes Haar im Wind des Deckenventilators, das perlende Kondenswasser an der Bierdose, das befriedigende Zischen, als sie die Dose öffnet, das Gluckern ihrer Schlucke und dann dieses wahrhaftige, fast schon laszive Stöhnen. Ich merke: Das ist es, was ich brauche. Genau jetzt, genau hier. Ich reiße die Tür des Kühlschranks auf, eine Dose Asahi an mich und stürme erst zur Kasse, dann nach draußen. Mit einer unbändigen Lust steige ich aus der klimatisierten Luft des Konbini in die schwüle Nacht Tyokos hinaus. Die Dose zischt nicht, als ich sie öffne. Enttäuscht trinke ich einen Schluck. Schmeckt genauso beschissen, wie ich es in Erinnerung habe.
Als ich am Morgen endlich in die Gasse vor meinem Hotel einkehre, geht die Sonne gerade auf. Zu dieser Uhrzeit, für ein paar Minuten zumindest, scheinen ihre Strahlen doch auf die Reklametafel zu fallen. Von einem Fenster reflektiert, das ewig gekippt ist. Frau und Bier sind fort, zusammen mit dem Rest des Plakats. Vielleicht hat es jemand abgezogen. Vielleicht hat es sich selbst abgelöst. Jetzt klafft nur noch ein rechteckiges Loch in der Fassade. Ich steige hinein und stelle fest, dass das Gebäude innen vollkommen hohl ist. Mit den Händen forme ich einen Trichter vor meinem Mund und rufe in die Leere hinein:
Ha!
Das Echo klingt, als lachte es mich aus.
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