Die Kreiselegge

Ein Spaziergänger kam an einem Feld entlang und sah einen Mann am Rand des Ackers quer zur Pflugrichtung rücklings am Boden liegen. Seine Kleider waren zerrissen, und die Haut war aufgeschürft und zerkratzt. „Was ist passiert?“, fragte der Spaziergänger. „Nichts“, sagte der Mann, der am Boden lag. „Nicht viel jedenfalls. Ich habe das Feld bestellt und bin dabei nicht weit gekommen.“ „Und warum liegst du da?“ „Ich sagte dir doch, ich wollte den Boden für die Aussaat vorbereiten. Und bei der Arbeit bin ich unter die Egge geraten.“ „Aber du kannst doch da nicht liegen bleiben“, sagte der Spaziergänger. „Warum denn nicht?“ „Wenn es regnet, wirst du nass, in der Nacht ist es zu kalt, und wenn die Sonne brennt, wirst du geblendet. Außerdem staubt es dann zu sehr. Ich werde dich unter deinem Arbeitsgerät hervorholen.“ „Tu das nicht“, sagte der Mann, der am Boden lag, „Ich habe mich schon vor langer Zeit zwischen den Zinken eingerichtet und eine Position gefunden, in der sie mir nicht weh tun können. So lässt es sich aushalten, wenn ich mich nicht bewege. Ich spüre nicht mehr, dass ich nass werde. Ich spüre nicht mehr die Kälte, und ich werde auch nicht geblendet. Ich liege schon zu lange hier. Der Regen wäscht mich, die Sonne wärmt mich, die Nacht deckt mich zu. Geh einfach weiter. Ich habe mich mit meiner Situation abgefunden, also finde du dich auch damit ab.“

Der Spaziergänger aber blieb weiter stehen und sah auf den Mann hinunter und überlegte, wie er ihn am besten aus den Krallen dieses Gerätes herauslösen könne. „Denk gar nicht erst darüber nach“, sagte der Mann am Boden. „Wir wollen alles dabei belassen, wie es ist.“ Der Spaziergänger ließ nicht locker, machte einige Schritte nach vorn und sank in die weiche Erde des Ackers ein. „Komm nicht näher. Vergiss es.“ „Doch. Ich will dir helfen, und ich werde dir helfen. Ich kann dich doch so nicht zurücklassen“, sagte der Spaziergänger und ruckelte an dem Bodenbearbeitungsgerät herum. Der Mann am Boden unterdrückte einen Schrei. „Jetzt hast du mich geschnitten.“ Er deutete auf den Blutfaden, der seitlich an seiner Hüfte herunterrann und in die Erde tropfte. „Ich sagte dir doch, du sollst weitergehen. Lass mich in Ruhe. Die Zacken sind eingerastet. Sie lassen sich nicht von der Stelle bewegen. Du kannst nichts dagegen tun. Und ich, ich kann es aushalten in dieser Position, wenn ich mich nicht rühre. Du kannst mir nicht helfen.“ Der Spaziergänger aber gab keine Ruhe und beharrte darauf, den, der am Boden lag, aus den krakenähnlichen Griffen des Gerätes zu befreien. Er dachte, wenn ich all meine Kraft aufbiete, kann ich es beiseite bewegen. Und er griff mit den Händen fest zu und biss die Zähne aufeinander und zog und zerrte, und je mehr er zog und zerrte, desto mehr bohrten und gruben sich die Zinken der Kreiselegge in den Körper dessen, der am Boden lag, und rissen das Fleisch von seinen Knochen. Als der Spaziergänger das Gerät endlich ein Stück beiseite geschoben hatte und sah, dass von dem Mann fast nichts übrig geblieben war, setzte sich die Egge langsam in Bewegung und kam auf ihn zu.

Kerstin Nethövel

 

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