Herr Pechmann

Ich beginne und beende meine Stunden auf die Minute genau. Nur mit Herrn Pechmann überziehe ich immer. Er hat einen schönen Mund und eine angenehme, tiefe Stimme, der man gerne zuhört.

„Ich glaube, ich bringe Unglück“, sagt er. „Wenn ich jemanden mag, dann wird die Person schwer krank oder hat einen Unfall und stirbt. Das war bei meinen Eltern so, bei meiner letzten Freundin und bei drei Arbeitskollegen, mit denen ich mich gut verstanden habe. Ich will nicht, dass das wieder passiert. Darum habe ich mich von allen abgekapselt. Manchmal vergehen Monate, ohne dass ich mit jemandem spreche.“ Herr Pechmann beginnt zu weinen. Er ist ungefähr in meinem Alter und ein wenig abgemagert, wodurch seine markanten Wangenknochen schön zur Geltung kommen.

„Ich hätte gerne Freunde. Zumindest einen – aber was, wenn dann wieder etwas Schlimmes passiert?“

Frau Hammer ist meine nächste Patientin. Sie ist Anfang zwanzig und geht in Wahrheit nur in Therapie, weil das gerade alle ihre Freundinnen machen. Sie hat eine nazistische Persönlichkeit, aber keine richtigen Probleme. Sie erzählt mir von Männern, die sie wollen, aber die sie nicht will. Dass sie Wirtschaft nur studiert, weil ihre Eltern das wollen. Dass sie am liebsten nach Bali auswandern und Yogalehrerin werden würde.

Ich lasse sie reden. In Gedanken bin ich bei Herrn Pechmann. Er ist seit sechs Wochen mein Patient. Schritt für Schritt zeigt er mir mehr von seinen Narben und was sich darunter verbirgt.

Würde ich daran glauben, dass es Seelenverwandte gibt, dann wäre Herr Pechmann meiner. Ich verstehe ihn. Auch ich lasse seit Jahren niemanden an mich heran, um nicht enttäuscht zu werden.

„Er macht die Tür nicht zu, wenn er aufs Klo geht. Ich glaube, ich werde mich nicht mehr bei ihm melden“, sagt Frau Hammer. Ich nicke.

Herr Pechmann sagte vorhin, dass Mittwoch der schönste Tag der Woche für ihn ist, weil er da zu mir kommen kann. Er spürt die besondere Verbindung, die zwischen uns ist.

„Es gibt da eine Frau, mit der ich gerne ausgehen würde“, sagt er bei der nächsten Sitzung. „Aber ich trau mich nicht, sie zu fragen.“

Mir wird heiß, ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

„Warum nicht?“

„Vielleicht sagt sie nein.“

„Vielleicht sagt sie auch ja.“

„Ich will nicht zurückgewiesen werden.“

„Ich glaube nicht, dass sie das tun würde.“

„Dann ist es offensichtlich, wen ich meine?“

Ich nicke.

„Und Sie glauben, dass ich bei Mia eine Chance habe?“

Ich sehe ihn irritiert an.

„Ich meine die Patientin nach mir.“

„Frau Hammer?“, frage ich und erschrecke mich selbst über meine schrille Stimme. Er nickt.

„Wir unterhalten uns hin und wieder im Wartezimmer.“

Ich kenne Frau Hammer gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht für ihn interessieren wird. Sie ist viel zu wählerisch.

„Versuchen Sie’s doch einfach.“ Ein gebrochenes Herz ist immer ein guter Gesprächsstoff.

Wir sprechen alles im Detail durch. Zwischen uns gibt es keinen Filter, durch den seine Worte gezogen werden. Er sagt mir gerade aus dem Bauch heraus, was er denkt. Ich bin die Einzige, mit der er so spricht, die Einzige, die sehen kann, wie kaputt er wirklich ist. Mia weiß nichts von seiner Einsamkeit und seinen Verlustängsten. Wüsste sie davon, hätte sie sich nicht mit ihm getroffen.

„Zum Schluss hab ich sie geküsst“, sagt er und blickt daraufhin zu Boden. „Zu mehr war ich nicht bereit.“

Ich atme erleichtert auf, sage, er soll sich nicht unter Druck setzen.

Ich bin mir sicher, dass sie bald das Interesse verlieren wird, so wie sonst auch. Dennoch gebe ich ihm eine Reihe von schlechten Ratschlägen.

„Ich glaube, ich mag ihn“, sagt Mia zwei Wochen später.

„Und es gibt nichts, was Sie an ihm stört?“, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf.

„Auch nicht der Altersunterschied?“

„Nein.“

„Und seine introvertierte Art?“

„Nein.“

„Gut“, sage ich. Dann frage ich, wie es auf der Uni läuft. Geht so, sagt sie. Sie hat Stress, weil sie eine wichtige Prüfung nicht bestanden hat.

Ich verschreibe ihr Medikamente mit starken Nebenwirkungen. Dazu gehören Gewichtszunahme und Depression. Niemand mag jemanden, der dick und schlecht gelaunt ist.

Herr Pechmann sagt mir, wie toll ich bin. Ohne mich hätte er sich nie mit Mia getroffen.

Er sagt: „Ich war schon lange nicht mehr so glücklich.“

Und dann: „Ich möchte die Therapie beenden.“

Ich denke: Jetzt dreht er durch.

Ich schnappe nach Luft, strenge mich an, die Fassung zu bewahren. Er ist krank, er weiß nicht, was er sagt.

„Ich kann die Therapie doch beenden, oder?“

Ich merke, wie ich schneller atme. Das ist die Panik, die in mir hochkriecht. Ich blinzle, hoffe, dass er die Tränen in meinen Augen nicht bemerkt.

„Selbstverständlich, Sie sind freiwillig hier.“

Unfassbar, wie schnell man den Verstand verliert, wenn es einem gut geht.

Frau Hammer hat ein wenig zugenommen. Trotzdem ist sie eine junge, hübsche Frau. Sie begreift gar nicht, wie gut es ihr geht. Denn obwohl sie jetzt einfach mit Herrn Pechmann glücklich sein könnte, sagt sie: „Ich fühle mich in letzter Zeit nicht gut.“

Da sage ich: „Ich kann Ihnen nicht mehr helfen. Sie sind seit drei Jahren bei mir und wir machen keine Fortschritte. Es ist besser, Sie suchen sich eine neue Therapeutin.“

Damit hat sie nicht gerechnet.

„Vielleicht brauche ich mehr Medikamente?“

Ich sage, ihre Medikamente wären schon stark genug.

Sie will fragt, was sie hat, Depression, Borderline oder vielleicht noch etwas Schlimmeres.

„Ich weiß es nicht“, sage ich und schicke sie vor die Tür.

Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Aber ganz unfroh bin ich nicht.

Herr Pechmann schluchzt. Ich verstehe nicht alles, was er sagt. Ich höre nur Krankenhaus und zu viele Tabletten. Sie ist nicht gestorben, aber fast.

Ich setze mich neben ihn und lege meine Hand auf seine.

„Haben Sie Mia schon besucht?“

Er schüttelt den Kopf.

„Das ist meine Schuld. Ich halte mich lieber von ihr fern, damit ihr nicht noch was passiert.“

Ich stimme ihm zu. Dann vereinbaren wir die nächste Sitzung.

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Carolina Reichl

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