„Versammelte Momente, in sich bewegt, zum Großen zum Kleinen.“
(Friederike Mayröcker)
Oh Day!
Es beginnt zum Wochenend, when wochn finds an end, wie vieler Zufälle (des Suchens) hat es bedurft, sehe ich im Garten, ganz hinten, wo ein Zipfelchen Erde liegt, einen blassen Pfau durch das hohe Gras umherirren. Es scheint, als hätte man seinem Gefieder das Leuchten nicht beigefügt. Er vermeidet jeden Augenkontakt, obwohl er von meiner Anwesenheit doch Kenntnis nimmt. Dauernd blickt er dünkelhaft umher. Angesichts meiner Rachsucht rührt mich das wehrlose Moos auf der Mauer. Ringsum verlangsamt sich alles. „Endlich ein unschöner Pfau“, denke ich.
In einem französischen Dorf, am Rand dort ein Haus, darin die Wohnung, in der Wohnung das Wohnzimmer, wo in der Ecke das Sofa, auf welchem ich herniedersinke. Manchmal möchte ich befreit sein von all der Musik, die ich gehört habe, möchte ganz getrennt sein von meinen modernen Ohren und anderswo, in einem kleinen Sitzbett des 18. Jahrhunderts womöglich, die Musik, vielleicht Bachs Cello-Suiten, unvoreingenommen, vernehmen. Diese zu hören, ohne die gegenwärtigen Klänge je gehört zu haben, ohne die Radios, in den Küchen und den Autos, gekannt zu haben. Befreit zu sein von der Last der Musik meiner Zeit, die ich schon gehört (déjà-écouté). Der Wunsch nach Unerhörtem! „Je ne l’aurais pas encore eu déjà écouté“, versuche ich in der Französischstunde zu übersetzen, die Normgrammatik übergehend. „Ich werde (der heutigen Musik) noch nicht schon zugehört haben.“ Die Lehrerin spricht von „le mot juste“ und übersetzt: „Der richtige Ausdruck.“ Was für unzeitgemäße Gedanken, denke ich. Sie gefallen mir sehr. Aber waren diese Gedanken oder Träume oder Träume von Gedanken ein Ergehen im Absonderlichen? Niemand weiß, wie das ist.
Wie dürftig die terrestrische Sphäre! Die Straße, Interieur, ist bedauerlich. Gut ist das Aufschauen in den Himmel. Verbringe die Tage eher verwüstet. Ein Buch kann ich nicht wieder auffinden. Dann wie plötzlich etwa das dringliche Emporsteigen der Frage: „Wie soll man leben?“ Die Leiter im Garten kommt auf zum Inbild des Aus-sich-Heraussteigen-Sollens der Frage, welche sich hierauf mit einer solchen Intensität erklettert, als wäre es, dass ich sie nie zuvor gefragt hätte oder als wäre sie bei ihrem bisherigen Erscheinen stets auf den Boden gefallen (wodurch?) und wäre über den errechneten Radius, in welchem ich sie vermutet und aufzusuchen versucht habe, hinausgefallen, also so, dass die Frage außerhalb (au-delà) meines Suchens zentnerschwer schweben würde oder liegen geblieben und deswegen nicht aufgegriffen, nicht ergriffen, nicht wirklich erfasst worden wäre. Im enormen Fahrtwind dieser Frage erwarte ich mit zermalmender Ruhe den heimlichen Magnetismus, der die Bücher im richtigen Augenblick kommen lässt.
Abends gehe ich in den Park und lasse mich dort mit festem Vorsatz einsperren.
Es ist ruhig. Die Vögel sitzen in den Bäumen, der Wind steht in den Winkeln. Auf dem Zittergras der Waldwiese stehen starrmäulige Steinerscheinungen und streichen auf den Jensaiten. Ein Exzess jetzt von Zartheit im Gras. Dynamis alsbald, dann sehe ich einen Kranich, der schleicht sich an, einen Hirschkäfer, der springt auf, eine Vogelkundige, die ihrerseits einen Waldkauz entdeckt, einen jungen Fuchs, der sich flachbrüstig auf dem Asphalt wärmt – später sehe ich an derselben Stelle ein schieläugiges Reh an seiner statt und seine im Boden hängen gebliebenen Fellknäuel fächeln. Im Weitergehen begegne ich wieder dem Fuchs und bemerke, wie er mich seitwärts eine gute Weile lang begleitet. Derweil Fledermäuse über meinen Kopf schwirren, springe ich über den Zaun und entlasse mich in die Stadt, wo ich dennoch nicht stehe. Ich muss gestehen, als ich vorhin schrieb, es sei ruhig, habe ich mir selbst nicht geglaubt. Die Vögel sitzen noch in den Bäumen, aber der Wind steht nicht mehr in den Winkeln.
Urfeuerartig das durchführende Signal, das sich an die Stimmlippen richtet, diese mit unaufhörlicher Beharrlichkeit verschließt, wenn der aus der Lunge gepresste Luftstrom sie wieder aufsprengt und damit der Zustand des Schwingens einsetzt. Gleichzeitig, da die oberen Schneidezähne (welche auch zum Abbeißen der Nahrung) auf die Unterlippe treffen, bevor diese sich wieder abstoßen, in entgegengesetzte Richtung streben, den Grad der Mundöffnung hinaufschnellen lassen, um in der übergangslosen Geste des neuerlichen Schließens zu verweilen, um diesen Namen zu vernehmen: „Vau“.
Poetischer Furor (Baudelaire) in der Mundhöhle (Mayröcker).
Wenn es die Zeit ist und wenn es die Zeit erlaubt und wenn man, hüben oder drüben, wie manchmal, eine Sache tut, wie wenn man durch einen Globus eine Raumdiagonale zieht und ans andere Ende der Welt gelangt; so zieht sich eine Diagonale durch einen Zeitenglobus und verbindet mich mit den Ersten. Wie wenn eine Nadel ans andere Ende der Zeit, nämlich den Beginn, sticht, spüre ich an mir das gemeinsame Sich-klar-Werden der Vorzeitleute, indem ich mir frühmorgendlich das eiskalte Wasser mit zur Schale geformten Händen ins Gesicht werfe.
In der Kajüte eines Segelbootes höre ich einen Alten im leeren Gang zu sich selbst sagen:
„Da wünscht man sich den Tod herbei und dann bleibt das Wetter aus.“ Es regnet in mein kleines Bullaugenfenster, das ich zum Atmen geöffnet habe. Welches Wetter eignet sich denn zum Sterben? Auf der Spitze einer Angelrute, die hier lehnt, hängt schief ein schwarzer Hut.
Der Taxifahrer in Marokko und seine Bekundung, 20 Jahre lang jener geradeaus führenden Straße zu folgen, um in das Dorf Agdz zu gelangen. Heute verlässt er sie und biegt entschieden ab. Später fragt er in ungesehenen Dörfern nach dem Weg und blickt in die Physiognomien der aus den Lehmhütten vorsichtig Hervortrendenden.
An der Garderobe eines Kasinos stehen zwei in der Warteschlange, ihre Mäntel im abgewinkelten Arm abgelegt, präpariert also, um sie dem überbeanspruchten und immer hektisch hin und her rennenden Garderobenpersonal über die Theke zu reichen. Da erkundigt sich die eine Person bei ihrer Begleitung, berechtigt mit der Wortfolge: „Kommen wir gerade oder gehen wir?“
Im Café sitzt mir jemand gegenüber, der die Gebirgszüge der Stimme des verstorbenen
H.R. Giger offenbar übernommen hat. Mein Eindruck, mein ungläubig erstaunter, erstarkt mit jedem Wort, das er spricht. Bis zuletzt, da er ganz plötzlich wie hinfortgebeamt ist.
Dasselbe geschieht mir anderntags mit Amy Winehouse und Friederike Mayröcker.
Eine Gesunde bin ich, die mit sich die Krankheit ahnungslos schleppt, ein uneigennütziger Bote der Kompostierung, die ich nicht weiß, dass ich den Verfall dessen zu melden gekommen sein werde, was ich, in meinen Zeichnungen, bis dass ich vergreist sein werde, liebevoll kritzele.
Viele Zufälle hat es nötig, viele überraschende Koinzidenzen (des Schauens) bis ich das Bild finde, das meinem Verlangen entspricht. Ob der Zufall produziert oder ich ihn produziere? Jedenfalls ist es, das Zufallsall, imstande, Monster hervorzubringen.
Dunkel war der Tag, fast wie die Nacht (Marianne Fritz), dort der Traum, der in den Leibern der Schlafenden wächst (Inger Christensen), wo die Schiffe vorüberziehen und sich weder grüßen noch kennen (Fernando Pessoa).
Eine Mutter schiebt ihren Kinderwagen in ein Geschäft hinein, beugt sich über das Gesicht des Kindes und fragt: „Willst du aus dem Wagen aussteigen?“ Es antwortet: „Aus dem Leben.“
Eine Freundin blickt mich voller Sorge an und fragt mich, während sie mit einem Holzlöffel in der Suppe rührt: „Was macht man mit so einem Leben denn, das ist ja traurig.“
Ich lese von einer grönländischen Fischerin, die auf die Frage, wie sie bei -30 Grad Celsius überleben könne, antwortet: „Die Sonne ist wie ein Gott für mich, sie wärmt mir das Herz.“
Die Mundwinkel jemandes Zahnlosen, mit eingerissenen Lippen brüllend, händehebend, nein, händewerfend, als wäre alles eine Mahnung, gegen eine Häuserfassade: „Bravo! Bravo!“
Nach minutenlangem Schweigen, auf das man sich geeinigt hat, wirft ein Mädchen den Satz auf den Esstisch: „Das Bild hängt schief. Ich werde verrückt.“
Ein Kind steht an der Ampel einer Hauptstraße und murmelt: „Die wollen, glaub ich, dass die Kinder sterben.“
Der Kranich fliegt und lässt sich auf seinem Rastplatz nieder. Der braune Kranich fliegt nicht wieder.
Der Tag entlässt betörende Klänge aus opaken Quellen – welch herzzerreißende Spracharbeit!
Ein Betrunkener befragt sein Handy: „Versöhnlich oder persönlich?“
Augen habe ich, Ohren, Nase, Zunge, Fingerkuppen, alles umsonst?
Eine Flughafendurchsage befiehlt: „Keep your comfort in mind.“
Hinter mir eine Person, die im Rhythmus schnäuzt.
Im Zoo: Stumm verstauben die Büffel.
Zierliche Warze auf dem Handgelenk.
Einem Mann fällt das Baby herunter.
Fliege im Pernotglas.
Oh Happy Day!
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