Verfolgungen

1

„Ich war nicht immer so allein. Ich hatte mal eine Freundin. Wie ich nach ihr Sehnsucht habe. Wäre ich mit ihr zusammen geblieben, hätte mein Leben einen anderen Verlauf genommen. Ich wäre um die Sonne gekreist und nicht um den Mond. Ich säße nicht andauernd hier im Treppenhaus. Sie hat sich immer einen Hasen gewünscht. Einen kleinen weißen Hasen mit roten Augen. Ich habe diesen Wunsch nie erst genommen. Und dann hat sie mich an dem Tag, als ich ein Referat über Strukturwandel im Ruhrgebiet hielt, verlassen. Ich habe es nicht verstanden. Ich war noch beschwingt vom Lob meines Professors. Sie sagte: Du hast mir keinen Hasen gekauft. Und ich: Was? Sie: Du hast mir keinen Hasen gekauft, und deshalb verlasse ich dich. Ich kann ja nicht ewig darauf warten, dass man mir einen Hasen schenkt.“

2

„Ein weißes Monster verbreitet Angst und Schrecken. Es ist so groß wie zehn Eisbären. Wenn es nur einmal sein Maul so richtig aufreißt, ist schon ein halbes Reisbauerndorf weg. Wer kann, der flieht. Und wohin dieses weiße Monster auch kommt, überall sind die Dörfer und Städte schon verlassen. Das weiße Monster wird immer hungriger! Das Monster stößt auf ein neues Dorf. Alle Bewohner sind über Nacht geflohen, nur ein kleines Mädchen ist vergessen worden. Ein Waisenmädchen, eines aus dem Ausland, mit einer anderen Hautfarbe, eines, das die einfache Arbeit im Stall verrichtet. Und wie das Mädchen am frühen Morgen aufwacht, schaut es in die Augen des Monsters. Sie findet diese Augen nett. Das Monster nimmt sie in seine Pranken und hebt sie hoch in die Luft. Das Mädchen fühlt sich wie eine Königin. Sie zeigt dem Monster die Wasser- und Speichervorräte des Dorfes, damit es sich stärken kann. Und dann geht das Mädchen voraus und das Monster hinterher und wie sie so gehen wird das Monster immer kleiner, wird zu einem Hasen. Und noch bevor sie in der nächsten Stadt ankommen, weiß schon jeder: Das kleine Mädchen hat das weiße Monster gezähmt. Man feiert Feste für das Mädchen und das Monster, baut Tempel für sie, aber sie mögen die Stadtluft nicht und ziehen weiter. Erst in einem kleinen Dorf fühlen sie sich wohl. Das Mädchen bekommt dort eine warme Suppe, der Hase Salatblätter. Mit dem Mädchen und dem Hasen kehren Wohlstand und Reichtum in das Dorf ein.“

 

 

Achim Stegmüller

 

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