freiTEXT | Amalie Mbianda Njiki

Rotlicht

Mein Raum befindet sich an einem verborgenen Ort, andere verschlungene Räume falten und winden sich um ihn herum. Manchmal dringen gedämpfte Laute von außen ein, von denen ich mir vorstelle, es seien Mutters Bauchgeräusche in jener Nacht vor meinem Abschied.
Meinen Raum kann jeder besuchen. Ihr tretet ein. Ihr haltet eure Luft an, um durch meine Luft zu tauchen, solange, bis euer Geruch meinen Raum flutet, meine Luft zu eurer wird und ihr schwer auf mich herabsinkt.
Meinen Raum richtet jeder nach seinen eigenen Wünschen ein. Es ist euch egal, ob ihr diesen, oder einen anderen Raum besucht, weil für euch alle Lippen gleich rot glänzen und alle Geschichten gleich sanft klingen.
Mein Raum ist für euch wie ein leeres Gefäß, das erst durch euch als Inhalt seinen Zweck erfüllt. Ihr denkt: Wer seinen Körper verkauft, ist nicht vollständig. Ich versuche mir vorzustellen, wie ihr meinen Raum mit einer meiner Zehen verlasst. Beim nächsten Besuch kauft ihr euch bereits meinen Arm. Oder ein Bein. Ihr kämt und kämt bis nichts mehr übrig wäre.
Noch beschreibe ich mich jedoch anders:
Wer seinen Raum vermietet, ist darin vollständig allein.
Mein Raum kann eure Fassaden so verziehen, dass sie beinahe menschlich wirken. Eure Linien zerfließen, eure Stirnen rillen sich angestrengt. Die Falten erinnern mich an das Wellblech, aus denen die Slums meines Mutterlandes geformt sind. Dorthin, wo Wände fest und aus Stein gefertigt sind, Hitze und Eindringlinge nicht so leicht nach innen gelangen, hat die Madame versprochen. Jetzt sind meine Wände so dick und undurchlässig, dass sich hier jeder Fremde eine Auszeit von der Kälte Deutschlands nehmen will, euer Schweiß perlt über mich hinweg wie Mutters Tränen in der Heimat.
Auch wenn ihr alle Zimmer meines Raumes zu kennen glaubt, kann sich euer schlechtes Gewissen nicht vor mir verstecken. Mein Raum füttert und füttert es, bis es nicht mehr zu übersehen ist, und wenn sich das schlechte Gewissen bereits den Kopf an der Decke stößt, verlässt es meinen Raum leise.

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Amalie Mbianda Njiki

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freiVERS | I. J. Melodia

Schwemmland

Aus dem Schwemmland
deiner flüchtigen Augen
sickert wortloses Sediment
zum Mündungsdelta

Jeder Satz entwässert
das Leben in seinem Fluss
versalzt auch das Land
hinter den Deichen
und der Stirn

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I. J. Melodia

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freiTEXT | Marina Wudy

Sterne einatmen

Wir sitzen am Fenster und schauen in die Sterne. Der Mond muss auch irgendwo sein, aber noch habe ich ihn nicht entdeckt, zu viele Wolken ziehen über den Himmel. In der Nachbarwohnung läuft der Fernseher, die Geräusche dringen dumpf durch die Wand. Uschi, so nenne ich die Frau von nebenan insgeheim. An ihrer Haustür hängt ein Mandala, und durch das Küchenfenster zieht regelmäßig der Geruch von Kreuzkümmel und Kurkuma nach draußen.

Wie geht es dir heute?, fragst du. Du schaust mich dabei nicht an, hast deinen Blick weiter nach draußen in den Himmel gerichtet. Früher hast du dir oft vorgestellt, dass Sterne zwinkern können, und wenn einer einmal heller und wieder dunkler wurde, war das dein Beweis dafür. Sterne haben auch Gefühle, hast du dann gesagt.  

Ich wende meinen Blick von dir ab, zurück zu den Sternen. Gut, sage ich. Gut geht es mir.

Bist du sicher?, fragst du.

Ja, sage ich. Warum?

Ach, sagst du. Du wirkst nicht so.

Warum das denn?

Ich richte mich auf in meinem Stuhl und drehe mich wieder zu dir. Noch immer schaust du mich nicht an. In der Luft hängt noch der Geruch des Chilis, das ich vor ein paar Stunden gekocht habe. Ich reiße das Fenster auf, schließe meine Augen, atme ein.

Naja, sagst du. Früher hättest du jetzt gesagt, komm, lass mal Sterne einatmen. Lass mal das Leben vergessen und einfach sein.

Sterne einatmen?, frage ich und runzle meine Stirn. Noch immer schaust du mich nicht an, hast den Blick starr aus dem Fenster gerichtet.

Ja, Sterne einatmen, sagst du. Die ganze Welt, die ganze Nacht. Alles, was ist, und was sein könnte. Möglichkeiten, Unendlichkeiten.

So ein Quatsch, sage ich. Unendlichkeiten.

Da, sagst du. Genau das ist es. Du denkst nur noch. Du fühlst gar nicht mehr.

Ich höre den Vorwurf in deiner Stimme, und er macht mich wütend.

Das stimmt nicht, sage ich. Ich fühle andauernd.

Aha, sagst du. Wann denn zuletzt?

Wie bitte?

Was war dein letztes Gefühl?

Was ist denn das für eine Frage?

Fragen brauchen Antworten. Auf so eine Logik stehst du doch. Also los jetzt.

Nein, sage ich. Der Vorwurf in deiner Stimme gefällt mir noch immer nicht.

Da hast du es.

Gestern, sage ich schließlich, nur um dir zu beweisen, dass du nicht Recht hast. Natürlich hast du nicht Recht. Natürlich fühle ich.

Gestern habe ich einen Text gelesen. Von einer Kollegin. Der war sehr interessant. Der hat mich zum Nachdenken gebracht. Im gleichen Moment, in dem ich den Satz ausgesprochen habe, merke ich meinen Fehler. Doch du bist schneller.

Ha, sagst du. Siehst du.

Ich mache meinen Mund auf, möchte mich verteidigen, dir sagen, dass das gar nicht stimmt, was du sagst, dass ich sehr wohl fühle, aber die Worte kommen nicht. Sie bleiben in meinem Hals stecken, störrisch, wie die kleinen dornigen Widerhaken, die früher in meinem Wollpullover hängenblieben, wenn ich über die Wiese vom Bauern Thomassun lief.

Eine Weile schweigen wir; ich denke über Theo nach, der mir in der zehnten Klasse das Herz gebrochen hat; über den Tag, als ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, und über den Moment, in dem ich den Anruf von der Polizistin bekommen habe, Frau Hollweg, Ihr Vater.

Aber all das ist Jahre her.

Trotzdem will ich dir nicht Recht geben.

Woran machst du das denn fest?, frage ich dich schließlich. Dass ich nicht fühle?

Du zuckst mit den Achseln. Das ist leicht. Du lachst nicht mehr richtig.

Das stimmt gar nicht, sage ich. Ich lache andauernd.

Vielleicht, sagst du. Aber nicht richtig. Nicht so, dass du nach Luft schnappen musst und deine Bauchmuskeln sich so anspannen, dass du danach Seitenstechen bekommst, und dass du dir dabei fast in die Hose pinkelst.

Ich will protestieren und sagen, dass ich mir auch ganz sicher nicht in die Hose pinkeln möchte vor Lachen, aber dann verliere ich mich in meinen Gedanken. Ich erinnere mich an die Lachanfälle, die ich früher hatte, über die banalsten Dinge. Herr Schmitt mit dem überdimensionalen Schnauzer, der immer mittwochs seinen Rasen gemäht hat und dabei seine Finger ganz merkwürdig abgespreizt hat. Den Fernsehmoderator, dem in der Live-Übertragung des EM-Finales eine widerspenstige Haarsträhne vom Kopf abstand.

Vielleicht hast du Recht, sage ich schließlich und kaue auf meiner Unterlippe herum.

Und die Texte, die du liest, sagst du und schüttelst deinen Kopf.

Was ist damit?, frage ich.

Die sind immer voller tiefsinniger Gedanken, aber frei von Gefühlen.

Ja und, sage ich. Ich mag Texte, die mich zum Nachdenken anregen.

Offensichtlich, sagst du.

Und jetzt?, sage ich und wickle einen losen Faden von meinem Pullover um meinen Zeigefinger. Was soll ich deiner Meinung nach tun?

Gar nichts. Einfach mal gar nichts.

Ich starre dich an, dein vertrautes Profil, das noch immer von mir abgewandt ist. Ich denke an den Nachmittag, als ich ohne Badesachen in der Bucht in Montenegro schwimmen gegangen bin, an den Geschmack von Salzwasser auf meinen aufgesprungenen Lippen und das Kribbeln in meinem Unterleib.

Und dann?, frage ich. Was soll das bringen?

Dann kommen die Gefühle. In der Stille.

Endlich drehst du auch deinen Kopf, siehst mich an, und in deinen Augen tanzt ein ganzes Universum.

Wir sitzen einige Minuten lang schweigend voreinander. Ich verliere mich in deinen Augen, und plötzlich bin ich nur noch Gefühl, bestehe aus kribbelnden Fingerspitzen und tanzenden Atomen und lebendiger Materie. Habe vergessen, wie Denken überhaupt geht, und dass du gar nicht hier bist. Dass dein Profil nur eine flüchtige Verzerrung meines eigenen Spiegelbilds ist, und deine Worte nur der Widerhall meiner eigenen Gedanken.

Ich hebe meine Hand und lasse meine Finger über die Sitzfläche des leeren Stuhls neben mir gleiten. Schaue in die Sterne, die sich in der Unendlichkeit verlieren. Atme noch einmal ein, tief und lange, bis jeder Winkel meiner Lunge mit der kalten Luft gefüllt ist. Bis die Kälte in mir explodiert, sich in Hitze verwandelt, und in ruckartigen Stößen durch meinen Körper schießt.

Ich wehre mich nicht dagegen, lasse es einfach geschehen, gebe mich hin; der Erinnerung an dich, allem, was hätte sein können, was ich nicht fühlen wollte und konnte, was unter der Oberfläche all die Jahre brodelte und mich zu einer leeren Hülle hat werden lassen; einer Hülle, die funktioniert, sehr gut sogar; aber so viel Leere, so viel Kälte. Ich denke an Mandala-Uschi, an den Bauern Thomassun, an meinen Vater, und frage mich, ob sie auch alle dieses Ziehen in sich hatten, wenn sie in die Sterne geschaut haben.

Irgendwann ist es vorbei, und als ich in den Himmel schaue, spüre ich, dass ich es gerade endlich wieder getan habe: Ich habe Sterne eingeatmet. Möglichkeiten, Unendlichkeiten. Alles, was ist, und alles, was sein könnte.

Ich spüre, wie eine Träne meine Wange hinunterläuft. Ich lasse sie laufen, halte sie nicht auf, und schaue weiter in den Himmel.

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Marina Wudy

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freiVERS | Sabine Abt

ausgangslage

jeden morgen die gebeine
aus den laken sammeln, ordnen
knochen aufeinanderstellen

jeden morgen sehnen richten und muskeln austarieren
alleine das aufstehen ein akt der komposition
von unten nach oben

jeden morgen ein kampf gegen die gravitation
ein ringen um den anfang von
allem was ein tag an ringen bringt

ohne zug aus dem erdkern
keine erste erfahrung von widerstand
besiegen können

 

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Sabine Abt

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freiTEXT | Jannik Lober

Der Krieg mit den Käfern

Über den penibel gepflegten Rasen hinweg und vorbei an drei Gartenzwergen – der ganz rechts entblößt schamlos sein Hinterteil – höre ich die Schwengelpumpe im unermüdlichen Takt ächzen. Zug um Zug füllt sich der 10-Liter-Bauch der Plastikgießkanne, deren hellgrüner Tülle sich dabei ein hallendes Gurgeln entringt. Mit dem Handschuhrücken meiner Linken wische ich mir Schweißperlen von der Stirn und bin verblüfft, welch angenehm kühlende Wirkung der Klang von plätscherndem Wasser hat. Das akustische Wohlgefühl verflüchtigt sich allerdings bereits im nächsten Moment, denn während ich den bockelharten Lehmboden mit einer Handhacke bearbeite, weiß ich, ganz tief in mir drin, kniend vorm Gemüsebeet, dass ich im Begriff stehe, den Krieg gegen die Käfer endgültig zu verlieren. Beim Anblick meiner kümmerlichen, zu grauen Bällchen verschrumpelten Tomaten ist mir zum Heulen zumute; mehr aus gekränktem Stolz denn aus echter Trauer. Eine heranwehende Frühnachmittagsbrise ist durchsetzt mit dem Geruch nach gegrilltem Fleisch, Feueranzünder und drohender Niederlage. Ich beiße meine Zähne so fest zusammen, dass meine Kiefergelenke sandig knirschen. Dann drücke ich mir meine Kopfhörer ins Ohr und hacke (Only You von Yazoo auf voller Lautstärke) rachsüchtig weiter, verfalle unmerklich in den Rhythmus der Pumpe im Nachbargarten. Auge um Auge, Fühler um Fühler, ihr kleinen Wichser.

In irgendeiner Illustrierten, die ich einmal in einem stickigen Wartezimmer durchgeschaut haben muss, stand, dass sich alle Zellen im Körper eines Menschen innerhalb von sieben Jahren einmal komplett erneuern. Krass!, habe ich einen ganzen Augenblick gedacht und dann weitergeblättert zu Artikeln über das Mikroklima spröder Kopfhaut, die fünf besten Haftcremes auf dem aktuellen Markt und den anlaufenden Vorbereitungen zur Feier von Florian Silbereisens 40. Geburtstag. Jetzt, da ich aus der aufgelockerten Erde widerspenstige Hahnenfußausläufer ziehe (aus den Augenwinkeln verstohlen nach Eigelegen an runzelig gelbe Blattunterseiten Ausschau haltend), muss ich wieder daran denken. Schon seltsam. Da vollzieht sich im eigenen Inneren, im intimsten Intimbereich, so ein fundamentaler Wandel, aber man bekommt nicht die leiseste Spur davon mit. Wenn es nach den sieben Jahren wenigstens einen hervorspringenden Clown mit Konfettiregen, einen Fanfarentusch, zumindest einen lauten Knall gäbe. Oder ein elektrisch summender Neonröhrenschriftzug, der aus heiterem Himmel über dem Kopf aufploppt und sich in vor Staunen aufgerissenen Augen spiegelt: Herzlichen Glückwünsch! Sie sind ein rundum neuer Mensch! Gehen Sie über LOS, aber ziehen Sie rein gar nichts! Mehr Glück bei nächsten Mal!

„Na“, reißt es mich lautes Rufen jäh aus meinen Gedanken, „heute mal kein Schwarztee?“ Vor der unbarmherzigen Julisonne zeichnet sich unvermittelt die klar umrissene Silhouette eines Mannes mittleren Alters ab. Ich nahm die Hacke von der rechten in die linke Hand und überlege, ob ich knien bleiben oder höflicherweise aufstehen soll. Ich entscheide mich widerwillig für letzteres. Beim Erheben ziehe ich die Kopfhörer betont langsam aus meinen Ohren, atme geräuschvoll durch die Nase ein, schaue ihm erst dann ins beschattete Gesicht. Mit spitzem Mund antworte ich bündig: „Nein, heute nicht.“ Der niedrige Jägerzaun reicht Herrn Schulz gerade bis zur Mitte der stämmigen Oberschenkel. Von da ab aufwärts trägt er eine Art knapper Jeanshotpants, die vom ständigen Waschen schon ausgeblichen ist, ein weißes T-Shirt, unter dem sich die fortgeschrittenen Konturen eines drallen Bauchs wölben, und einen Fischerhut in den Deutschlandfarben. Auf seinen vollen Lippen liegt ein süffisantes Lächeln, aber seine blauen Augen leuchten freundlich, geradezu herzlich.

Dass etwas in meiner Gartenparzelle vor sich ging – genau genommen in meinem Kräuter- und Gemüsebeet – erkannte ich weniger am Regen, der jedes Jahr ein unmerkliches Stückchen dürftiger ausfiel, oder am Farbton des Bodens, der aus irgendeinem Grund Sommer für Sommer einen Hauch blasser zu werden schien; viel mehr kündete das plötzliche Auftauchen der Heerscharen von Käfern biblischen Ausmaßes von einer bisher unbemerkten Veränderung. Ich weiß noch genau, dass ich anfangs dachte, als es nur zwei, drei waren, die ich hier und da auf Gurkenblüten fand, wie schön doch die schwarzen Chitinpanzer mit der feinen weißen Musterung in der Sonne glänzten. Pittoresk hatte ich am gleichen Abend zu meiner Mutter am Telefon gesagt, dazu etwas von Artenvielfalt und NABU gesülzt. Heute schelte ich mich jeden Tag dafür: Pittoresk am Arsch, du blöde Kuh! Hätte ich damals schneller gehandelt, wäre es vielleicht nie so weit gekommen, sicherlich nicht so schnell. Im ersten Jahr befielen sie nur die Gurken, im zweiten vernichteten sie zusätzlich meine gesamte Zucchiniernte, dieses Jahr sind ihnen schon drei Tomatenstauden zum Opfer gefalle. Besser gesagt: Fallen ihnen zum Opfer; und über dem blutrünstigen Präsenz dräut düsterer noch das Futur. Letzten Sommer habe ich schließlich drei besonders fette Exemplare eingetütet und bin, meinen Bedenken und Hochmut zum Trotz, mit der Bahn zu meiner Exfreundin gefahren, die als Biologie-Doktorandin kürzlich eine Anstellung an einer nahen Universität gefunden hatte.

„Nezara viridula! Und was für gesunde Kerlchen auch noch, putzmunter!“ Für ihre wissenschaftliche Euphorie hätte ich ihr am liebsten einen der Schüttelkolben über den Kopf gezogen, die in allen erdenklichen Größen und Graden der Verkalkung neben Plastikterrarien und Blumentöpfen im kleinen Büro wie wahllos verteilt herumstanden. Begnügt habe ich mich dann aber mit einem zwischen Schneidezähnen hervorgepressten, trennscharf in zwei Silben zerlegten: „San-dra!“ „Gemeinsam mit dem Buchsbaumzünsler und der Kirschessigfliege zählt die Grüne Reiswanze wohl zu den größten Gewinnerinnen des Klimawandels.“ „Aber die sind doch ganz schwarz mit ein paar weißen Pünktchen, überhaupt nicht grün,“ bringe ich, meinen linken Arm an den Körper gelegt und an den Fingernägeln meiner rechten Hand kauend, kleinlaut vor, ziehe meine Augenbrauen gekräuselt zusammen. „Auch Südliche Stinkwanze genannt,“ Sandra wirft mir dabei einen Seitenblick zu, „ist die Grüne Reiswanze eigentlich in der Gegend um das Mittelmeer beheimatet und bevorzugt ein mediterranes bis subtropisches Klima. Durch die stetig steigenden Temperaturen und begünstigt durch die rapid schmelzende Eisschicht in den Bergen ist ihnen jedoch vor ungefähr zehn Jahren erstmals eine Alpenüberquerung geglückt. Seitdem dehnen sie als hochgradig invasive Art und sogenanntes Neozoon ihr Verbreitungsgebiet immer weiter nach Norden aus. Hier hast du drei schwarz gefärbte Nymphen, später als ausgewachsene Imago werden sie grün beziehungsweise braun im Winter. In allen Entwicklungsstadien stechen sie, als wählerisch kann man sie daher wirklich nicht bezeichnen, diverse Pflanzen, Samen und Triebe an, was für die befallenen Pflanze meist zu einer letalen Pilzinfektion führt.“ Ganz große Klasse, denke ich mir mit einem Stapel Papiere von Sandras Schreibtisch zornig Luft zufächelnd, ein sechsbeiniger Hannibal ante portas. Ich schaute zu den ausgeschalteten Neonröhren an der grauen Decke auf, kratze meinen Hals: „Was kann ich jetzt gegen die unternehmen?“ „Nun, du könntest es natürlich mit der chemischen Keule versuchen. Oder,“ mit ihrem Daumen schob Sandra die Krümel des Streuselkuchens, den ich als Geste des guten Willens mitgebracht hatte, zu einem säuberlichen Häufchen zusammen, und fuhr in einem Ton fort, der irgendwo zwischen Häme und Genuss lag, „du wartest bis es durch vermeintliches Nahrungsüberangebot zu einer Vermehrungsexplosion kommt, dann saugen sie sich selbst ihre Lebensgrundlage weg und verhungern letztlich.“ Sie schaute aus dem Unifenster in die Ferne, spielt sich gedankenabwesend an ihrem blonden Pferdeschwanz. „Danke, Sandra. Ich ruf dich an.“ Als ich gerade mit einem schwer zu beschreibenden Gefühl zur Bürotür hinauswollte, hörte ich hinter mir: „Und was ist mit denen hier?“ Sie deutete mit einem Stift auf die durchsichtige Zippertüte samt derer fidelen Insassen. Ich ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch zurück und ließ meine Faust in einem einzigen fließenden Bogen auf die Tüte niederfahren. „Ich mache keine Gefangenen.“ Aus den drei aufgeplatzten Nymphenkörpern quoll gelb-beiger, zähflüssiger Schmodder und durch den Aufschlag war der kleine Berg aus Kuchenkrümeln zusammengestürzt.

Im Anschluss hatte ich es mit den unterschiedlichsten Hausmitteln und geheimen Wunderwaffen versucht, über die selbst in online-Gärtnerforen nur mit vorgehaltener Hand spekuliert wurde: Ich hatte Backpulver ausgestreut, mit schalem Bier gefüllte Fallgruben ausgehoben oder auch einen kostspieligen Kupferzaun in Miniaturgröße aufgespannt. Mein Leben bestand nur noch aus einer Verkettung von Finten, Gegenangriffen und verdeckten Offensiven; nur half alles nichts, die Käfer waren zähe, unerbittliche Gegner. Letzt Woche hatte ich schließlich mein gesamtes Beet plus Hecke in einer letzten verzweifelten Aktion stundenlang und literweise mit abgekühlten Schwarztee besprüht; sehr zur Belustigung von Herrn Schulz, der im Nachbargarten gerade den dritten Gartenzwerg (der mit dem nackten, leicht hinausgestreckten Hintern) zu den anderen beiden gestellt hatte. Seit drei Jahren flogen er und seine Frau, von deren stets mit einem freudigen Winken begleiteten Grußworten ich aufgrund ihres starken Dialekts noch nie auch nur ein einziges verstand hatte, im Sommer nach Rhodos. Von ihrem vierzehntägigen Strandurlaub brachten sie jedes Mal einen Gartenzwerg mit – wer weiß, wie es zu dieser idiotischen, mir gänzlich unbegreiflichen Tradition gekommen ist. Zu dritt gruppiert stehen sie jetzt im Halbkreis auf einem etwa Handbreit hohen Erdsockel, dessen Flanken Herr und Frau Schulz mit verschiedenfarbigen, den ägäischen Fluten abgetrotzten Muschelschalen hingebungsvoll dekoriert haben. In diesem Moment umflattert tänzelnd ein Paar aus Kohlweißlingen die eigenwillige Zusammenstellung aus nautischem Zierrat und leuchtend roten Zipfelmützen.

„Nein, der Tee hat leider auch nicht geholfen“, gebe ich kleinmütig, aber offen zu, halte Herrn Schulzes Blick stand. Beide Arme über dem Kugelbauch verschränkt wippt er von den Fersen auf die Zehenspitzen und wieder zurück. Seine Hüfte schwingt dabei so hin und her, dass ich in meinem Kopf unwillkürlich das wuchtige Glockengeläut von Almkühen höre. „Ich hab‘ Ihnen ja gesagt, Sie müssen was spritzen.“ „Wissen Sie, Herr Schulz“, in Kniehöhe wische ich mir ein wenig trockene Erde vom geblümten Sommerkleid, „ich bin mir da nicht so sicher, ob der Einsatz von hochgiftigen, krebserregenden Insektiziden wirklich notwendig ist.“ „Lassen Sie mich raten“, er bleibt mit dem Oberkörper vorgebeugt auf den Zehenspitzen stehen und zieht die buschigen Augenbrauen hoch, „Umweltschutz?“ Er bricht in schallendes Gelächter aus, das von Herzen kommt; sein Bauch und Adamsapfel springen glucksend auf und ab. „Passen Sie nur auf, dass Sie es den Biestern mit Tee und Gebäck nicht zu schön machen. Am Ende kommen die noch zu uns rüber!“ Während er sich hüstelnd mit der Faust auf den massiven Brustkorb klopft, weil er sich beim Lachen verschluckt hat, fällt mein neidischer Blick auf die Tomatenpflanzen der Schulzes: Pralle Tomaten, saftig, rund und fest, hängt dort eine neben der anderen schwer und appetitlich an den kräftigen Stauden. Mehr als einmal habe ich nachts wach in meinem Bett gelegen, war wie getrieben drauf und dran, in die Schrebergartenkolonie zu fahren, über den niedrigen Zaun zu steigen und alle dieser feixenden Früchtchen abzureißen. „Wissen Sie, Herr Schulz“, wie ein stupider Papagei plappere ich Sandras Worte nach, „die Grüne Reiswanze ist eine hochinvasive Art, ein Neozoon, dessen Habitat sich durch die Erderwärmung minütlich, ja selbst in diesem Moment, da wir hier reden, ausbreitet. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch bei Ihnen ist.“ „Oooh“, er hebt die schwieligen Hände, als würde ich eine geladene Pistole auf ihn richten, „der Klimawandel. Die Trixie hat gesagt, der wäre nur eine Erfindung der hysterischen Klimanazis und Gendergagaisten“, er schnalzt geräuschvoll mit der Zunge, trommelt mit den Fingern an beiden Oberarmen, „Wählen würde ich sie natürlich nicht, aber die Frau redet schon Tacheles, das muss man zugeben, nennt die Dinge beim Namen. Die hat Chuzpe, hätte man früher gesagt, Chuzpe! Und intelligent ist sie, kann gescheit reden, erinnert mich manchmal ein bisschen an Sie!“ „Hören Sie, Herr Schulz, die wohl letzte Person auf diesem Planeten, mit der ich verglichen werden will, ist eine Beatrix von…“ Meinen Einwand überhört er und kommt jetzt richtig in Fahrt: „Das Klima hat sich geändert, ja, aber nicht das Wetter, das ist einfach nur sommerlich. Und Hitzewellen“, er macht mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft, verdreht die Augen, „gab es auch schon immer. Nein, das Klima hier“, energisch zeigt er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Boden, „HIER in der Kleingartenkolonie. Das gesellschaftliche Klima mein‘ ich. Früher war das ganz anders. Ja früher, da hat man gegenseitig auf sich Acht gegeben, sich ausgeholfen, war füreinander da, hat sich zugehört“, er zählt die genannten Punkte an den fleischigen Fingern ab, „Aber jetzt“, seine flach ausgestreckte Hand zischt einmal durch die Luft, sein Ehering blitz golden im Licht „ein falsches Wort und sie fallen über dich her, zack, Kopf ab. Dabei weiß man gar nicht, was jetzt schon wieder verkehrt war.“ An besagtes Früher habe ich, wenigstens in Bezug auf die Kleingartenkolonie, keine eigenen Erinnerungen: Mein Großvater väterlicherseits, zu dem ich erstmals den Kontakt herstellen konnte, als ich bei meiner Mutter ausgezogen war, hatte mir die Gartenparzelle erst vor drei Jahren vermacht – das großzügigste, zugleich aber auch nervenaufreibendste Geschenk meines Lebens. „Und neulich“, Herr Schulz rückt näher an den Zaun, schlägt einen so verschwörerisch-vertraulichen Ton an, dass ich es ihm ungewollt gleichtue, „da haben sie kurzzeitig doch wirklich die Wasserleitungen umgelenkt.“ Er deutet mit dem Daumen über seine rechte Schulter auf seine Gattin, die, eine hager, klein Frau mit sonnengegerbter Haut, bereits die dritte Gießkanne an der Pumpe füllt. „Kommt kein Wasser mehr, hat sie gesagt. Ich darauf“, er hebt Blick und Hände zum blauen Himmel, an dem zwei sich kreuzende Kondensstreifen verblassen, „dann pump eben fester, Ulrike. Tja, kam aber wirklich nichts mehr. Seit ein paar Tagen geht alles wieder tadellos. Beweisen kann ich nichts, aber ich bin mir sicher“, er legt die Rückhand an die Lippen, spricht aus dem Mundwinkel, „die da oben hatten ihre Hände im Spiel.“ „Vielleicht, Herr Schulz, liegt es auch am auffallend geringen Niederschlag. Vielleicht“, ich verspüre das dringende, fast körperliche Bedürfnis, ihm eine Lektion zu erteilen, „liegt es daran, dass es zu viele Menschen gibt, die im Unverstand rotes Fleisch essen, Berge von minderwertiger Kleidung kaufen und zu oft hirnlos um die halbe Welt fliegen.“ Halb väterliche, halb jovial entgegnet er: „Aber Sie sind doch noch so jung, Sie müssen die Welt und Ihr Leben genießen, in vollen Zügen! Packen Sie es an!“ Die Sonne brüllt von oben und ich recke, unter den Armen und zwischen den Pobacken furchtbar schwitzend, das Kinn empor: „Weil ich meinen Kindern einmal keine abgebrannte Müllhalde hinterlassen will, tue ich das eben nicht!“ Seine großen, blauen Augen strahlen großväterlich: „Kinder?! Donner und Doria. Hat da jemand etwa endlich einen anständigen Burschen kennengelernt?“ Als er mir zuzwinkert, reißt eine Saite in mir mit lautem Knall; ich kann nicht länger an mich halten und keife: „Vor allem liegt es daran, dass man den Klimawandel in zu vielen Mündern und zu wenig Köpfen finden. Das ist übrigens das, Herr Schulz, wo bei den Leuten früher“, mit den Händen mache ich Anführungszeichen in der Luft, „das Hirn saß, bevor sie es sich in irgendwelchen obskuren Telegram-Chatgruppen weggegrillt haben. Wenn die Leute noch ein Quentchen davon besäßen, hätten Sie noch genug Wasser und ich nicht dieses schwarze Geschmeiß im Garten, das unter dem schicken Panzer eigentlich“, ich kneife die Augen zusammen, „ganz braun ist.“

In Zeitlupe kann ich mitverfolgen, wie sich das breite Lächeln auf seinen Lippen gleich Zuckerwatte im Wasser auflöst und sich die Freude in seinen Augen zu einem waidwunden Ausdruck wandelt; im Hintergrund pumpt Frau Schulz indes unbeirrt weiter. Nach einer halben Ewigkeit sagt Herr Schulz schließlich: „Meine Frau und ich möchten Ihnen“, er nestelt linkisch mit Zeige- und Mittelfinger an der Gesäßtasche seiner Hose herum, „das hier geben. Wie Sie wissen, sind wir keine Studierten“, die mittlere Silbe versieht er mit besonderer Betonung, „Anders als Sie verstehen wir nichts von Ozonlöchern und Neowanzen, aber wir haben festgestellt, dass die hier ausgezeichnet gegen die Krabbelbiester helfen.“ Er macht eine kurze Pause, fährt dann, den Blick gesenkt, in einem leiseren, geradezu grüblerischen Ton fort: „Ich kann nicht erklären wieso, aber irgendwie hält es sie eben fern. Vielleicht der Geruch oder die Farbe oder wer weiß was.“ Über den Zaun hinweg legt er mir behutsam etwas Leichtes in die rechte Hand, das leise raschelt. Daraufhin wendet er sich um und geht, bleibt jedoch nach ein paar Schritten abrupt stehen und sagt, ohne sich umzudrehen: „Wissen Sie, Sie brauchen nicht zu glauben, Sie wären die Einzige, die sich Sorgen um die Zukunft macht.“ Seine Stimme klingt weder gekränkt noch versöhnlich, sondern einfach nur nüchtern, durch und durch sachlich. Im Fortgehen huscht über Herrn Schulzes Körper ein Schwarm Schattentupfer, die die Blätter an den Ästen des alten Kirschbaums in seinem Garten werfen. Da kein Wind geht, verharren sie, nachdem er aus meinem Blickfeld verschwunden ist, wieder regungslos auf dem Boden. Kurze Zeit darauf wird das Pumpen eingestellt.

Ich betrachte ein sorgfältig aus weißem Brotpapier gefaltetes, dreieckiges Tütchen auf meinem Handteller. Darauf hat jemand mit wenigen grünen und orangenen, fein geschwungenen Linien eine stilisierte Blume gemalt, die ihre Blüte leicht zur Seite neigt. Darunter steht in überraschend eleganter Schreibschrift Ringelblumensamen und für eine Weile hört man nichts als das Sirren von vorbeifliegenden Bienen und metallisch blitzenden Schmeißfliegen. Wie vom Donner gerührt fällt mir auf, dass ich immer noch die Hacke in der linken Hand halte. In der unerträglichen Hitze weiß ich nicht, was ich fühlen oder tun soll; mein Kopf scheint zum Bersten mit einer übelriechenden, gasartigen Substanz gefüllt. Als mein müder Blick auf den sonnendurchglühten Rasen fällt, sehe ich, wie sich ein einzelner Käfer meinen Füßen nähert. Sein pittoresker Panzer mit dem weißen Muster glimmt in der Nachmittagssonne und seine Beinchen sehen aus wie die langen Wimpern einer Kuh.

Nach den Tomaten werde ich die nächste sein, das ist mir jetzt klar. Aber – ich setze meinen Fuß ein paar Zentimeter nach vorne und vernehme, vielleicht auch nur im Geiste, ein feuchtes Knacken – nicht heute.

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Jannik Lober

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freiVERS | Dea Sinik

Von einer Flucht

Minaturbuchstaben
wabern auf dem Display,
sie sind monumental und
unaufgeregt.

Erreichen zwei Fremde,
die sich steril anfühlen,
die sich im Nichts anrühren,
die im Smalltalk Brücken schüren
in fantasielose Welten des anderen.

Zwei Fremde
füllen wüste Welten
im Blaufilter auf,
legen Spuren
im Nachtmodus
wünschen sich eine warme Leerstelle für die Nacht,
die nicht bis zum Morgen anhält.
Wir sind
zwei Fremde,
vergraben
in Flüchtigkeit.

Die Abscheu in der Dämmerung,
die nur mir gebührt
wälzt sich
auf dem stoppeligen Stoff deines Sofas.
Der Raum
verschlingt
das Taupe,
Es berührt meine Netzhaut,
die verwundert
ihre Innensicht entblößt.
Alles Verklärte
setzt sich in mir ab,
während deine Zuge niedergeht.
Sie schmeckt nach nichts,
nicht verwunderlich.
Dicht an dich
unsere Körper.

Ich bin mir ferner denn je,
denn ich spüre nur
das Nichts,
Gewebe mangelt es an Textur,
als deine Hände einander aufhetzen
von meiner Schulter bis zur Brust,
von der Brust ins Dunkle hinab.
In mir wetzt sich all das, was sich verbarg.

Derweil entgehe ich mir,
ich hintergehe mich
und fühle mich
wie ein übermütiger Dieb,
der seinem Fall ahnungslos entgegen lacht.
Es bringt auch nichts darüber zu verhandeln, wo wir Dinge in uns vergraben,
dein Atem löscht all die Farben
meiner Demut.
Ich habe sie vor deiner Haustür gelassen.

Erlaube es dir,
dass du durch mich hindurch gewälzt bist,
meine Teilnahmslosigkeit
übermannt mich
zwischen Lenkrad und Kupplung.
Wie schön ist der junge Morgen,
die mich umhüllt.
Die Erkenntnis hat mich erfüllt.
Wie belanglos
der Freitagabend klingt.
Stille hallt nach,
als du dich wegdrehst
und eine Zigarette am Fenster rauchst.

Die Gleichgültigkeit ruht in unseren Nacken,
als sich alles
im graublauen Dampf aufbahrt.
Ich habe mir
Verwunderung für den Nachgang aufgespart,
über meine Ziellosigkeit
stolpere ich in das Schweigen.
Dein Blick straft mich ab,
er baut sich vor mir auf
zu Halden
auf die kurze Distanz der betonierten Straße,
in der offenen Autotür,
erreicht mich Geröll.
Ich habe mir erlaubt,
mich abzulagern,
aber nichts trägt mich
durch unser Aufeinandertreffen.

 

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Dea Sinik

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freiTEXT | Thimo von Stuckrad

Kreis warmer Nässe

Nepomuk, genannt Nepo oder einfach nur Muki, hatte eben seine eng geschlossenen Fäustchen wieder neu ausgerichtet, akkurat die unteren Glieder der beiden Daumen aneinander gepresst, und seinen Kopf zurück auf die kegelige Gebirgskette seiner Mittelhandknochen gelegt, die ihn beruhigend an ein angrenzendes, aus dem Kissen herauswachsendes Gegenköpfchen denken ließ, als er ein felltierhaft wirkendes Räuspern vernahm. Vielleicht ein Bär; oder eine Giraffe en miniature. Beides würde ihn, anders als das Wort en miniature, nicht verwundern, hatten sich doch die sonst nur an wenigen Festtagen im Jahr flüchtig synchronisierten Gegengewichte von physischer Realität und Wunsch schon in seinem Traum heillos ineinander aufgehoben: ein plötzlich im Garten aufgetauchtes, zusätzliches Gebäude, das nur ein einziges Zimmer beherbergt hatte. Der Boden bestand aus einer Art dunkelgrauer, kurz geschnittener Watte und an den Wänden des Zimmers waren an jedem freien Quadratzentimeter Basketballkörbe unterschiedlicher Größe und Umfänge so sorgfältig befestigt, dass der Raum wie ein einziger, in Länge, Breite und Höhe gezogener Vorwurf wirkte.

Später hatte Nepo von zwei Aufzügen in einem Hochhaus geträumt, die jeweils nur dann aufwärtsfuhren, wenn man zunächst mit dem jeweils anderen mindestens ein Stockwerk nach unten gefahren war, was dazu führte, dass sich alle Insassen des Hauses und deren Besucherinnen stets auf der Treppe oder im öffentlichen Kellervorraum begegneten; darunter seine Mutter im Kimono. Bis auf einige Verstörungen also, die Kinder im Allgemeinen aber entweder gleich aufwachen lassen oder an die unauflösliche Gleichzeitigkeit des Sterbens gewöhnen, war das Träumen alles in allem ein guter Spaß gewesen.

Da hörte er wieder das Geräusch. Dieses Mal aber als ein anderes, denn es klang ungeduldiger jetzt und saftig. Wie ein Schluck lauwarmen Tees, der in der spitz verschlossenen Mundhöhle durch das Halbrund ungleichförmiger Zähne immer wieder erst gesogen, dann gedrückt, gesogen und gedrückt wird, so als sollte ein unentschlossenes Gehen auf Kies imitiert werden. Nepo strich die Bettdecke zurück, richtete sich auf, stützte sich auf seine Unterarme und streckte das Kinn in Richtung seiner Knie, sodass er aussah wie eine rückwärtig umgekippte Eins. Eigentlich waren es doch zwei Geräusche, die sich gleichmäßig gegeneinander getaktet beantworteten; und keines der beiden Geräusche kam aus ihm selbst. Da war einmal jenes lampionhafte Schwingen und Papierknistern, das Nepo erst an ein Räuspern hatte denken lassen, dann einige Momente danach, nach Nepos Zählung reichte die Zeit für ein genau dreimaliges Einatmen, das Mundhöhlenteegeräusch, das erst wie sich zickzackend nähernde Schritte anschwoll, um dann plötzlich wie verschluckt zu verschwinden. Viermal atmen, und die Folge der Geräusche begann wieder von Neuem.

Nepo beschleunigte sein Atmen, dann verlangsamte er es. Auch setzte er einige Atemzüge einfach aus, ließ die Luft nur noch durch seine Nasenlöcher strömen, danach nur durch den Mund. Und je länger Nepo durch allerlei Umstellungen und Veranstaltungen zwischen sich und den beiden Geräuschen versuchte, deren Abstand und Rhythmus unter seine Kontrolle zu bringen, desto mehr regte sich in ihm eine lustig anschwellende, blaugelb züngelnde Wut. Zuletzt sagte er in dem grimmigen, halbvollen Ton, den Kinder üblicherweise anschlagen, wenn sie mit nach innen begradigten Blicken jene grammatikalisch klingenden Entschuldigungsformeln der Erwachsenen nachsprechen: jetzt. Doch es geschah nichts.

Und weil nun Nepo zu jenen seltener werdenden Kindern gehörte, die begreifen, dass Zauberei und Geheimnisse nur dann wahr sind, wenn sie sie selbst bewirken, schlug er die Bettdecke ganz zurück und stand auf, um dem Fall auf den Grund zu gehen.

Die Geräusche blieben weiter in der Mechanik ihres Zwiegesprächs und hatten sich dabei auch weiterhin nichts zu sagen. Nepos Blick tastete durch sein Zimmer. Er lehnte sich nach vorne auf seine Zehenspitzen und winkelte die Knie dabei leicht an; geduckt und absprungbereit, so als suchte er nach kleineren Abweichungen im Raum. Vielleicht ein Flackern oder eine verdreht stehende Spielfigur, die nicht nur belegen würden, dass er ungefragt in einen fremden Kopf oder Traum geraten war, sondern auch auf einen Ausweg oder eine Art Portal hinwiesen. Aber alles war in der üblichen Ordnung: die nach unterschiedlichen Ernährungsklassen sortierten japanischen Plastikfiguren – phytophag, zoophag, pantophag, autophag – starrten aus ihren in Richtung Unendlichkeit polierten Augen durch sein Zimmer, über dem Schreibtischstuhl hing ein bleicher Regenbogen verschiedenfarbiger Fußballtrikots und hinter den seit dem vergangenen Sommer grünbeklecksten Vorhängen pixelte das erste Licht der Dämmerung auf die tiefschwarze Mauer des nächtlichen Vorstadthorizonts.

Nepo machte einen Schritt in Richtung der Zimmertür, um in seine hinter dem Fußende des Betts liegenden Pantoffeln zu schlüpfen. Er hatte dabei das Gefühl, etwas zählen zu müssen. Da fiel sein Blick auf den unregelmäßigen Spalt zwischen Tür und Bodenschwelle, durch den Nepo jeden Abend nach dem Zubettbringen das langsam schwindende Licht, die vergnügt eigenständigen Schatten seiner Eltern am oberen Ende der Stiege und die kurz vor dem Einschlafen immer langsamer werdende Zeit beobachtete. Vor wenigen Tagen erst hatte er sich vorgestellt aufzustehen, durch die Tür zu gehen und, plötzlich erwachsen, gemeinsam mit seinen Eltern ihren sich auf dem Flur kugelnden, ineinander auflösenden und jäh sich wieder spaltenden Schatten beim Ausbleichen zuzusehen. Er war darüber dann aber eingeschlafen und in einen nebligen Traum geraten, an dessen Ende ein Handydisplay eine Rolle spielte, das immer dann schwarz wurde, wenn er darauf zu schauen versuchte.

Nepo nahm einen weiteren Schritt in Richtung der Zimmertür und ging in die Hocke. Je länger er in das ungefilterte, blaugräuliche Licht des nahenden Morgens schaute, das sich vor seiner Zimmertür staute, desto breiter schien der Spalt selbst zu werden; wie die sich weitende, schlitzförmige Pupille eines riesigen, vor ihm liegenden Raubtiers. Ohne jede Vorankündigung verdunkelte sich der Spalt. So als würde das riesige Raubtierauge blinzeln, war mit einem Mal alles nächtliche Licht wie aufgesaugt und ein tiefer schwarzer Schatten floss nun über die Schwelle hinein in Nepos Zimmer.

Nepo hatte sich schon von dem inneren Abzählreim seines Atmens entkoppelt. Deshalb kippte er vor Schreck beinahe nach vorne um, als das schmatzende Kiesgeräusch wieder ertönte. Das Geräusch, in Nepos Verständnis von der Mechanik der Ereignisse: das zweite, antwortende Geräusch, musste sich genau vor seiner Tür befinden. Langsam richtete er sich auf, ging sacht bis zur Türe und strich dabei mit der Zungenspitze über die weichen Moorlandschaften, die die zwei zuletzt ausgefallenen Backenzähne in seinem Kiefer hinterlassen hatten. An einer Stelle spürte er die Umrisse eines keimenden Zahnkegels, der aus dem Zahnfleisch aufragte wie ein sehr kleines, angewinkeltes Knie. Nepo legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt breit, indem er seine Hand langsam der Schwerkraft überließ.

Vor der Tür lag der Länge nach hingestreckt eine dicke weiße Katze. Sie wandte ihm ihren Bauch zu und fuhr unbeeindruckt damit fort, in einer Art Automatenbewegung die Zwischenräume ihrer Finger mit der Zunge zu reinigen. Erst als Nepo die Tür bis auf die Breite seiner Schultern geöffnet hatte, froren die Bewegungen der Katze ein und die letzten Reste des Antwort-Geräuschs rieselten zu Boden. Nepo bemerkte, dass die Katze über den gesamten Körper dunkel, ja beinahe schwarz gesprenkelt war, als hätte jemand sie gleichermaßen erfolgreich wie erfolglos mit Dreck beworfen: sie musste zwar getroffen worden sein, war dann aber nicht davongelaufen. Die Katze streckte noch immer einen Finger abgespreizt vor ihr leicht geneigtes Kinn und blickte dabei quecksilbern in Richtung des Rahmenwinkels der Zimmertür, als wäre von dort ein gütiges Nicken zu erwarten, das sie in der Ausführung ihrer Pläne bestärken könnte. Gerade als Nepo ein wenig in die Hocke gehen wollte, um mit den Flächen seiner Fingernägel über den Katzenbauch zu streichen, sprang die Katze auf. Das heißt, eigentlich wirkte es so, als ob die beiden Bilder der erst liegenden und dann vor ihm stehenden Katze übereinander geblendet worden wären. Nepo fühlte sich mit einem Mal auf seine Hände reduziert und begann, seine Pyjamahose nach Taschen abzutasten.

In diesem Moment setzte wieder das Lampion-Geräusch ein. Es musste aus der Wohnstube im Erdgeschoss kommen. Die Katze war bereits einige Stufen der Stiege hinabgesprungen, Nepo fiel dabei das Schwingen des tiefhängenden Katzenbauchs auf, das ihn an die Zöpfe Tennis spielender Mädchen erinnerte. Auf der letzten Treppe machte sie Halt und blickte sich nach ihm um. Dabei schien ihr ungewöhnlich breiter Mund ein O zu formen. Nepo war bereits in der Mitte der Stiege angelangt. Seine Schritte waren ungewöhnlich zielstrebig, als würde er im Innern einer Kompassnadel auf einen Ausgang in deren Spitze zugehen.

Schon auf der Stiege, noch mehr aber im unteren Flur und aus Richtung des Wohnzimmers herrschte ein ungewöhnlicher Geruch. Eine Mischung aus Zimt und jenem Geruch blauer, ledergesäumter Sportmatten, wenn sie zum ersten Mal nach den langen Sommerferien aus den Archiven der Schulsporthallen gezogen werden. Die Tür zur Wohnstube war geschlossen. Auch war es, nachdem das Knistern wieder verstummt war, völlig still und halb dunkel. Die Katze markierte mit ihrer Wange und Flanke den Türrahmen und reckte ihren Schwanz senkrecht nach oben als könnte sie so die verschiedenen Frequenzbereiche der Räume miteinander koppeln. Auch diesmal schienen die Bilder – die Katze mit gesenktem und gestrecktem Schwanz – unvermittelt aufeinander zu folgen. Als Nepo die Hand auf die Türklinke legte, drückte die Katze bereits ihre Nase in den Winkel zwischen Tür und Rahmen. Es war ihm früher nie aufgefallen, wie perfekt Katzengesichter in rechte Winkel hineinpassten. Sicher wegen der Evolution, dachte er.

Nachdem Nepo die Tür zur Wohnstube geöffnet hatte, wich er zunächst einen Schritt zurück, kratzte sich an einigen Stellen rund um den Bauchnabel, die plötzlich zu jucken begonnen hatten, und grub seine Zehenspitzen so tief in die Hornhaut seiner Pantoffeln, dass die Zehennägel zu schmerzen begannen. Die Wohnstube war verschwunden. Stattdessen befand sich hinter der Tür ein deutlich kleinerer Raum, sicher nicht mal so groß wie sein Kinderzimmer. In der Mitte des Raums befand sich ein großer roter Ohrensessel, vor der rechten Armlehne, die Nepo zugewandt war, ein Kindergartenstuhl, auf dessen Sitzfläche eine lindgrüne Maschine stand. Aus der Maschine liefen allerlei Schläuche mit grünlichen und gelben Substanzen, die an einen Arm angeschlossen waren, der unbekleidet auf der Armlehne lag. Tief in den Ohrensessel gelehnt saß ein Mann in einem Trainingsanzug, dessen Stoff an die Außenhaut von Heißluftballons erinnerte. Nepo erkannte darin seinen Onkel mütterlicherseits. Arno Kosswode. Zwar hatte er Onkel Arno seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, aber Nepo erinnerte sich an die Nase, die einer der Länge nach halbierten Variante jener Sektkorken glich, die Tante Paula und Onkel Arno ihm bei ihren Besuchen früher zuhauf mitgebracht hatten – zum Werfen, wie Arno immer streng bemerkt hatte -; Arno blickte starr aus einem Fenster, das beinahe die gesamte rechte Wand des Raums ausmachte. Die restlichen Wände waren zu etwa zwei Dritteln ihrer Höhe, also etwa bis zu Nepos Scheitel, mit einer Holzvertäfelung verkleidet, deren Maserung ihn an die Darstellung der Gesichter mittelalterlicher Könige denken ließ. Oberhalb der Vertäfelung waren die drei Wände mit Fotografien von weißäugigen Katzenkindern, viele davon mit überschlagenen Beinen, behängt. Auf einigen Aufnahmen war auch die gesprenkelte Katze zu erkennen. Der Anschlag auf ihr Fell musste sich demnach schon in ihrer Kindheit ereignet haben. Obwohl er keinerlei Angst spürte, blickte Nepo über seine Schulter zurück in den Flur. Alles war dort an den gewohnten Plätzen: die gleichfarbige Reihe der Schuhe seines Vaters, die körperlosen Mäntel seiner Mutter an der Garderobe, der stets leere Schirmständer und der Jagdschein des Großvaters mütterlicherseits, der in einem unpassend metallischen Rahmen an der Wand gegenüber der Wohnstube hing.

Plötzlich richtete sich Onkel Arno in dem Ohrensessel auf, beugte sich mit dem Kinn beinahe bis auf die Höhe seiner Knie und begann damit, in kreisenden Bewegungen seiner Hände erst seine Unterschenkel, dann seine Oberschenkel zu massieren. Zu dem so entstehenden Lampionknistern gab der Apparat neben dem Ohrensessel ein langgezogenes Stöhnen von sich und durch die Schläuche schoben sich stoßweise die verschiedenfarbigen Flüssigkeiten voran.

„Dich brauch ich ja gar nicht, oder?“.

Onkel Arno hatte seinen Kopf nach Abschluss der Massage zu Nepo umgewandt. In seinem Mund standen aussichtslos einige Zähne wie Figuren einer Schachpartie kurz vor dem Unentschieden. Über sein Gesicht liefen breite, rote und weiße Streifen. Überhaupt wirkte sein Gesicht schraffiert, wie es nicht selten der Fall ist bei Dingen, in die lange Zeit nicht hineingeschaut worden ist.

„Hallo Onkel Arno, ich hab dich gar nicht, also, Mama hat gar nicht gesagt, dass du wieder kommst“.

Nepo entschied sich, einige Schritte in den Raum hinein und in Richtung des Ohrensessels zu machen. Dabei bemerkte er, dass das Fenster, durch das Arno gestarrt hatte, den Blick auf ein gewaltiges Bergpanorama frei gab: zwischen zwei Bergrücken – etwas zu weit gespreizte, dunkelgrüne Schenkel eines V, auf denen trostlos einige Windräder steckten - erstreckte sich ein langer, blauer See. Dahinter zu viel Licht. Hinter dem Ohrensessel bemerkte er den auf dem Korkboden des Zimmers zickzackenden Schwanz der Katze.

„Arno ist tot. Seilbahnunglück. Aber dich brauch ich gar nicht erst, oder?“.

Arnos Sprache klang stoßweise. Nepo stellte sich vor, dass die Stimme sich in einer der Flüssigkeiten befinden würde, und erst in Onkel Arnos Arm gepumpt werden musste. Er entschied sich für den Schlauch, durch den unzählige Luftbläschen in einem blass lilafarbenen Gel schwammen. Sprechbläschen.

„Ja, äh, ich weiß nicht. Also vielleicht kann ich dir helfen. Oder brauchst du was? Vielleicht was zu trinken?“, stammelte Nepo.

„Ja, helfen willst du! Helfen wollen immer alle. Gut sein.“ Arnos Stimme erinnerte nun an Nepos Vater, wenn er über seine Schulter hinweg über die Großtaten seines Schwiegervaters, des Jägers, sprach. Großtaten.

„Gut. Gut. Dann frage ich dich mal, wenn du schon so großzügig bist: bist du immer schon hier gewesen?“

Unwillkürlich streckte Nepo seine Hände aus und betrachtete seine Handinnenflächen. „Ja also ich bin hier, weil ich die Katze zu dir lassen wollte, also weil die Katze zu dir rein wollte, da hab ich aufgemacht. Ich wollte aber nicht ...“

Nepo hörte wie Arnos Finger auf dem Ballonstoffoberschenkel die Pumpgeräusche der Maschine zeitversetzt nachahmten.

„Das hast du schon letztes Jahr gesagt. Und die Jahre davor. Immer an Weihnachten bringst du mir diese Katze. Aber ich weiß es jetzt. Ich weiß, dass die Katze nur ausgedacht ist so wie die Begründungen deiner Tante, mich hier allein zu lassen.“ Arno blickte wieder nach vorne durch das Fenster. Die Augenlider zitterten wegen des übermäßigen Lichts. „Ihren eigenen Mann allein zu lassen“, ruckte Arno im Takt der Maschine, nun aber merklich leiser. Er sank in die Rückenlehne des Sessels und schloss die Augen.

Nepos Bauch hatte wieder zu jucken begonnen. Es musste etwas mit der Luft in diesem Raum zu tun haben, jedenfalls fiel ihm auch das Atmen zunehmend schwer. Er machte zwei rückwärtige Schritte und beschloss, bis zum Verlassen des Raums an sich hinabzusehen. „Ich würde dann…“

„Muki!“ Als Nepo aufblickte bemerkte er, dass Arno sich von der Sessellehne aufgerichtet und bis an den Rand der Sitzfläche vorgeschoben hatte. Es war aber nicht er, den Onkel Arno gemeint hatte. Die weiße, gesprenkelte Katze war offenbar auf die Oberschenkel des Onkels gesprungen, hatte sich dort abgesetzt und ließ sich nun mit den Daumenspitzen an den Wangen massieren. Arno und die Katze blickten sich einige Momente an. Es schien beinahe so, als nickten sie einander zu.

„Nepomuk.“ Arno wandte seinen Blick von der Katze weg auf Nepo zu. „Nimm sie bitte mit. Und sei gut zu ihr, ja?“

Nepo nickte. Gerade als er, gemeinsam mit der Katze im Flur angekommen, die Tür hinter sich schließen wollte, hörte er ein leises, gespielt wirkendes Wimmern aus dem Zimmer. Er schaute durch den verbliebenen Spalt. Onkel Arno wandte ihm sein Gesicht zu. Es wirkte verzerrt wie bei Kindern, die gewohnt sind, stets ihren Willen zu bekommen.

„Kannst du bitte die Tür einen Spalt offenlassen?“

Nepo nickte langsam und sagte ein tonloses „Gute Nacht“ in Richtung des Zimmers. Dann glitt er die Stiege hinauf, es wirkte beinahe so als würden die Stufen unter ihm in die exakt gegenläufige Richtung mitsteigen und seine Füße geräuschlos nach oben heben. Er stieg in sein Bett, zog die Decke bis an jene winzige Kerbe unterhalb seines Kinns, in der sich seit einigen Tagen ein verhaltener Druckschmerz aufhielt. Das letzte Geräusch, das er vernahm, war das langsame, spitzfingrige Schreiten der Katze über seine Matratze, bis sie sich auf Höhe seines Bauchnabels auf der Bettdecke einrollte.

Als Nepo aus traumlosem Schlaf am nächsten Morgen aufwachte, die Sonne stand schon hell über der Vorstadtsiedlung, lag sein Kopf in seinen wie zu einem Nest geformten Händen. Und unter der Stelle der Bettdecke, auf der am Ende der Nacht die Katze gelegen hatte, sickerte langsam ein Kreis nasser Wärme.

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Thimo von Stuckrad

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freiVERS | Jakob Leiner

mittelgroßes vøglbuch

1

kennt ihr schon
den kleiber das
ist ein vogel
der aussieht wie
ein mini dachs
in der luft.

.

2

am leistenband verfängt
sich eine überzeugung
kleiner wandervogel
stechende trillerschar.

.

3

und
im
fluchtpunkt
der
vedute
meißelt
trommelt
etwas
buntes
ohne
kopfweh
zu
erwecken.

.

4

alle suchten
auch jenen zinnoberroten vogel
der aufflog um in der sonne zu singen.

.

5

eine schwalbe stürzt sich panisch
in den efeu der stadtmauer
la tour des esprits
zurück in die luft
und lässt eine feder tropfen.

.

6

wir
sind das stratum basale
eulenwetter
lauerjäger unter einer decke
aus spukhafter anmut
bleibt weiß und ziegelrot der schräge blick sieh
flügelschlag
ein sprung
im glas im tann.

.

7

weil sie schön ist sind 2 schubidus
verrückt in die verliebte welt.

.

8

grasmücke
das ist kein grund
paranoid
aufzutreten
erde tut gut
und man wage
tausendmal neu
mit einem zwitschern
im gesicht.

.

9

im see stellt ein erpel
seinen motor an
der kleine runabout
schafft
tatsächlich einen wasserstart
vor begeisterung
schnatternd.

.

10

unter donnernder bläue
gellen des obersten reihers
der sich in die adria stürzt.

.

11

da im gebüsch
hantiert ein zaunkönig und singt
herzerweichend dazu
(der unterschnabel muss ordentlich vibrieren)
doch es war eine list
der weg endet blind als
große flusswiese auf der

.

12

rempelt
der buch den gold
der gold den grün
der grün den buchfink
freut sich die meise
am knödel.

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13

künftig
wird der wald zusammenwachsen
und der kuckuck
den man nicht umsonst
um die zahl der lebensjahre fragt
sein ei in fremde nester
legen.

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14

ich strecke mich aus
und denke an vögel
vor allem den adlern
gedenke ich.

 

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Jakob Leiner

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POEDU - Text des Monats Jänner

Mein Zimmer
ein Himmelbett wie Piratenschätze,
ein Klavier, das weich wie Wolken ist,
eine „Sternchenpracht“ die laut und leise sein kann,
süß am goldenen Himmelszelt entfacht,
zu Hause wie weiße Schokolade,
ein Klackern...klack...klack, der schönste und gemütlichste Ort,
ein Kakao wie der Schnabel meines Vogels,
ein Zitronenkuchen, der warm und süß schmeckt,
der Abend, der gelb ist,
gold so unendlich lang, weil ich nicht einschlafen kann.

Felina

(8 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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.Die Aufgabe diesmal kam von Christoph Wenzel:

Stell dir vor, du müsstest anderen dein Zimmer beschreiben, dürftest dafür aber nur einen Gegenstand, eine Farbe, ein Geräusch usw. benutzen: „Wenn mein Zimmer ein Geräusch wäre, dann wäre es …“ Vervollständige die Sätze. Versuche nun die gefundenen Beschreibungen noch etwas genauer zu fassen, indem du z.B. einen „Relativsatz“ anfügst: „Mein Zimmer ist eine Blume, die das ganze Jahr blüht“. Jetzt verschiebst die Halbsätze jeweils um einen nach unten. Und schaust, was passiert ist.

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>> POEDU - das Buch

>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder

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freiTEXT | Katharina Wulkow

Sonst wirkt es nicht

 

Eine Hand auf dem Geländer. Fingerspitzen ertasten Sandkörner. Risse im Holz. Am Himmel kreisen Möwen, unter den gellenden Rufen wogt die Ostsee.

Kristin überspringt die letzten zwei Stufen. Für einen Atemzug hängt der Schwimmreifen um ihre Taille. Sie ist bereit. Über den Strand zu wetzen, sich ins Wasser zu stürzen. Die Luft riecht wie damals. Das Ufer voller Algen, alle finden’s ekelhaft. Nur Kristin nicht. Sie denkt an Spinat. Spinat und Kartoffelpüree.

Turnschuhe versinken im Sand. Sie bückt sich, gräbt die Finger hinein, sieht dabei zu, wie er zu Boden rieselt. Weich, wie Puderzucker, nur schwerer.

Sandburgen und Burggräben, den ganzen Tag, weil die Augen ihres Bruders dabei blauer leuchten. Haare von der Sonne gebleicht, fast weiß. Geschmolzenes Eis läuft an Fingern entlang. Die Haut bitter von der Sonnencreme.

Sie winken ihr zu. Manchmal ist es unheimlich. Der Blick, die Sommersprossen, die Art, wie sie gehen. Mama eingehakt neben Jens, der sie um einen Kopf überragt. Lachend kommen sie näher. Das gleiche Grübchen. Links. Kristin fährt sich über die Wange, bohrt den Finger in die kleine Vertiefung. Die zwei lassen sich neben ihr nieder, das Meer in den Augen. Wellen wischen die Jahre fort.

Sie sitzt zwischen Menschen. Erahnt, was mal war. Wie auf einem alten, verblassten Foto. Gegenüber ihre Großeltern. Omas Gesicht gerötet, wie immer, wenn sie sich einen Schnaps genehmigt hat. Neben ihr haut Opa mit der Hand auf den Tisch. Dieser Hand. Lange, breite Finger, Schwielen von der Landarbeit.

Kristin ist sieben, als er sie eines Morgens aufweckt, den Zeigefinger auf den Lippen. Es dürfe nicht gesprochen werden, das hat er am Abend zuvor erklärt. Sonst wirke es nicht. Er hilft ihr beim Anziehen, im Halbschlaf wankt sie die dunkle Holztreppe hinunter.

Die Sonne ist noch hinterm Horizont versteckt. Sie überqueren den Hof, aus dem Stall kommt ein Schnauben. Gräser und Bäume schlafen unter Morgenreif, auf den Feldern liegen letzte Schneereste verteilt.

Opa hält Kristins Hand. So fest, dass sie schmaler ist, als er an der Quelle wieder loslässt. Die beiden ziehen Jacke und Schuhe aus, krempeln die Hosen hoch. Das Wasser sticht auf der Haut. Kristin presst den Mund zusammen, watet hinter Opa in den Fluss. Sie waschen sich Gesicht, Hals und Arme.

Bis ihre Füße klirren. Da hebt er Kristin aus dem Wasser, setzt sie auf der Böschung ab und rubbelt sie mit einem Handtuch trocken. Die Haut brennt, unter den Händen kitzelt das Gras. Opa streicht ihr über den Kopf, während die Sonne am Himmel emporkriecht.

Die Menschen am Tisch gewinnen an Farbe. Kristin entdeckt Mama in Omas Zügen, Onkel Peer in Opas Bewegungen. Puzzlestücke ihrer selbst um den Tisch herum verteilt. Hier, zwischen ihnen, ist sie der Wildfang, der jeden Abend Matsch im Flur verteilt. Die Frau, die frisch geschieden ist. Eben erst geboren.

Im Hafenkanal liegt ein Boot. Am Bug ist ein Schild festgenagelt, auf dem Lütte steht. Kristin lauscht dem Wasser, das an die Schiffswand schwappt.

Die Fenster im Dach der Pension gegenüber sind schwarz.

Vielleicht liegen sie noch wach, Mama und Jens.

Denken an Oma und Opa, wie sie ins Taxi steigen, immer wieder winkend. An Onkel Peer, der bei Umarmungen zur Planke wird. Er weiß nicht so recht, was das alles soll mit dieser Nähe und den Küsschen.

Kristin schlendert zur Lütten hinüber, sieht sich um und klettert über den schmalen Steg aufs Boot. Verharrt vor dem Steuerhaus. Geht die Reling entlang. Backsteinhäuser säumen den Kanal, eines davon sieht aus wie das, in dem sie früher gewohnt haben.

Ein Vierteljahrhundert nistet sich ein in ihrem Bauch.

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Katharina Wulkow

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