02 | Rebecca Heinrich

So ist es

Sie zu verlassen. Also: zu gehen, den Schlüssel in der Tür umzudrehen und in den Garten hinauszutreten. Nicht nur in den Garten. Darüber hinaus. Auf die Straße, unter die Straßenlaternen, neben dem Bordstein stehen. Und: zu gehen. Wohin eigentlich? Das wird unbeantwortet bleiben. Es wird auch nicht darüber nachgedacht. Das ist ja, was es ausmacht. Am Anfangspunkt losgehen und nicht zurückkehren, um wieder zurückzukommen, nur eben woanders, also: an einem anderen Anfangspunkt. Die erste Station wieder aufzusuchen eine Niederlage.
Oder doch bei ihr zu bleiben. Also: zu gehen, den Schlüssel in der Tür umzudrehen und über den Garten einzukehren (heimzukehren wollen wir nicht sagen, das steht an diesem Punkt noch zur Debatte). Nicht nur über den Garten zu gehen, sondern ihn zu überwinden. Das Gras sich aufrichten lassen. Der Impuls, eine Narzisse zu pflücken und mitzubringen. Wem eigentlich. Dem Schreibpult? Oder doch dem Küchentisch? Dann doch nicht. Also: das Ertasten des Loches; und wieder passt der Schlüssel nicht auf Anhieb. Der erste Schritt am Laminat (bezeichnend für das Alter; es war ja nicht genug Geld vorhanden, das wird auch so bleiben).
Den Boden rausreißen wollen. Oder doch lieber drin lassen. Die verleimten Bretter herausreißen und sie dann wieder verlegen, bloß anders. Am liebsten das Gras im Garten wachsen lassen. Wild wuchernd. Das will sie doch. Das hat sie gesagt. Das hat sie gesagt und gewollt und dabei aus dem Fenster gesehen, am Brett die Handfläche abgestützt, ihr Blick auf den fallenden Fliederblüten, bedächtig. Die Atmung verdächtig.
Ich habe ihren Nacken geküsst und sie hat das Fenster geöffnet.

Das Geschirr abspülen, die Hemden zusammenlegen (weiß mit etwas Spitze: der Sommer wird versprochen sein). Dort der Küchentisch: Ihre Packung Zigaretten, eine halb gerauchte wieder hineingesteckt, wir müssen sparen, weißt du, davon kannst du nicht leben, das wird nicht gehen, ich verdiene auch nicht so viel und du weißt ja. Du weißt ja. Hilfe, die kostet. Ja, es kostet. Und wenn schon.
Das Fallobst einsammeln, die Brennnesseln ausreißen, der Löwenzahn. Gelbe Pollen an den schwarzen Handschuhen, der Flieder wirft Halbschatten auf den Boden. Daneben Sonne auf den zerfallenen Blüten. Den Sommer bemerkst du erst, wenn er dich aus dem Haus treibt. Dort der Gartenstuhl. Ein paar Bücher: Schlag, Gavalda, Hermann. Angelesen. Zwei, drei Sätze unterstrichen. Also zwölf Seiten gelesen und jeweils zwei, drei Sätze hervorgehoben. Gelbe Pollen auf dem schwarzen Bezug. Dort ein Loch. Nicht vom Lesen.

Das Haus zu verlassen. Das Schlafzimmer, das Einzelbett mit zwei Decken, mit zwei Kopfkissen und zwei Gläsern. Ungemacht, umgeschlagen und unberührt seit dem Morgengrauen. Bedeutet: dem Boden mit den Fotos, Notizblöcken, Wanderführern, Artikelseiten, Zeitungsausschnitten und Werbeprospekten nicht zu antworten. Die Papierstapel zu verlassen. Dann: ihr Zimmer. Ihr Brillenetui, das Buch auf dem Schemel, den roten Filzstoff vor das Fenster geklebt, der Streifen Licht, der trotzdem auf dem Sitzkissen liegt. Der Staub an den Leinwänden und die offene Tür des Schranks. Der Ärmel eines Pullovers über dem Holz. Gelbe Pollen darauf.
Der Flur, die Bilder ohne Rahmen, die Pflanzen ohne Vase (nur der Topf, es wird nicht mehr Erde geben), das Badezimmer, sogar die Badewanne, das Oliv, überall, der Spiegel mit den Spritzern, die graublauen Fliesen, die Stiege. Die Stiege, die knarrt bei jedem Schritt, der die dritte Stufe reizt; die protestiert, jedes Mal, wenn du nach oben willst, in ihr Zimmer. Als ob die Stufe ein Recht hätte darauf. Als ob sie recht hätte. Als ob.
Dieses Haus also. Mit dem Küchentisch in der Mitte, darum die zwei Stühle, der Geschirrspüler. Ich benutze den nie. Sie schaltet ihn an, ich verstehe nicht warum. Ich verstehe nicht, warum sie das tut. Ich habe noch nie verstanden, warum die zwei Stühle genau so stehen und sie den Geschirrspüler daneben benutzt, wenn ich das Geschirr mit der Hand abspüle. Als ob.
Aber der Garten. Die Terrasse mit dem Steinboden, der Wildwuchs, ja sogar das Fallobst. Ja sogar der Löwenzahn. Aber der Flieder. Sie steht draußen in diesem Halbschatten, als ob sie es sich ausgesucht hätte, dass die Sonne genauso fallen wird. Dass der Flieder genauso stehen wird, wenn sie sich diesen Platz im Garten erwählt. Ihr Garten. Nicht meiner. Mir gehört der Gartenstuhl. Und die Bücher. Zwölf Seiten gelesen, zwei, drei Sätze hervorgehoben. Der Name darin. Es kostet.
Ich habe gesagt, ich habe Angst vor morgen. Was, wenn es nicht hilft. Wird es, sagte sie, es ist nicht nötig, Angst zu haben. Sie legt meine Hand in ihre. Gelb, von den Pollen. Und wenn schon.

Zurückzukommen und die Narzissen sehen. Sich zu ihnen hinunterbeugen. Die Knie im Gras, es ist schon länger geworden, jetzt kann man es plattdrücken. Siehst du, es richtet sich auf. Das tut es immer wieder. Zumindest: Es tut so als ob. Vielleicht bleibt es auch, dort. Und begrüßt den Halbschatten. Wenn ich weg bin. Wenn ich die Narzissen geschnitten und zu einem Bund geflochten habe. In eine Vase gestellt. Ohne Erde, aber mit Wasser. Auf den Küchentisch. Oder besser in ihr Zimmer? Sie müsste mal Staub wischen. Aber dafür wird erst später Zeit sein, danach, also nachher, wenn es vorbei ist. Wenn es nichts mehr kostet.

 

Rebecca Heinrich

 

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

01 | Sebastian Franz

Im Karzer

Prinz Harrie war mal eine große Nummer. Eintausendundachtzig. So viele Pils hat das Aas beim Paule angeschrieben. Das sind fünfzehn am Tag. Das sind sechs Tage die Woche. Nur Montag, da braucht der Paule Abstand von dem ganzen Geschmeiß. Außerdem kommt da immer die Lieferung und er muss zur Metro. Das sind zwölf Wochen. Das ist Death Row. Der Hamad hat das so genannt. Der hört gerne Tupac im Benz. So sind sie, die Jungen. Der Harrie ist ein Alter. Den schreibt man mit ie, weil wir hier in Deutschland sind. Der hört zuhause Nina Simone, aber wünscht sich Reinhard Mey im Karzer. Den Karzer hat der Paule dem Jörgen abgekauft, als Tupac noch gelebt hat und der Harrie noch eine kleine Nummer war. 25 Jahre ist das her und im Karzer hat sich nicht viel verändert seitdem. Nur das Pils kostet mittlerweile 2,50 Euro. Weil hier keiner nur eins trinkt und der Paule dann nicht so viel Wechselgeld braucht. Trinkgeld gibt hier sowieso niemand, also warum 2,60 verlangen? Der Hamad hat jetzt 26 Zoll auf der G-Klasse. Chrom. Der ist ein Junger, aber die Rolex kann er tragen. Der ist ein Junger, aber kann dein Todesurteil sprechen. Der Harrie hätte es wissen müssen. Aber da war er schon nur noch Flickwerk.

Der Paule kann sich noch daran erinnern, wie der Harrie das erste Mal im Karzer war. Im weißen Anzug und mit Damenbegleitung. „Kellner, zwei Flaschen Champagner“, hat er gerufen und noch mal „Kellner“, als der Paule auch nach drei Minuten keine Anstalten machte, ihn zu bedienen. Der Erwin hat ihn kurz fragend angeschaut, weil der Neue hier den Luftikus spielte. Der Erwin war damals Boxer auf Landesebene, aber als die Marie von ihm schwanger war, da musste er ins Stahlwerk. Und dann der Schnaps und der Raub und der Knast und das waren einfach andere Zeiten. Der Paule schüttelte den Kopf und der Erwin zuckte mit den Schultern. Dann ging der Paule zu Harries Tisch, setzte zwei Pils ab und sagte: „Gekokst wird draußen.“ Da ist der Stieglitz kurz übergeschnappt und hat ihm erklärt, dass er Prinz Harrie sei, aber als der Erwin ihm die Hand auf die Schulter legte, da war er rasch wieder vernünftig. Der Paule mag vernünftige Gäste. Die sind besser fürs Geschäft. Zwei Wochen später kam Prinz Harrie wieder in den Karzer. Im roten Anzug, mit einem halben Frauenhaus im Schlepptau und schließlich immer öfter. Dem Paule war es immer ein Dorn im Auge, wenn der Harrie auf seinen Absacker reinschneite. Doch es bedeutete auch immer anständige Frauen. Der Paule mag anständige Frauen. Die sind besser fürs Geschäft als die Handvoll Eulen, die hier sonst verkehrt. Und tatsächlich hat der Harrie sich nie beim Koksen erwischen lassen, bis auf das eine Mal vor sieben Jahren. Zwei Tage später hat der Paule den Kalle getroffen, als er in der Metro war. Dem Kalle gehört der Trichter und da war der Harrie auch rausgeflogen, genauso wie im Pacha und im Hirsch. Das hätte der Markus vom Wirtschaftskontrolldienst erzählt. Der Kalle und der Markus kennen sich noch aus der C-Jugend und deshalb passt das schon mit den Kontrollen.

Beim Harrie passte nichts mehr. Der Hamad wusste das. Der Harrie wusste das. Und so konnte er auch nicht ablehnen, als der Hamad ihm seine neuen Sitzbezüge zeigen wollte. Schwarzes Leder mit goldenen Nähten. Wirklich schöne Bezüge, wirklich. Aus der G-Klasse nimmt man alles ganz anders wahr, intensiver. Was man für einen Überblick hat. Über die Straße, die Menschen, das Geschäft. Wirklich ein tolles Auto, wirklich. Der Hamad war ein schlauer Junge. Er war clean und er war überzeugend. Wirklich ein großzügiges Angebot, wirklich. Und als der Harrie nach zwei Runden über Bahnhofstraße und Neue Straße wieder ausstieg, da war er Hamads Knecht.

Für eine Weile ging das gut und dann kamen die Wetten. Anfangs hatte der Harrie nur mit dem Mario gewettet, dass Italien rausfliegt und Recht behalten. Marios Eltern kamen damals aus Kalabrien und haben hier das La Spezia aufgemacht. Ihrem Sohn haben sie beigebracht, dass die Deutschen keinen echten Mozzarella auf ihrer Pizza brauchen, weshalb mehr auf der Haben-Seite bleibt. Deshalb war es für den Mario kein Problem, seine 200 Euro Wettschulden beim Harrie einzulösen. Für den Harrie aber war es ein immer größeres Problem, seine Drogen zu zahlen. Und so wurde Koks zu Pep und Pep zu Crack und der Ivan vom Tipico wollte seine Kohle und der Harrie dachte, dass der Hamad es nicht merken würde. Aber weil der Hamad ein schlauer Junge war und der Harrie ein immer größeres Problem, sitzt der Harrie jetzt wieder im Karzer und wartet. Die letzten zwölf Wochen brachte er hier zu und weiß, dass er es hätte wissen müssen.

Die ganze vertrackte Angelegenheit könnte auch schon lange erledigt sein. Aber der Hamad ist ein schlauer Junge und weiß, dass der Harrie dafür zu viele Gläubiger hat. Als endlich alles geregelt war, schickte er den Deniz in den Karzer. Der Deniz ist ein Junger und würde gerne Rolex tragen. Deshalb macht er, was der Hamad ihm aufträgt und unterbreitete dem Paule ein Angebot. Doch der Paule will damit nichts am Hut haben, denn er ist kein Mörder. Schließlich wurde er damals nur wegen Totschlags verurteilt. Das sollte der Hamad eigentlich wissen. Ist doch ein schlauer Junge. Aber der Harrie dürfe hier wieder rein, wenn der Hamad die Rechnung zahlt.

Seitdem ist der Harrie wieder jeden Abend hier und säuft. Außer montags. Jetzt säuft er seit zwölf Wochen und merkt trotzdem, wie Deniz sich an Tisch 4 setzt. Der Harrie schaut dem Paule in die Augen. Das erste Mal seit sieben Jahren. Er rappelt sich auf und wankt hart nach Lee zur Kellertreppe, stürzt hinunter ins Klo, reihert eine Woge Kotze an die Wand über den Pissoirs und kann nichts mehr halten. Deniz steht auf, nickt dem Paule zu und geht hinterher. Der Paule trinkt beim Arbeiten schon lange nicht mehr. Jetzt schenkt er sich einen Klaren ein. Ausgerechnet bei ihm auf dem Klo muss das passieren. Noch einer zum Nachspülen. Aber wohin soll der Sünder auch rennen? Der Harrie war in seiner eigenen Pisse ausgerutscht, wird es später heißen. Platzwunde. Erstickt im Pissoir. Harries Muskeln entspannen und milder Druck bettet sein Gesicht in die Wärme der Kotze, bis die Lichter nach und nach ganz im Regengrau verschwimmen. Deniz hat sein Geschäft verrichtet und kommt wieder hoch. Er nickt wieder und legt einen Umschlag auf den Tresen. Der Paule muss das Geld nicht zählen: Es sind genau zweitausendsiebenhundert Euro. Und Prinz Harrie, der war mal eine große Nummer.

 

Sebastian Franz

 

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

24 | Sigune Schnabel

Aschetage

Hier ist der Raum tiefer
als jeder Gedanke,
fällt Regen von Dachkanten.

Seit Stunden
raschelt es in meinem Kopf,
und etwas brennt sich ein,
wenn wir so schütter beieinander liegen.

Im letzten Wortbruch
suche ich nach Scherben
für mein Sommerhaus.
Doch du greifst mich am Nachtsaum,
schleifst mich fort,
aus Angst, hier zu verwittern.

Sigune Schnabel

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

23 | Martin Peichl

Wie man Dinge repariert (Auszug)

WEIHNACHTEN – das ist verkatert den Zug ins Waldviertel verpassen und zwei Stunden lang auf den nächsten warten. Es ist kurz nach Mittag, die Geschäfte am Hauptbahnhof haben noch offen. Ich überlege mir ein Bier zu kaufen, aber dann fällt mir ein, was du dir von mir zu Weihnachten gewünscht hast, also setze ich mich auf eine Bank und öffne meinen Laptop. Irgendwo nach Tulln ist ein Baum auf die Schienen gestürzt. Ich muss die S-Bahn nach Absdorf-Hippersdorf nehmen und dann weiter Richtung České Velenice. Ich will dir 3 FUN FACTS über Absdorf-Hippersdorf schicken, aber eine schnelle Internetrecherche ergibt, dass es nicht einmal 1 FUN FACT über Absdorf-Hippersdorf gibt.

Die -30-Prozent-Schilder in der Auslage sind genauso rot wie die -50-Prozent-Schilder, sind genauso rot wie die -70-Prozent-Schilder. Es wäre besser, denke ich, wir würden uns alle selbst Rabattschilder umhängen, das würde vieles erleichtern, wenn ich mir zum Beispiel ein -30-Prozent-Schild umhängen würde, das wäre ehrlich, weil 100 Prozent zu verlangen, wenn man genau weiß, dass man selbst keine 100 Prozent geben kann, ist dreist, ist auch irreführend, ist schlichtweg Betrug. Und je nach Lebensphase oder Situation könnte man die Rabatte auf das eigene Ich anpassen. In der Bar nach dem vierten Bier zum Beispiel könnte man mit dem Preis noch weiter runtergehen. Oder, wenn man ausnahmsweise mal ausgeschlafen ist, ein wenig rauf. Angebot und Nachfrage würden sich ganz natürlich selbst regulieren. Und zu Weihnachten dann Ausverkauf, runter mit den Preisen, ALLES MUSS WEG.

Es ist eine seltsame Zeit mit dieser Endjahresstimmung direkt unter der Haut, wenn die Listen im Kopf ganz schwer werden und die Gedanken einstürzen wie Schneehöhlen, wie Vanillekipferl-Bruchstücke hineinbröckeln in deine Wahrnehmung und aus dir rausbrechen in Form von sentimentalen Ungenauigkeiten. Ich überlege, dir das zu schreiben, immer überlege ich, dir zu schreiben, aber du bist nicht alleine, du bist besetzt, bis ins neue Jahr hinein. Stattdessen schreibe ich ein paar Listen für dich: die 10 schönsten (alternativ: die 10 schirchsten) Hauswände, gegen die ich dich gedrückt habe. Oder: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, es könnte dich jemand schwängern (alternativ: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, du könntest ein Kind wollen von mir).

Länger schon schreibe ich an einer Liste mit Wörtern, die wir betrunken besser aussprechen können als nüchtern. Deine Nummer 1: BINDUNGSHORMONE. Meine Nummer 1: KURZFRISTIG. Die Liste ist WORK IN PROGRESS, und wärst du jetzt hier, würdest du sagen, weil alles für mich WORK IN PROGRESS ist, auch unser Verhältnis, unsere Fast-Beziehung oder unsere Manchmal-Beziehung oder was auch immer das ist, was wir uns da einbilden. Du hast ja recht: alles WORK IN PROGRESS, vor allem das eigene Ich. Und egal an wie vielen Leben ich mich parallel versuche, kein einziges davon habe ich im Griff. Und ich will dir schreiben: Schau, ich weiß nicht, wer du für mich bist, aber ich weiß, dass niemand so schön das Wort SCHNAPS ausspricht wie du.

Martin Peichl

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

22 | Nico Feiden

winterfremde

wir teilten diesen  morgen
auf
der atem beschlug die fenster
von der kühle sprachen die fahnen im wind
zu zittern lag in ihrer natur.

jenseits der luft lernten wir zu schreien
was nicht gesagt werden konnte:
vielleicht halten die farben den schlaf zurück
dann, am abend zieht die kälte ein
während kippen schneeflocken vergiften

überwintern zu zweit
in der provinz oder der periepherie
als ahnung der stimmen
an den masten
die flaggen flüstern gebete
noch ohne nation.

manchmal wenn die autobahnen
schweigen
hören wir das knistern in der luft
atmen die leere
folgen fremden fußabdrücken im schnee
und ahnen nur,
dass es unsere eigenen sind.

Nico Feiden

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

21 | Alexander Rall

Antiquariat Unverzagt

Die Deutlichkeit mit denen der Staub
zwischen den Buchdeckeln qualmte

Wo finde ich, fragte ein Kunde
fantastische Literatur

Ich fühlte mich auf meinem Stuhl
wie plötzlich gezeichnet
die anderen Stühle begannen zu scharren
Blätter rätselten leise

In dem späten Abendhimmel dort
in dem Buch zwischen den schwarz-weiß
glühenden Feldern

Alexander Rall

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

20 | Lütfiye Güzel

Wieder

Vortrieb. Auftrieb. Widerstand. Schwerkraft.
Ich sehe durch das Fenster. Meine Beine über Kreuz.
Das Herz nicht mehr zu retten.
Eine mittelgroße Tasche ordentlich im Gepäckfach verstaut.
Die Fensterklappe offen.
Beim Start. Bei der Landung.
Ein schneller Überblick.
Von außen. Von innen. Nur weg hier.
Nichts mehr aufräumen. Nichts mehr reparieren.
Die Wespen auf dem Mohnbrötchen beobachten.
Ganz normal „Guten Tag!“ sagen mit
fester Stimme und dabei innerlich
zerrüttet. Nicht nur angeschlagen.
Ausgehebelt.
Für immer und drei Stunden.
Heiße Tränen bei der Mittagsmeditation,
so unter dem Etagenbett, leise, allein.
Halb Mensch, halb Käsestange.
„Escritora“ steht da neben der Tastatur.
Meine Botschaft ist keine.
Kein Platz mehr für Sentimentalitäten.
Die Lage zu ernst. Das „Ich“ ist vorbei.
Alle fahren Panzer.
Den Vögeln Brotstücke auf die
Fensterbank legen.
Manchmal Dankbarkeit ernten.
Manchmal nicht. Dann liegen die Stücke
am Abend noch da und dazwischen ein
bisschen Vogelscheiße, wie Senf.
Vortrieb. Antrieb.
Widerstand.
Widerstand.
Widerstand.
Widerstand.
Widerstand.
Widerstand.
Wieder.
Widerstand.

Lütfiye Güzel

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

19 | Stephanie Divaret

Die Welt ist alles, was der Fall ist.
Ludwig Wittgenstein

Die besten Momente hatte der Friedensstifter
in seinem Rattenloch.
Unversehens sprang er aus dem Licht :
Berühre meine Seele nicht! : ins Dunkel.
Wochenlang umkreiste er die Frage
nach dem richtigen Moment.
Fatale Hilfsarbeiter schwirrten wohl herbei,
flüsterten ein, brachten ihm Spezereien.
Dann rief die Menge: Holt ihn!
Bunte Hüte flogen, Licht floss und wogte
auf goldnen Dächern.
Geblendet hob er also mählich seine Hand
(ob er sie segnen sollte?).
Stille. Bis er sprach.
Der Trost kandierte ihre Herzen,
ein süßes Meer aus Zuversicht.
Bis jener, mit dem schwarzen Hund,
Hand vor der Brust, kurz, trocken, zischte:
Fass!
Die Schwerkraft tat ihr Übriges.

Stephanie Divaret

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

18 | Anna Neuwirth

darüber liegt eine schicht

in ihrer schachtel liegen zehn Sterne

ihre wurzeln sind nicht ausgegraben
sie stecken fest im boden
ausgraben bedeutet der stamm würde umfallen

da wo früher ein zahn war ist jetzt ein loch
die türen lassen sich nicht wieder schließen
die fenster wurden nie geöffnet

es ist hell genug
sie findet auch ohne brille nach hause

Anna Neuwirth

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

17 | Harald Kappel

Vergessen und Erinnern

Hunde bellen
in kühlem Fell
mit glühenden Pfoten
sie wissen nicht
warum Ewige Lichter
in Novembern
auf den Gräbern brennen
schon bald
fällt dunkler Tau herab
neblige Streifen
schon bald
nisten Schatten
hinter unseren Lidern
wir wissen nicht
warum die Tiere
in Novembern
an den Gräbern bellen
kosmetisch
erinnern wir
sanfte Haut
und Ewige Uhren
wir wissen nicht
wir wissen nichts

Harald Kappel

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at