freiTEXT | Sean Keibel

Die Regeln unseres Hauses

Die Regeln unseres Hauses landeten wie vom Himmel gefallen eines Tages einfach auf dem Tisch. Dort wurden sie dann ohne Umschweife ausgebreitet, wie man einen Fächer öffnet, und als vollendetes Regelwerk ohne Diskussion eingeführt. Zeit für eine Diskussion wäre zweifellos gewesen, auch in der Folgezeit für viele Diskussionen noch, man machte uns sogar das Angebot dazu, offerierte kleine Geschenke, bettelte uns schließlich geradezu auf Knien an – alles umsonst, wir konnten nichts mit den Regeln anfangen außer sie zu befolgen. Etwas anderes ließen sie nicht zu. Allein schon weil beim Lesen – wenige wagten sich an das Unterfangen alles durchzulesen, und wessen Augen durch die tausend Querverweise noch nicht nach links und rechts ausgeschlagen waren, der konnte sie fortan für nichts mehr benutzen und war als unbrauchbar gezeichnet für das Haus – weil beim Lesen schon die nächste, die übernächste Regel sich dreist hineinschob, schließlich eine oder mehr von einem ganz anderen Ort, allein schon deshalb blieb uns nichts anderes übrig als sie alle abzunicken.
Mancher Fremder, der kam, um Gast zu sein in unserem Haus, zeigte sich schockiert über unsere vollständige Einbindung ins Regelwerk, über den Grad unserer Aufopferung, und natürlich witterte er Ausbeutung, was er uns freilich verschwieg, um uns ein würdeloses Eingeständnis zu ersparen. Stattdessen wurde zu einer späten Stunde – wir lauschten in solch einem Fall – der Hausherr konfrontiert, der sich zur Überraschung noch jeden kritischen Gastes überaus verständig zeigte. Mit einem Ton der Dankbarkeit, wie wenn man nach jahrelangem Alleinstehen mit einem Problem endlich ein offenes Herz und Ohr gefunden hat, versicherte er dann seine eigene Unzufriedenheit mit der Lage, worauf der Gast beruhigt gehen konnte, denn er hatte seine Schuldigkeit getan.
Die Regeln griffen ineinander, und selbst wenn sie es nicht getan hätten, wären sie voneinander gerade einmal soweit entfernt gewesen wie Bruder und Schwester; aus dem gleichen Leib kamen sie, den wir natürlich nicht kannten, in den wir also keine Einsicht hatten, weshalb wir auf ihre Sinnhaftigkeit und Unaustauschbarkeit vertrauen mussten – das wiederum hatte der Hausherr nicht gern, doch beschwerte er sich nie bei uns, allzu bewusst war ihm das Zutun seines eigenen mangelnden Umgangs mit uns zu unserer Hilflosigkeit. In der Konsequenz all dessen wurden wir zu den fleißigsten Regelbefolgern überhaupt, denn der einfachste Umgang mit Regeln ist, sie zu befolgen. Schon beim leisesten Versuch, einmal zwei oder gar drei Regeln gedanklich zusammenzubringen, wurde uns schwindelig. Die Regeln des Geschirrspülens überschnitten sich mit den Regeln des Kücheputzens, dies über das Element des Fußbodens, der sowohl gewischt zu werden hatte als auch nass werden konnte beim Geschirrspülen; über denselben Fußboden überschnitten sich die Regeln des Kücheputzens mit denen des Dieleputzens; die überschnitten sich mit denen des Kohlenschaufelns und -lagerns, welches sich in der Kammer unter der Treppe abspielte; die mit denen des Auskratzens und Wiederbeladens der Feueröfen. Nur einer war verantwortlich für nur eine Aufgabe, die Regel saß an der Verbindungsstelle zweier Aufgaben, derer es pro Aufgabe einige gab, sodass ein Einzelner durchaus mehrere Regeln beherrschen, aber niemals mehr als eine auf einmal beherzigen musste. In der Aufgabe lag die völlige Verausgabung.
Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Der Vorabend des Aufstands ist noch fern; werden wir auch einmal unseren Hausherrn stürzen, und so kommt es gewiss, wird doch keine Revolution daraus werden; schon sehe ich uns Kopf kratzend um das Regelwerk stehen, den Hausherrn im Ofen, wir allesamt unfähig, Justierungen daran vorzunehmen. Hätte man es uns nur nicht als Ganzes, als Fertiges vorgelegt – so aber kann man es nur ganz annehmen oder ganz verwerfen. Ist auch fast alles darin hervorragend gelungen und nur eine Regel missraten – das Werk ist entweder ganz geglückt oder ganz verdorben. Aber das müssen meine Brüder und Schwestern selber begreifen, wenn er da ist, der Moment, dass man bereit sein müsste, eine ganze Zivilisation zu verwerfen, wenn man nicht flicken kann. Die Regeln unseres Hauses werden bleiben, nicht solange der Hausherr, sondern solange das Haus bleibt.

 

Sean Keibel

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>