freiTEXT | Carina Plinke

Was ist das für ein Universum

Der Wind rappelt an der Toilettentür, während ich pinkle. Die ersten Tropfen Wodka sind in mein Gehirn gesickert und wabern durch meine Gedanken, verwandeln die Vorstellung davon, wie es ist, dir zum ersten Mal einen zu blasen in eine Erinnerung an einen klebrigen Center Shock. Sehr sauer, eine Kindheitssünde, von der jeder weiß, dass sie scheiße ungesund sein muss und trotzdem irgendetwas Geiles daran ist, wenn die Flüssigkeit so aus dem Inneren in den Mund sickert.
Ich schüttele mich, genauso wie ich versucht habe, die Vorstellung von dir abzuschütteln. Doch das hat nicht mal funktioniert, als wir uns noch gar nicht kannten und ich nur daran dachte, dass es dich gibt.
Also stürze ich mich rein. Ich wähle besoffen deine Nummer und höre jemanden Hilfe schreien. Während der Hilfeschrei besoffen beim Pinkeln in den Rhein fällt und schneller untergeht, als ich es erwartet hätte, sagst du: „Hallo?“
Ich sage: „Ey, hier ist grad vor meinen Augen einer in den Rhein gefallen.“
Und du so: „Krass!“
Dann 10 Minuten gar nichts, bis wir schweigend auflegen und ich ein bisschen weine.
Nochmal 10 Minuten später schreibst du: „Konnte er gerettet werden?“
Ich frage mich, welches Video dich die letzten 10 Minuten abgelenkt haben könnte und schreibe direkt: „Nein. Er ist weg!“
Krass!

Eine Stunde später klingelt es an meiner Tür und ich bin es, die „krass“ sagt, aber Center Schock denkt.
Du zockst, zuckst mit den Schultern: „Hab uns Döner mitgebracht!“
Ich lasse dich rein und weine heimlich auf der Toilette, weil ich denke, dass das ein Herzinfarkt sein muss, was grad in mir abgeht. Mein linker Arm kribbelt und ich meine, das ist doch der, der zum Herzen führt. Dann zittere ich, dann bebe ich und dann küsst du mich.
Bevor du in mich eindringst, erzählst du mir von dieser Maus, die ins Universum fliegen wollte, aber Mäuse dürfen nicht in Universen fliegen, deshalb musste sie das heimlich machen und ich denke, Alter, was für eine scheiß Maus, was hast du geraucht, und muss dabei die ganze Zeit an den Mann denken, der im Rhein verschwunden ist und muss immer und immer weiter ans Verschwinden denken.

„Und? Hat die Maus es geschafft?“
„Keine Ahnung. Aber so n bisschen Universum wäre doch ganz geil, oder?“
„Das Universum ist das größte Geheimnis der Welt! Wusstest du, dass die Atmosphäre nur ein dünner Gasschleier ist, der uns am Leben hält?“
„Hä?“, sagt du.
Ich sage: „Egal!“
Wir liegen im Bett und du hältst mich diese Nacht am Leben. Die letzten zwei Jahre waren einsam. Von zu Hause ausziehen während einer Pandemie ist gewagt. Ich höre deinen Herzschlag und deine Haut ist ganz warm. Letztes Mal hatten wir noch keinen Sex, sondern haben über unsere Familientraumata gesprochen. Traumata sind erblich, haben wir beide mal gelesen. In unserer Kindheit bekamen wir nicht viel körperliche Nähe. Bei mir war das schwer, weil meine Mutter von ihrem Vater vergewaltigt wurde und familiäre körperliche Nähe eine Bedrohung war. Bei dir war das schwer, weil deine Mutter eigentlich keine Kinder wollte, aber 10 bekommen hat. Wir reden darüber, dass wir das anders machen wollen und ich glaube dir. Sonst reden wir nicht viel, dabei ist auf dem Weg vom Mädchen zur Frau viel Platz für den Einfluss junger Männer.
Was soll ich machen? Deine Nähe tut grad so gut nach zwei Jahren ohne Umarmung. Du tust grad so gut nach einem ganzen Leben ohne dich.

Es ist ein habgieriger Morgen. Der graue Himmel frisst meine guten Gefühle. Du hast um vier Uhr gefragt, ob du jetzt gehen sollst. Ich habe gesagt: „Jetzt kannst du auch bleiben!“ und dachte:
nur dafür hab ich dich doch hier behalten, jetzt mach bloß keinen Scheiß, und ergänzte noch: „es ist ja auch kalt geworden.“
Zur Belohnung hast du mich auf die Stirn geküsst und mich wichtig gemacht. Glaub ich. Du liegst noch eine ganz lange Weile neben mir. Das tut gut.
Viel Platz ist in meinem kleinen Apartment nicht, aber ich finde, du passt gut rein. Ich glaube, du findest das nicht, als du zum Gehen aufbrichst und irgendwie weiß ich, dass wir uns nicht wieder sehen werden. Meine Freundinnen sagen zu mir, dass ich ihn schließlich von Tinder kenne und was ich erwartet hätte. Ich kenne Paare, die sich über Tinder gedatet haben und jetzt glücklich sind, verteidige ich mich. Ausnahmen, sagen meine Freundinnen.
Ich wiederhole das Wort und hoffe, es bringt mir Glück: Ausnahme.

Der Regen ist orange. Ich mache das Fenster auf und frage mich, ob Gefühle leichter werden, wenn man älter wird. Oder ob Gefühle einfach verschwinden, wenn man etwas 1000 Mal gemacht hat.
Ich würde dir so gerne etwas hinterher rufen, während du da lässig zum Auto gehst. Deine dunkeln Haare sind im Nacken ganz kurz rasiert, deine Schultern füllen die Jeansjacke gut aus. Ich habe mal gedacht, dass jemand wie du sich niemals für mich interessieren könnte. Der Gedanke, dass ich möglicherweise alles selbst schuld bin, weil ich wieder zu verschlossen war, meldet sich pünktlich zurück. Die Gedankenblasen kommen immer, wenn das Objekt der Begierde weg ist. Mit geschlossenen Augen gehe ich in die Küche, unter meinen nackten Fußsohlen bleiben Essensreste kleben. Ich stelle die leere Flasche Wodka vom Tisch auf die Arbeitsfläche, der Red-Bull-Geruch klebt noch an den Wänden. Mein Handy war gestern Nacht in der Küche liegen geblieben, zwischen der zermürbenden Sehnsucht nach körperlicher Nähe und der abstrakten Erinnerungen an den Sturz eines Betrunkenen in den Rhein.
Dann öffne ich Tinder. Ich probiere zum letzten Mal im Rhein zu schwimmen. Versprochen.

 

Carina Plinke

 

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