freiTEXT | Leonard Merkes

Alles ganz normal

Ich nehme das Buch in beide Hände, lege es auf den Teppich und beuge mich darüber. Mein Zeigefinger bewegt sich von Zeile zu Zeile, immer an den Buchstaben entlang. Meine Lehrerin sagt immer, dass ich das nicht brauche. „Nur mit den Augen“, sagt sie. Aber ich traue ihr nicht. Die Wörter, die ich noch nicht kenne, murmele ich vor mich hin, damit ich mich später besser an sie erinnern kann. Sie würde seufzen, wenn sie mich jetzt sähe. Mir ist das egal. Ich bin acht Jahre alt. Ich lese flüssig und schnell.

In dem Buch vor meinen Knien gibt es viele Bilder. Ich blättere kreuz und quer darin, lese etwas über Masern, Mumps, Röteln und die Anwendung von Wadenwickeln. Die Seiten sind aus dickem, matt glänzendem Papier. Es ist ein Ratgeber über Kinderkrankheiten, den Mama und Papa im Bücherregal im Wohnzimmer aufbewahren. Sie holen ihn hervor, wenn es mir schlecht geht, aber sie nicht richtig sagen können warum.

In einem grün umrandeten Infokästchen im Kapitel über Babys steht, dass der menschliche Körper bei der Geburt zu 95 Prozent aus Wasser besteht, dieser Anteil sich aber im Laufe des Erwachsenwerdens um 25 Prozent reduziert. Warum erfahre ich nicht.

Bekommt der Körper beim Wachsen undichte Stellen? Ich überlege, ob es bei allen möglichen Gelegenheiten aus mir heraustropft. Beim Fußball, beim Einkaufen, wenn ich wütend bin. Vielleicht habe ich ja schon 10 Prozent Wasser verloren. Ich gehe in die Küche und fülle ein großes Glas bis zum Rand. Ich trinke es in einem Zug. Nachher ist mir schlecht, aber ich bin irgendwie beruhigt. Ich fühle mich bei 80 Prozent.

Am Abend steht Papa vor mir, er beugt sich zu mir herab. Sein Gesicht ist ganz nah bei meinem. Er schreit mich an und schüttelt mich. Mama drückt sich gegen die Wand und ruft „Stopp“, aber er hört sie nicht. Etwas muss ihn verärgert haben, aber das ist in diesem Moment nicht wichtig. Ich glaube er hat es sogar vergessen. Die Spuke läuft ihm übers Kinn. Ich würde sie ihm abwischen, aber das traue ich mich nicht. Um mich herum ist so viel Lärm.

Der Blick aus dem Fenster zeigt ein Großstadtpanorama. Leuchtreklame, Bürogebäude, das Dach des Fußballstadions. In der Ferne vier, fünf Hügel. Die Sonne verschwindet hinter der Müllverbrennungsanlage. In der Dämmerung jagen zwei Spatzen einander, stürzen hinunter Richtung Straße. Auf dem Fensterbrett Erdnussschalen und in der Bierflasche ein paar Kippen. Vor dem Café auf der anderen Straßenseite stehen Teenager, trinken Glühwein und lachen. Wind aus allen Richtungen. Die Teenager rücken näher zusammen. Neben dem Café hält ein Bus, dann die Straßenbahn. Ein Streufahrzeug kriecht durch die Straßen. Sirenen, Lichter. Er öffnet die Wohnungstür, atmen.

Später ist es im Flur wie auf dem Bach hinterm Haus, der seit einigen Tagen gefroren ist, aber jetzt zu tauen anfängt. Vorsichtig drücke ich die Kufen ins Eis. Ich bewege mich lautlos. Auf dem Weg zum Badezimmer drehe ich eine Pirouette, drehe mich im Kreis, immer um die eigene Achse, immer schneller werde ich.

„Was machst du da? Komm geh ins Bett!“ Mama steht im Flur, ein paar Schritte von mir entfernt.  Zwischen uns gibt es eine Stelle, da bricht schon das Eis. Deswegen gehe ich lieber nicht näher heran. Sie wünscht mir noch eine gute Nacht und geht dann ins Schlafzimmer zurück. Ich krieche mit Schlittschuhen an den Füßen ins Bett.

Bevor ich einschlafe, frage ich mich, ob der Körper noch immer Wasser verliert, auch wenn man schon erwachsen ist. Ich will nicht weniger werden, sage ich laut vor mich hin und halte die Tränen zurück.

Seine Hand greift nach dem Fahrschein, der ihm ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn zuschiebt, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwendet und zu tippen beginnt. Das Kuppeldach, die Fassade. Der ganze Bahnhof ist aus Glas. Er schlendert an Donut Shops vorbei, an Nagelstudios, an einem Media-Markt. Ein Mann verkauft in einem winzigen Laden Handyhüllen zum halben Preis. Sein Zug geht erst in einer halben Stunde. Er öffnet das Dosenbier, das er im Supermarkt gekauft hat. Es spritzt beim Öffnen und er hält es weit von seinem Körper entfernt. Durch das Kuppeldach kann man schon den Mond sehen. Er trinkt in kleinen Schlucken, trotzdem läuft ihm Bier übers Kinn. Er wischt es am Jackenärmel ab. Als er auf die Uhr schaut, sind es nur noch ein paar Minuten bis zur Abfahrt und er hastet über die Rolltreppen zum Gleis, das unterirdisch liegt.

Ich springe vom Fünfmeterbrett, die Arme eng an den Körper gepresst. Das letzte, was ich sehe sind meine Füße, wie ich sie zwinge einen Schritt in die Luft zu tun. Danach schließe ich die Augen und halte mir die Nase zu. Fast senkrecht tauche ich ins Wasser ein. Ich bin überrascht, dass es kaum weh tut. Ich schwimme nicht sofort zum Beckenrand, ich schaue mir die Welt von unten an, solange bis ich nicht mehr kann und Luft holen muss.

Er stolpert durch den Gang, schiebt sich am Schaffner vorbei, streift die schwammige Brust, den Bauch, der sich unter der Weste spannt. Er ist unsicher wohin, auf welchen Platz, ob im richtigen Abteil, bleibt stehen, wartet, schaut ins Gepäckfach, nach unten. Vor seinen Augen dunkelblauer Teppichboden, übersät mit schwarzen Quadraten, in unterschiedlichen Abständen, ohne Ordnung.

Ich bin allein. Durch einen Schlauch fließt glasklare Flüssigkeit in meinen rechten Arm. Ich sitze aufrecht im Krankenhausbett. Der Leopard mit dem weichen Fell muss mir beim Schlafen aus dem Bett gefallen sein, ich spüre seine Schnurrbarthaare nicht an meinen nackten Beinen. Ich drehe mich um, ich schaue unters Bett. Außer einem alten Müsliriegel ist da nichts. Mein Arm tut weh. Ich dachte es wäre angenehm, wenn sie etwas in dich hineinfließen lassen, was dich wieder gesund macht, wie der Arzt es gesagt hat. Die Krankenschwester trägt mein Frühstück herein. Ein Becher Joghurt und ein paar Cornflakes, in Plastik verpackt. „Bei wie viel Prozent bin ich jetzt“, frage ich und hebe meinen Arm, aber die Krankenschwester versteht meine Frage nicht und zupft die Vorhänge am Fenster zurecht.

Den Leoparden finden wir nicht. Keiner hat ihn gesehen. Ich sage ok, weil ich fühle, dass ich eigentlich zu groß für ein Stofftier bin. Sechs Jahre bin ich schon. Zum Geburtstag habe ich endlich ein Fahrrad bekommen. Es ist gelb, auf dem Rahmen sind schwarze Punkte drauf. Ein bisschen so, wie beim Leoparden, der einfach verschwunden ist. Nächste Woche will ich nicht mehr mit Stützrädern fahren.

Schnee, der wie Asche leere Felder überzieht, auf Hochhausbalkone und Autobahnbrücken fällt. Ein paar Kilometer weiter wieder geschmolzen ist. Nur noch ein paar Gestalten vor ihm. Versunken in ihren Sitzen, die Hälse geknickt, die Münder schlagen gegen das Glas. Ein Taubheitsgefühl in den Knochen. Seine Tasche liegt neben ihm, die Tasche mit den Sachen, den Klamotten und dem Handyladekabel. In der Zugtoilette schwappt Urin und Erbrochenes.

Papa ist auf dem Stuhl zusammengesackt. Er schluchzt. An der Wand hängt die Landkarte mit Ländern, die es so gar nicht mehr gibt. Jugoslawien Rhodesien, Deutsche Demokratische Republik. Er stammelt, dass er nicht mehr kann. Ich schlinge meine Arme um ihn und flüstere: Aber ich, ich bin noch bei mindestens 89 Prozent.

 

Wo bist du jetzt? Kannst du das nochmal sagen? Die Verbindung ist so schlecht. Zu beiden Seiten durchziehen Fabriktürme die Landschaft, stehen in Gruppen zu dritt oder viert. Dazwischen Silos, groß wie Einfamilienhäuser. Was? Nein, du brauchst mich nicht abzuholen. Überall Flutlichtstrahler, wie Tiefseefische im schwarzen Wasser. Seegras wiegt sich vor dem Fenster. Atmen, schon mal an die Tür treten. Noch zehn Minuten, kurz nach Mitternacht. Von hier an nur noch Vororte.

Mein nackter Körper spiegelt sich in der Milchglasscheibe des Badezimmerfensters. Ich hasse euch. Ich hasse euch sosehr. Ich gehe weg von hier, noch heute mache ich das. Ich balle meine Hände zu Fäusten, ich reiße den Heizlüfter aus der Wand. Aber die Gestalt im Milchglas bewegt sich nicht, sie verschwimmt mit der Fassade des Nachbarhauses und dem Baum, der davorsteht.

Unter ihm Zigarettenkippen und gefrorenes Laub. Fahrradständer links und rechts an der grauverschmierten Plakatwand. Zwei Fahrräder parken in einigem Abstand voneinander. Bei einem fehlt das Vorderrad. Die Sporttasche zieht an seinem Schultergelenk. Vor ihm das Haus, das Dorf. Sonst nichts. Er schlägt einen Bogen über den Platz. Nur ein Snackautomat steht im Weg.

Die Wut ist so groß. Viel größer als du und ich. Sie macht mir Angst. Ich weiß nicht wohin mit ihr, ich halte die Luft an. Mir wird schwindelig. Tage später meldet sie sich zurück, sie steckt irgendwo im hinteren Teil meines Kopfes und beschimpft mich. Ich schlage den Kopf gegen die Wand, ganz fest. Ich hoffe, dass die Wut von der Erschütterung Angst kriegt und ganz weit weggeht.

Über ihm Starkstrommasten. Er klettert durch das Gleisbett, schlägt sich durch eine Böschung, ein Brennnesselfeld, bis er zu einem Schotterweg gelangt. Schrebergärten im Mondlicht, dicht an dicht an die Gleise gedrückt. Die einzelnen Parzellen durch Maschendrahtzäune voneinander getrennt. Er legt den Kopf in den Nacken. Eine Deutschlandfahne zappelt im Wind.

Im Sommer sind wir in Südfrankreich in einem Ferienhaus, das direkt am Meer ist. Am zweiten Tag wirft Papa Mama einen Spüllappen ins Gesicht. Wasser spritzt mir auf die Zehennägel. „Du dumme Sau“, er hat Schaum vor dem Mund. Mama weicht zurück und schreit ihn an. „So lasse ich mich von dir nicht behandeln“. Ich gehe zwischen Pinien auf und ab. Das Meer ist ruhig und der Himmel ganz klar.

Streusalz unter den Sneakern, knirscht wie Sand zwischen den Zähnen. Vorbei am Wohnblock, wo man die Sozialhilfeempfänger untergebracht hat, die Obdachlosen, die Verrückten. Er zündet sich eine Zigarette an. Fernsehlicht in der oberen Etage. Flackert auf und erlischt. Im Gehen den Rauch durch die Nase blasen, durch den Mund atmen. Wie es ist, wenn die Luft an den Fingerknöcheln zieht.

„Geht niemals zu weit rein, wenn ihr im Fluss baden wollt“, sagt meine Lehrerin immer zu uns, „die Strömung reißt euch sonst mit, auch wenn ihr schon gut schwimmen könnt.

Auf dem Weg zum Bäcker bleibe ich bei einer Pfütze stehen. Mir fällt ein, dass man auch in Pfützen wie diese hier ertrinken kann, wenn man nicht aufpasst, weil man gestolpert ist und hineinfällt und mit dem Gesicht im Wasser liegen bleibt, weil man nicht mehr aufstehen kann. Auch wenn Arme und Beine gar nicht im Wasser sind. Das habe ich in einem Film gesehen.

Auf dem Rückweg fällt mir ein, dass ich Mamas Mohnbrötchen vergessen habe. Zu Hause schüttelt sie nur den Kopf. Ich habe nicht aufgepasst, es tut mir leid, dass ich dich vergessen habe, denke ich. Dass mich der Pfützentod abgelenkt hat, erzähle ich nicht. Meine Socken sind ganz nass.

Ein schmales Geländer trennt ihn vom Wasser. Er spuckt über die Metallstreben hinweg auf einen umgekippten Einkaufswagen. Ein Bach, der im Zickzack durch den Ort führt. Windet sich neben dem Vereinsheim, dem Schießstand, dem Grundschulgebäude. Nicht mal knietief ist die trübe Masse. Brodelnd und schäumend ergießt sie sich in den Fluss am Ortsrand. Im Sommer, zwischen Geröll und Plastiktüten, schwimmen winzige Fische in Schwärmen, nutzen Wasserläufer Oberflächenspannung.

 

Ich zertrümmere meinen Tischtennisschläger an der Kellerwand, ich ramme die Spitze des Füllers, den Papa mir gegeben hat ins Notizheft. Bis die Spitze stumpf und verbogen ist, dauert es nicht lang.

„Du bist ganz erschöpft, du gehst heute nicht zum Spielen raus“, sagt Mama später zu mir. „Komm, lege dich ein bisschen hin. Wir schauen einen Film im Bett“.

Er geht entlang der Hinterhoffassaden. Einer dieser Schleichwege, die vom Bach Richtung Hauptstraße führen. Wenn einem hier einer entgegenkommt, muss man sich zwangsläufig an die Betonwand drücken, mit den Schulterblättern am Graffiti schaben. Im Hinterhof der Metzgerei hört er einen Hund bellen. In seinem Kopf kriechen Erinnerungen Richtung Frontallappen wie durch einen Lüftungsschacht. Fast alle Fassaden sind mit Efeu bedeckt. Bloß nicht zu schnell hintereinander atmen. Er überquert die Hauptstraße bei der zweiten Ampel, die ihm entgegenkommt. Der Teer ist noch frisch. Körnig, durchlässig, er glitzert im Bogenlampenlicht. Wie wenig es jetzt zählt, was man in der Zeit gemacht hat, seitdem man von hier fort gegangen ist.

Bei den Partys von Mama und Papa tanze ich zu „Lady Marmelade“ und singe „voulez vous coucher avec moi“, auch als mir jemand erklärt, was dieser Satz bedeutet. Die Erwachsenen schauen zu mir herüber, kichern und lachen. Diese Art von Aufmerksamkeit gefällt mir. Ich tanze um die schönste Freundin meiner Mutter herum.

 

Einen ganzen Vormittag lang bin ich bei einer Frau, die ein Zimmer voller Spielsachen hat. Ich klettere in einer Burg herum, die eine Rutsche hat und verstecke mich hinter einem Bären, der doppelt so groß ist wie ich. Die Frau stellt mir Fragen, die ich mit Ja oder Nein beantworten muss.

Das lenkt beim Spielen ab. Ich nehme ein Gewehr aus Holz in die Hand. Ich weiß nicht, wann welche Antwort die richtige ist. Wild schieße ich in die Luft. Der Schweiß läuft mir über die Stirn.

 Ich frage, ob sie ein Glas Wasser für mich hat. Das mit den Prozenten behalte ich für mich.

Regelmäßig stelle ich mir meine eigene Beerdigung vor. Eine Menschentraube steht um das Grab herum. Mama, Papa, Menschen aus dem Dorf, die ich nur vom Sehen kenne.

Von unten beobachte ich sie, ich kann durch den Sarg hindurchsehen. Alle weinen bitterlich. Sie schluchzen „Warum?“ und fühlen sich schuldig an meinem Tod. Das sehe ich genau.

In der Mitte des Dorfes gibt es einen Platz mit Kopfsteinpflaster, einer Eisdiele, einer Kirche, einer Bank. Im Dunkeln werfen nur die Bogenlampen einen Schatten. Einmal im Jahr Schützenfest, Kirmes. Im Viervierteltakt über den Platz. Die Arme zittern, der Mund trocken. Die Tasche trommelt gegen die Kniekehlen. Er plustert sich auf. Schauen, ob man noch atmen kann in diesem Dorf.

Einmal packt mich Papa in eine Wolldecke, setzt mich in den Bollerwagen, zieht mich durch den Kies beim Parkplatz am Fußballplatz bis zu unserem Haus. Es ist windig und sehr kalt, aber trocken. Ich bin stolz, wir haben gewonnen. Später verbrenne ich mich an der Suppe, die Mama gemacht hatte. Am Abend ist die Zunge immer noch ganz rot und geschwollen, aber das ist wegen des Fiebers und der Lungenentzündung, die ich bekomme.

Sogar Papa bleibt so lange zu Hause, bis ich wieder in die Schule kann.

 

Hab dir Suppe warm gemacht, falls du noch Hunger hast. Er denkt: Arschloch. Schaut wieder vom Handy auf, atmet. Noch diese Straße und dann die nächste rechts und dann ist da schon das Haus. Er wirft sich die Tasche über die Schulter. Er spürt das Gewicht der Tasche. An den Sehnen und Muskeln, wie sie sich dehnen. Wie sie fast reißen. Ein Schmerz. Den wegatmen, den Schmerz. Langsam. Die Häuser sehen alle gleich aus. Noch eine Zigarette anzünden im Licht der Bogenlampe. Kein Geschmack im Mund, nur ein bisschen Rauch. Da vorne ist schon die Villa, da band sich der Arzt einen Strick um den Hals. Im Vorgarten steht das Gras jetzt bis zu den Hüften. Eine Katze schaut ihn an, gelbe Monde im Gebüsch.

Schatten erst wieder im Licht der Bogenlampen.

Mama liegt den ganzen Tag im Bett. Ich weiß nicht warum, aber ich entschuldige mich. „Sorry, tut mir leid, wirklich“. Aber sie dreht sich bloß weg. Eine Weile bleibe ich im Türrahmen stehen und starre auf das Glas neben dem Bett. Dort schwimmen Fliegen im Rotweinrest, Rücken an Rücken, alle Viere von sich gestreckt.

In wenigen Schritten am Park vorbei. Er kann die Bäume zählen. Sechs Stück. Wie eine Schlägertruppe um die Schaukel, die Wippe und die Parkbank. Er leckt sich über die aufgesprungenen Lippen, läuft ein bisschen durchs Gras, feucht. Er spuckt aus, so viel Wasser im Mund. Er tropft über den Asphalt. Wie schwer ihm das Atmen fällt. Sich Kiemen wachsen lassen.

Papa drückt mein Gesicht in die Kissen. Ich wehre mich mit Händen und Füßen. Dann nimmt er mich in den Schwitzkasten. „Noch ein, zwei Jahre und ich bin stärker als du“, ächze ich unter dem Druck und weiß noch im selben Moment, dass das nicht stimmt.

Scheinwerferlicht, ein Auto fährt an ihm vorbei. Er blinzelt, blind fühlt er sich, biegt trotzdem nach rechts. Die Straße ist schnurgerade, ein langer Korridor. Da durch gehen. Der Himmel auf die Häuser gelegt, wie eine Schieferplatte. An den Mülltonnen vorbei, die vor jedem Haus stehen. Die letzten Meter Kraul. Luft anhalten, da rein schwimmen.

Ich schließe den Koffer mit den silbern glänzenden Schnappverschlüssen und dem Bild eines Hasen mit großen Schlappohren darauf. Er ist vollgepackt mit allerhand Klamotten, Gummibären und einer großen Flasche Wasser. Ich schleppe ihn bis zum Ortsrand, bis ein Traktor neben mir hält. Ein Mann beugt sich aus dem Führerhaus und fragt mich, wohin ich denn wolle, so ganz allein. Obwohl ich es mir anders vorgenommen habe, weine ich. Mit dem Traktor werde ich bis zur Haustür gebracht. An der Türschwelle nimmt Mama mich in Empfang. Sie hält mich so fest, dass ich kaum noch atmen kann und knutscht mich ab. „Lass das“, sage ich. Ihre Küsse bedecken meinen ganzen Kopf. Dann geht sie in die Hocke und schaut mich an. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände und wiegt es nach links und nach rechts. „Mein Kind“, sagt sie und sonst sagt sie nichts.

 

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Leonard Merkes

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