freiTEXT | Ludwig Matheis

Rot

Er saß, wie immer, wenn es möglich war, an einem Fensterplatz entgegen der Fahrtrichtung und blickte in die Umgebung, welche von der Bahn bereits passiert worden war. Was an ihm vorbeizog war in die verschiedensten Blautöne eingefärbt, denn die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, auch wenn hinter den Baumkronen in der Ferne bereits die ersten rot-gelben Flecken zu sehen waren, die ihre Ankunft voraussagten. Der Tageszeit war es auch geschuldet, dass es verhältnismäßig still für eine Bahnfahrt war, denn die meisten Mitbegleiter waren selbst noch nicht ganz wach und nutzten die Fahrt, um noch einen Augenblick Schlaf nachzuholen, bevor sie für die nächsten neun bis zehn Stunden keine Gelegenheit mehr dazu bekommen würden. Er selbst konnte es nicht leiden, wenn er so früh das Haus verlassen musste, denn es bedeutete, dass er, seinem Schlafmangel geschuldet, wieder einen Tag nur passiv, als lückenhafte Erinnerung, erleben werden würde. Zwar nahm er Teil, er war aktiv an seinem Tag beteiligt, doch fragte man ihn direkt im Anschluss, was er denn den Tag über unternommen hätte, könnte er nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er überhaupt außer Haus gewesen war. Aktuell versuchte er nicht einzuschlafen, denn er hatte Sorge, er würde nicht mehr aufwachen und auf ewig in diesem Zug gefangen sein, weshalb er sich auf die Stimmen konzentrierte, die ihn aus seinen Kopfhörern heraus anschrien. Manchmal fragte er sich, ob es wirklich fremde Stimmen waren, oder ob es nicht doch sein konnte, dass er selbst sich anschrie, denn was die Stimmen ihm entgegenspuckten schien zu sehr mit seinen innersten Empfindungen überein zu stimmen. Dann riss ihn eine fremde Stimme aus seinen Gedanken, er konnte sie zuerst nicht zuordnen, stoppte das Geschrei in seinen Ohren und lauschte, ob sie wieder zu ihm sprechen würde. Auch seine Reisebegleiter lauschten aufmerksam, manch einer gerade aus einem kurzen Schlaf erwacht und dann merkten sie, wovon die Stimme gesprochen hatte: Der Zug hatte angehalten. Jedoch nicht an einem Bahnsteig, oder auch nur nahe einem, sondern inmitten einer taubedeckten, hüfthoch bewachsenen Wiese, welche umrandet war von dutzend Meter hohen Bäumen. Ein Stopp wie dieser war nicht arg ungewöhnlich und je öfter man die Bahn nutzte, desto häufiger strandete man irgendwo, wo man nicht seien wollte, aber doch dazu gezwungen war. Die ersten Gestalten fanden in ihrer Enttäuschung ein Gesprächsthema, typischerweise waren es die älteren Semester die anfingen miteinander zu sprechen. Die Jungen brauchten keine Beschäftigung, denn diese befand sich sowieso schon immer in ihren Händen. Sie brauchten auch nicht miteinander sprechen, denn man konnte ja seine selbstgewählten Zeitvertreibe jederzeit kontaktieren und mit ihnen kommunizieren, als wäre man gemeinsam nebeneinander gestrandet. Er setzte sich wieder sein Geschrei auf die Ohren, denn es half ihm, den Lärm von außen zu verdrängen und in sich Stille zu finden. Vermutlich würde es sowieso bald weitergehen und jetzt, wegen einer viertel Stunde, von seiner typischen Morgenroutine abzuweichen, nämlich sich den Kopf frei zu schreien, würde an der Situation nichts verbessern. Also blickte er wieder aus dem Fenster, sah, wie der morgendliche Wind sanft die Häupter der Gräser neigte und wie die Bäume in seinem Takt tanzten.

An der letzten Station, die der Zug vor seinem Stillstand befahren hatte, war eine junge Frau zugestiegen, die, mit rot leuchtenden, kurz geschnittenen Haaren, noch schnell ihre Zigarette unter den Zug geschnippt hatte. Beinahe wäre sie zu spät gewesen, denn sie hatte sich fast nicht aus ihrer Decke, die sie, wie ein Kokon, eingewickelt hatte, kämpfen können. Erleichtert setzte sie sich auf einen Fensterplatz in Fahrtrichtung, wie sie es jedes Mal tat, wenn sich die Möglichkeit dazu fand und steckte sich den noch funktionierenden Knopf ins Ohr, mit dem sie Lieder längst verstorbener Musiker hörte, während sie mit geschlossenen Augen versuchte, sich für den Tag zu wappnen.

Lange hielt die Ruhe nicht an, denn auch sie wurde von dem Zwischenstopp aus ihrem Ritual gerissen, blickte sich kurz fragend um, denn sie hatte die Durchsage zwar gehört, die Worte jedoch nicht zusammenfügen wollen und ließ sich angespannt zurück in ihren Sitzplatz sinken.

Dort bot sich ihr das selbe Bild, das vorhin schon beschrieben wurde und auch sie plante nicht, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen, sondern weiter die Ruhe zu nutzen, die sie für den restlichen Tag nicht mehr haben würde, wenn sie dann am Ziel ihrer Reise angekommen war. Sie lauschte also weiter der Musik in ihrem einen Ohr und ließ den Blick in die Ferne wandern, nicht darauf konzentriert, was dort zu sehen war, sondern konzentriert darauf konzentriert zu wirken, damit ihr Gegenüber nicht doch auf die Idee kam, sie nach dem Wetter, der Arbeit, oder ihren Plänen danach auszuhorchen. Allgemein schien ihr Gegenüber aber genauso wenig Interesse daran zu haben, wie sie, denn auch er blickte starr aus dem Fenster, sodass sich ihre Blicke lediglich an dem Punkt kreuzten, an dem sie die Fensterscheibe durchstießen.

Eine gute viertel Stunde sprachen beide kein Wort und verharrten, die Stirn an der Scheibe abgestützt, mit den Augen manchmal zum jeweiligen Gegenüber wandernd, bis dieses den Blick einfing und man schnell den Fokus wechselte. Der Zug stand weiterhin, die Gespräche im Hintergrund wurden lauter, denn sogar einige der jungen Leute hatten nun begonnen, sich über die derzeitige Situation auszulassen. Er drehte das Geschrei lauter, sie versuchte, mit der Hand zwischen Ohr und Fenster gepresst, die Umgebungsgeräusche auszusperren, was ihr wenigstens ein bisschen Erleichterung brachte und ihn die Umwelt wieder vergessen ließ, wobei er sich kurz fragte, wann die Rothaarige sich zu ihm gesetzt hatte, bevor er den Gedanken zu all den Anderen sperrte, denen er, seiner geistigen Gesundheit wegen, nicht folgen wollte. Draußen hatte es die Sonne noch immer nicht geschafft, sich durch die Baumkronen vorzukämpfen und nur hie und da schimmerte der ein oder andere rote Fleck durch die dichten Blätter hindurch, was die ganze Situation zeitlos wirken ließ.

Sie dachte daran, wie gerne sie sich eine Zigarette aus der roten Pappschachtel ziehen, zwischen ihre roten Lippen stecken und anzünden würde, denn das hätte die Illusion verstärkt, dass sie frei entscheiden konnte, welche ihr, in der aktuellen Lage, genommen worden war. Ihre Finger trommelten lautlos und subtil auf den, an ihrem Knie abgestützten, Ellenbogen und sie ertappte sich dabei, wie sie durch ihr Gegenüber hindurchsah, ohne zu bemerken, dass er ihren Blick erwiderte. Schnell drehte sie den Kopf wieder aus dem Fenster heraus und obwohl sie nicht genau hingesehen hatte, blieb sein dunkel-blauer Umriss doch wie ein Schatten auf ihrer Netzhaut zurück. Sie schloss die Augen einen Moment, öffnete sie wieder und der Schatten war verschwunden, was sie erleichtert ausatmen ließ.

Eine weitere halbe Stunde später, der Zug stand immer noch, der Fahrer hatte es mittlerweile aufgegeben, die Fahrgäste darüber zu informieren, dass sich die Weiterfahrt um eine unbekannte Zeit verzögern würde, fingen die ersten Personen an, ruhelos durch die Waggons zu laufen. Die Türen waren mittlerweile geöffnet worden. Zwar war weiterhin alles in Blautöne gehalten, doch der Wind trug die Wärme von außen in die Lichtung und nicht lange danach sammelten sich die ersten Grüppchen vor den Waggons und stießen bläuliche Rauchsäulen in die Luft.

So gerne sie sich jetzt auch vor den Waggon gestellt hätte, so sehr graute es ihr davor in die üblichen, hohlen Gespräche verwickelt zu werden, welche sich in solchen Kreisen immer auftaten. Je länger der Stillstand dauerte, desto mehr schätzte sie ihr Gegenüber dafür, dass er, wie sie, keine aufdringlich, offene Art hatte und jetzt, da die wenigen Passagiere nach draußen strömten, kehrte auch wieder etwas mehr Ruhe in das Abteil ein. Ihre Hand, die so krampfhaft versucht hatte, die Außenwelt abzuschirmen, sank in ihren Schoß und die Anspannung löste sich ein wenig. Diesmal hielt sie sogar den Augenkontakt für einen Moment länger und ihre Mundwinkel zogen sich, unterbewusst, ein winziges Stück nach oben, während sie sich eine Strähne aus dem Gesicht strich. Sie plante nicht kokett zu sein, oder ihrem Gegenüber schöne Augen zu machen, sondern hoffte, er würde dies als kleinen Dank für seine Stille erkennen.

Er würde sowieso nicht sprechen, er war zu sehr in Gedanken gefangen und hätte beinahe den Moment verpasst, als sein Blick wieder, der Müdigkeit geschuldet, verschwamm. Also saß er einfach nur da, die Hände in seinem Schoß gefaltet, die Stimmen wieder lauter schreiend und versank in den dunkelblau verhüllten Gedanken, die ihn überkamen. Kurz dachte er daran, sie nach den roten Haaren zu fragen, erkannte aber dann, dass es für diese Frage keinen Grund gab und auch sonst nichts weiter daraus entstehen würde, außer, dass die Stille angespannt werden würde. Er war noch nie gut darin gewesen, ein Gespräch zu beginnen und interessant zu gestalten, was ihm so bewusst war, dass er es generell aufgegeben hatte, mit jemandem, den er nicht kannte, ins Gespräch zu kommen. Im Augenwinkel sah er das Rot verschwinden. So sehr war er in Gedanken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie sein Gegenüber aufgestanden und gegangen war. Ein schmerzendes Gefühl stieg in ihm hoch. Hatte sie etwa gesehen, woran er dachte? Schlimmer noch, hatte sie etwas an ihm gesehen, woran er gar nicht dachte? Jetzt war es wohl zu spät der Frage nachzugehen und er schob sie zu den anderen unbeantworteten Fragen in der Tiefe seines Verstandes. Dann kam die Frage wieder hoch, diesmal noch ein Stück weit drängender als zuvor und seine Finger verknoteten sich ineinander. Obwohl sie noch nicht ein Wort gesprochen hatten, fühlte er die Verbindung zwischen ihnen und wie sie jetzt, da sie gegangen war, auseinandergerissen wurde.

Derweil zog sie vor dem Waggon die Jacke ein Stück fester zu, während sie mit der zweiten Hand eine Zigarette aus der Verpackung schüttelte. Sie hatte sich beide Knöpfe in die Ohren gestopft und hoffte, das wäre Zeichen genug, um jede inhaltslose Konversation bereits im Keim zu ersticken. Die Flamme leuchtete rot auf, als sie das Papier entzündete, einen tiefen Atemzug nahm und den Rauch durch die Nase wieder nach draußen stieß. Sie dachte daran, wie ihr Zeitplan sich verschoben hatte, wollte jedoch nicht auf die Uhr sehen, um herauszufinden, wie lange sie hier schon gestrandet war. Der zweite Atemzug ließ die Welt um sie herum erstarren, sie merkte, wie sich das Gift in ihr verteilte und dazu führte, das ihre Nerven sich entspannten. Ihr war bewusst, dass Rauchen nur deshalb entspannt, weil es die Entzugserscheinungen mildert, aber sie hatte sowieso nicht vor alt zu werden. Es war ihr schlicht zu mühsam damit aufzuhören, denn wofür sollte sie auch, sagte sie oft zu sich selbst. Sie hatte recht, der Welt war es egal und selbst in diesem Zug, in dem sie alle aktuell gefangen waren, hätte es niemand bemerkt, wenn sie heute nicht dabei gewesen wäre. Wichtig ist es nur denen, die von ihrer Sucht profitieren und das war auch schon immer so, egal worum es ging. Also zog sie ein letztes Mal und lachte leise für sich, in dem Wissen, dass sie sich umbrachte, um das Gehalt eines anderen zu finanzieren. Dann stieg sie zurück in den Waggon und setzte sich an ihren alten Platz, ließ den Blick kurz über ihr Gegenüber gleiten, das sich scheinbar nicht bewegt hatte und schlug ihre Beine übereinander.

Als er den roten Schimmer in seinem Augenwinkel erkannte, entspannte er sich, denn den Stimmen, die unbeeindruckt von dem Geschrei umher kreisten, wurde die Existenzgrundlage genommen. Der markante Geruch von Tabakrauch zog ihm in die Nase, überdeckte die Gerüche, die er zuvor unbewusst aufgenommen hatte und hinterließ in ihm ein drückendes Gefühl von verdrängten Erinnerungen. Lange blieb sein Blick auf seinem Gegenüber, weniger bewusst, als viel mehr Leinwand für die Bilder, die sich ungewollt in seinem Kopf formten. Wieder fragte er sich, ob er nicht doch den Augenblick nutzen und ein Wort nur, wenigstens ein Wort sagen sollte, doch so sehr er aus der Lunge schrie, so stur blieben seine Lippen geschlossen. Wie die Rothaarige hatte  auch er noch nicht auf die Uhr gesehen. Allgemein hatte er seit dem Stillstand nur noch dem Geschrei gelauscht und zeitweise versucht, ihren Blick zu kreuzen, hatte ihn dann aber schnell wieder aus dem Fenster gelenkt, denn er wollte nicht, wohin das führte. Er wollte nicht aus seiner Welt, wollte nur dem Geschrei lauschen, das ihn davon abhielt, zu weit aus seiner Sphäre weg zu treiben, denn das, so war er überzeugt, würde sich für ihn niemals rechnen, auch, wenn er es seit Langem nicht mehr versucht hatte. Zu sehr war er Gefangener seiner eigenen Zwänge, als das er sich, wie manche seiner Zeitgenossen es immer taten, hätte überwinden können, aus seiner Welt hinauszutreten und selbst wenn er es wollte, wenn er bettelte und flehte, so hielt ihn doch ein dunkelblauer Schatten zurück. Eigentlich glaubte er, dass er sich mittlerweile damit abgefunden hatte, aber es gab immer wieder Situationen, die ihm das Gegenteil vor Augen führten und weil er nicht darauf aus war, diesen Gedanken mehr Raum als irgend nötig zu geben, versuchte er generell Situationen zu vermeiden, die in ihm den Wunsch auslösten, er könne aus sich hervortreten, den blauen, schweren Schleier abwerfen und in die hellrot leuchtende, warme Welt hinaustreten. Vielleicht war es für ihn auch einfach zu spät, um jetzt noch etwas zu ändern und so kniff er die Kiefer fester zusammen, bis das Rauschen seines Blutes die leise flüsternden Gedanken übertönte.

Kurz hatte sie den Blick erwidert, bis sie merkte, dass dieser nicht auf sie, sondern durch sie hindurch zielte und lehnte die Stirn zurück an die kühle Fensterscheibe. Ihre Stimmen waren ruhiger, langsamer, bunter, auch wenn von Stück zu Stück das Tempo, die Lautstärke, oder auch die Intensität wechselte. Ihr half die Ruhe dabei, sich zu sammeln, wobei die lauteren Einwürfe sie davon abhielten einzuschlafen. Für einen Moment schloss sie die Augen und durchstriff, in Gedanken, die Straßen, die sie zu diesem Ort geführt hatten, blendete jedoch die Menschen auf ihnen aus. Es waren keine sauberen, breiten Straßen, sondern kleine Gassen und Wege, auf denen sich zwei entgegenlaufende Menschen schon blockierten und trotzdem fand sie etwas Schönes an ihnen. Etwas an der Unordnung, an der Art, wie unpraktisch sie gestaltet waren, reagierte mit einem Teil von ihr und auch sie selbst, so unordentlich, irrelevant und unnütz sie, im Kontext der gesamten Erdgeschichte betrachtet, wohl war, fand etwas Schönes an sich. So wie Kritzeleien und herausgebrochene Ziegel, zersplittertes Pflaster und zerrissene Gardinen die ansonsten tristen, eintönigen Straßen schmückten, so gefiel ihr jede neue Schramme, jeder neue Kratzer, jede neue Wunde denn für sie lag etwas Schönes in Zerstörung und Sinnlosigkeit.

Obwohl es eigentlich ungewöhnlich war, schien niemand zu bemerken, dass die Bäume rings um den stillstehenden Zug weiterhin erfolgreich die Sonne fernhielten. Mittlerweile war eine gefühlte Ewigkeit vergangen, doch es schien niemanden zu beschäftigen und selbst die, die es in den ersten Momenten noch am eiligsten hatten und am wichtigsten aussahen, hatten ihre Hemdkragen aufgeknüpft und lachten mit denen, die sie im normalen Leben nicht einmal wahrgenommen hätten. Man hatte sich mit der Situation abgefunden, erkannt, dass es nicht änderte, wenn man das zigste Mal fluchte und so nutzte man die Gelegenheit um sich ganz unbefangen mit den anderen Reisenden auszutauschen, denn es war nicht wichtig, welchen gesellschaftlichen Stand jemand inne hatte. Sie alle saßen am gleichen Ort, aus dem selben Grund, fest und keiner würde vor dem anderen ankommen.

In Mitten dieser absurden Szene saßen, weiterhin kein Wort miteinander wechselnd, als letzte Personen innerhalb des Waggons, zwei Gestalten und versuchten zu vermeiden, dass das Gegenüber die Blicke bemerkte, die sie sich zuwarfen, denn man wollte ja eigentlich gar nicht miteinander sprechen und das Gegenüber würde, wie es aktiv demonstrierte, auch nicht darauf eingehen. Sie beide widerstanden dem Drang, sich den anderen anzuschließen, nach draußen zu stürmen und sich selbst zu überwinden, denn was würde es ihnen nutzen? Sie hatten bereits erkannt, was ihre restlichen Mitfahrer lernen würden, sobald ihre Reise weitergehen würde. Am Ende des Tages war sich doch noch jeder selbst der Nächste und am nächsten Morgen würde keiner auch nur einen Gedanken an seinen Sitznachbarn verschwenden, denn zu mehr, als einem kurzen Zeitvertreib reichte es nicht aus und dafür musste man sich nicht unterhalten. Davon waren sie beide fest überzeugt, unterschieden sich jedoch darin, was sie aus dieser Erkenntnis schlussfolgerten.

Sie hatte sich dazu entschieden, ihre Zeit für sich zu nutzen und sich selbst genug zu sein, auch wenn sie sich selbst und auch die Umwelt ihr, allerhand Steine zwischen die Beine warfen. Es war für sie kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, auch, wenn es ab und zu so wirken mochte, vielmehr stellte sie gar nicht erst den Anspruch an sich, jedes Hindernis überwinden zu müssen. Manchmal reichte es, wenn man daran vorbei, oder darunter hindurch kroch. Hauptsache man kam irgendwie auf der  anderen Seite an. Genauso wählte sie auch aus, mit wem sie gemeinsam Zeit verschwendete, denn auch jemand, der Einsamkeit mit vollstem Herzen begrüßte, hatte ab und zu menschliche Verlangen und am Besten war es, wenn der Zeitvertreib es ähnlich sah und beide am Ende des Tages ihrer Wege gingen, ohne sich nochmal nach dem anderen umzudrehen. Dazu hatte sie auch gar keine Zeit, denn auch sie wurde jeden Tag älter und wirklich alt wollte sie nicht werden, denn sie wusste, sie müsste sich ansonsten in eine Maschinerie eingliedern, in der es nur darum ging, diejenigen zu zerreiben und zu zerstäuben, die es nicht schafften sich anzupassen. Andererseits wollte sie auch nicht aufgerieben und von der Welt zertreten enden, also hatte sie sich einen, für sie stimmig wirkenden, Mittelweg gesucht, durch den sie beide Extreme vermeiden konnte.

Er hingegen war überzeugt, dass die Welt davon profitierte, zumindest keinen Schaden trug, wenn er für sich blieb. Er war sich selbst kein guter Zeitvertreib, versuchte gar nicht erst, auch nur daran zu denken, ein Hindernis zu bewältigen, denn es schien ihm die Mühe nicht wert zu sein. Für sich hatte er beschlossen, dass dort am Ende des Tunnels kein Licht zu sehen war, also lohnte es sich auch nicht, einem vermeintlichen Ausweg entgegenzueilen, der sich dann wohl doch nur als Sackgasse herausstellen würde. Den wenigen Kontakt, den er zu anderen Menschen pflegte, hatte in den wenigsten Fällen er aufgebaut und manchmal wunderte er sich, wie er es trotz seiner zurückhaltenden Art überhaupt schaffte, dass sich, zumindest eine Hand voll Menschen um ihn bemühten, egal wie oft er sie wegstieß, nur um sie dann, in den Augenblicken, in denen er sich fühlte, als würde in seiner Brust ein schwarzes Loch sein Fleisch und sein Leben verzehren, wieder fest an sich zu ziehen, bis sie Abstand suchten, um selbst nicht mit hinein gerissen zu werden. Auch aus diesem Grund konnte er es anderen Lebewesen nicht antun, sich ihnen aufzudrängen, denn er hatte bereits in der Vergangenheit gelernt, dass der dunkelblaue Schatten, der sich in seinen Augen über alles legte, dem er nahe kam, die Welt um ihn herum nur zusätzlich verderben ließ. Immer wieder hatten Menschen versucht, Licht in den Schleier zu tragen, doch es hatte nie für mehr, als ein paar warme, hellrote Flecken gereicht, die nach wenigen Momenten  wieder durch die blaue Kälte erstickt worden waren.

Kurz nach dieser Erkenntnis signalisierten die Außenlautsprecher, dass die, weiterhin unbekannte, Störung behoben worden war und die Reise in wenigen Minuten weitergehen würde. Die Passagiere strömten wieder herein, setzten sich, verfielen, ab dem die Schatten der Bäume über sie hereinfielen, wieder ihren morgendlichen Ritualen, als hätten sie ganz vergessen, wie sie die Zeit während dem Stillstand verbracht hatten. Wenig später brachen sie aus den bläulichen Schemen des Waldes heraus und die Sonne durchflutete die Waggons mit  hellen, rötlichen Farben, so, als hätte sie sich außerhalb des Stillstandes kein bisschen weiter über die Felder erhoben, die sie nun durchpflügten.

Die roten Haare seines Gegenübers strahlten für ihn noch lange, nachdem sie, zwei Stationen später, den Zug verlassen hatte. Er hatte noch erkannt, wie sie sich eine Zigarette aus der roten Pappschachtel schnippte, ein Feuerzeug kurz aufleuchtete und eine sanfte, blau-graue Wolke das Rot ihrer Haare einrahmte, als sie kurz über die Schulter und direkt durch ihn hindurchblickte.

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Ludwig Matheis

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