freiTEXT | Claudia Siefen-Leitich

Peter N. kam bis Berlin

„Das geht mir ja alles dermaßen auf die Nerven“, sagte Peter sehr oft, wobei er mit der linken Hand in sein strähniges rotes Haar fuhr, dort verblieb und eine Faust bildete, kurz sich zusammendrückte, um dann die Finger wieder zu entspannen, die einzelnen Strähnen zwischen den Fingern, um dann wieder kurz eine Faust zu bilden. Sein Haar war rot, von jenem Rot, dass man aus der Entfernung für Blond hätte halten können. Aber es war rot, seine Sommersprossen untermauerten diese Feststellung. Die Sommersprossen sah man, wenn man Peter gegenüber stand. Um ihm ins Gesicht zu schauen, musste man wohlwollend den Kopf in den Nacken legen. Das Gesicht war scharfkantig, das Kinn kräftig, die Wangenknochen standen ein wenig hervor und die Augenbrauen bestanden aus langen blonden und grauen Haaren. Und Peter war sehr groß. „Dermaßen auf die Nerven.“

„Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“ Das sagte Peter, und er zog seinen dunkelblauen Mantel an. Aber Peter sagte das nur, wenn er einen mochte. Dann ging er los und es konnte passieren, dass er zurück kam und die Hände in den dunkelblauen Manteltaschen vergraben hatte, vor dem Schreibtisch stehen blieb und sagte, dass es ihm leid täte und er leider im Supermarkt angekommen wieder vergessen hatte, was er denn hätte mitbringen sollen. Dann legte er einem einen Apfel auf den Tisch. Oder eine Tafel Schokolade. Oder eine Packung Zigaretten. „Ist das in Ordnung?“

„Es regnet schon wieder.“ Wenn sich im Herbst die dunklen Nachmittage häuften schüttelte Peter den Kopf und zupfte an den feuchten Beinen seiner Jeans herum. Und er setzte sich, arbeitete zwei Stunden am Computer und stand auf, um einen Kaffee zu kochen. Aus der Küche hörte man dann kurze Zeit später ein wütendes Schnauben. Und er kam zurück und setze sich wieder an den Computer, um eine Stunde später zu sagen: „Es ist kein Kaffee mehr da. Ich geh' gleich noch mal in den Supermarkt.“ Dann ging er wieder los, schüttelte in der Tür noch einmal seine roten Strähnen. Wenn er dann zurück kam stellte er eine Flasche Rotwein auf seinen Tisch, ging noch mal in die Küche, um Gläser zu holen. „Den Kaffee bringe ich morgen früh mit.“ Dann füllte er Gläser, kam zum Schreibtisch herüber und stellte ein gefülltes Glas auf der Tischplatte ab. Peter war eigentlich aus Hamburg. „Du solltest Dir die Haare wachsen lassen“, sagte er und ging zurück zu seinem Computer.

An einem der Abende waren wir wieder lange im Büro und an manchen dieser Abende sagte Peter: „Ich muss da noch mal kurz nachdenken“, und setzte sich auf den Fußboden, streckte die langen Beine aus und legte sich hin. Dann schloss er die Augen und lächelte, winkte mit der rechten Arm herum und sagte: „Komm' her.“ Dann ging ich manchmal zu ihm hinüber und legte mich dazu und Peter erzählte, von seinem Bruder, den er sehr schätzte und von seiner Freundin, die ihn vor ein paar Wochen verlassen hatte. „Das Trinken“, sagte er. Dann stand er auf. „Warum liegst Du auf dem kalten Fußboden?“, und ich streckte ihm beide Hände hin, dass er mir aufhelfen konnte. Aber Peter nahm nur meine linke Hand, zog mich heran und fuhr mit einem Arm unter meinen Rücken, um mich langsam heranzuziehen, immer ein wenig Abstand zwischen seinem Oberkörper und mir haltend. So flog ich in Zeitlupe in die Senkrechte und ich spürte, wie der Boden sich ganz langsam von mir entfernte und ich diesem roten Haar immer näher kam. Wenn ich zu nah war korrigierte Peter den Abstand sogleich wieder auf sein gewünschtes Maß und so verschoben wir uns in immer gleichem Abstand zueinander bis ich wieder auf den Beinen stand. Und schaute ihn an. Und Peter streckte sich wieder und lachte und schüttelte den Kopf. „Lass' uns heute abend noch was trinken gehen.“

Wir waren ins „Diener“ gegangen, mit seinen dunklen Holzmöbeln und holzvertäfelten Wänden, die Autogrammkarten und Fotos von Schauspielern und Opernsängern an den Wänden. „Hier lassen sie einen in Ruhe, und wenn mein Bruder mich besucht, gehen wir oft hierhin.“ Dann saßen wir dort, vielleicht für drei Stunden, wir zahlten und Peter und ich gingen die Strasse entlang bis ich zur U-Bahn kam und er weiter zu Fuß nach Hause ging. Am nächsten Tag sprach er dann nicht mit mir. Aber am Ende der Woche stand er wieder vor meinem Schreibtisch. „Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“

„Ich habe jemanden kennengelernt“, sagte er in regelmäßigen Abständen und hielt seinen Kaffee in der Hand, balancierte das Zigarettenpäckchen in der anderen Hand. „Lass' uns noch eine rauchen bevor Du gehst.“ Dann standen wir am großen Fenster des Büros, um hinauszuschauen. „Mich macht das nur fertig, warum kommt man sich nie näher, wenn man miteinander ins Bett geht?“ Dann rauchten wir in Ruhe zu Ende und sagten nichts mehr. Nach diesem Satz konnte man nichts mehr sagen. Jedenfalls nicht an diesem Abend. „Ich glaube ich brauche einfach nur Urlaub. Ein paar Tage werde ich wegfahren. Mein Bruder fährt mit mir. Ich glaube, darauf freue ich mich.“

Irgendwann rief mich sein Bruder an, den ich nur einmal im Büro getroffen hatte. „Das ist mein Bruder“, hatte Peter gesagt, mehr nicht. Er hatte noch am Computer gearbeitet, dann seinen Mantel angezogen und sein Bruder hatte freundlich in die Runde genickt und zusammen verließen sie das Büro.

„Ich habe irgendwie das Gefühl, dass sie das wissen sollten. Ich habe Peter gefunden in seiner Wohnung. Er hat sich aufgehängt. Ich glaube, mehr will ich jetzt auch nicht sagen. Ich werde jetzt auflegen.“ Den Telefonhörer hielt ich noch eine Weile in der Hand und musste sofort daran denken, wie Peter mich vom Boden hochhob. Ich habe einen warmen Luftzug gespürt.

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Claudia Siefen-Leitich

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