freiVERS | Donka Dimova

Manchmal, wenn ich mir anschaue

wie der weiße Kater meines Nachbar
unverschämt das Fensterbrett im vierten Stock abmisst,
dann frage ich mich,
ob ein paar Zentimeter Gleichgewicht ausreichen?
Wie viele der sieben Leben schon verbraucht sind?
Vielleicht sind Kater auch mal lebensmüde?
Manchmal, wenn ich ihn anschaue, frage ich mich:
Was für eine wahnsinnige Neugierde?

Doch, was verstehe ich vom Wahnsinn,
der aufm Fensterbrett stolziert,
der furchtlos wählen kann:
viele vernünftige Leben
oder einen irrsinnigen Sekundenflug.

Ich glaube nicht an Schicksal.

Ich erinnere mich an meinen Nachbar,
dessen weißer Schatten noch stolziert
in meinen Augen.
Er, der Wahnsinnige wählte die Sekundenfreiheit.
Ohne Schutzgeländer, ohne Mühe
sprang durchs Fenster seine Furchtlosigkeit.

Vielleicht glaubt der Kater,
sein Herr hatte viele Leben und sucht ihn noch?

Warum ist er gesprungen?

Für den Sekundenflug?
Und danach Scherben der Fehldeutung.
Sekundenflug, klackernde Uhrzeiger, Räder, Kolben
vermessen den Wahnsinn.

Aber wie soll ich an die Zeit glauben,
wenn das Weltall vergisst
die Jahre des Lichtes zu zählen,
wenn mein Kopf sogar
langsamer altert als die Füße.
Ohne Erdanziehungskraft würden wir ewig leben.
Es stimmt. Frage die Physik!
Die Zeit ist nicht linear. Sie ist in uns.
Die Uhrwerke sind der Entwurf
von kranken Geistern ohne Zeit.

Dann warum soll diese selbstmörderische Kleinzeit
von meinem Nachbarn keine Ewigkeit fortdauern?

Der Wahnsinnige im Sturzflug nach unten
der Kater hinterher
in einem unmessbaren Glück.

Alle Uhrmacher schauen zu, wie ihre Zeit abläuft.

Der Körper wird auf dem Boden prallen,
aufplatzen wird neben Hirn und Adern
auch das Wissen.
Die Haare werden zerstreut aufm Bürgersteig,
die Vernunft zermatscht in eine Pfütze.
Zahnräder, Gelenke und Vorstellungen
werden herrenlos durch die Straßen rollen.
Nur der Wahnsinn feiert.
Wenn ich all diese Bruchstücke aufsammel´,
werde ich dann besser schlafen können?
Wird der weiße Schatten dann verschwinden?

Manchmal schaue ich mir
den weißen Kater meines Nachbar an
und frage mich:
„Was für eine wahnsinnige Neugierde?

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Donka Dimova

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