freiTEXT | Julia Lehmann

das schlimmste ist durchschnitt
oder
das büro – phase 2

ich weiß nicht, wie das geht: zufrieden sein. oder zumindest zufrieden sein mit der eigenen unzufriedenheit. selbst das nicht. für mich gilt: überall nur nicht hier. und: alles nur nicht das. und eigentlich vermutlich auch das: alle nur nicht ich. irgendwas fehlt und ich weiß nicht was. ich liege im bett und denke, ich hab die beste zeit verpasst. wenn das leben so weiter geht, kann es so nicht weitergehen. wie kann ich vermeiden, dass ich so werde, wie ich nie werden wollte?
für mich gibt es nur eins: ganz oder gar nicht. alles oder nichts. und dazwischen ist einfach nichts. es gibt nur phase 1 oder phase 2. schwarz oder weiß. himmel oder hölle. oben oder unten. mein glas ist nie halbvoll und nie halbleer. ich habe entweder gar kein glas oder eins, das überläuft. das sind meine maßstäbe. wo ist das glas, das übersprudelt, frage ich, wenn keins vor mir steht. bitte nehmt mir das glas, bitte ich, wenn es am übersprudeln ist. ich will das, was ich nicht habe und habe ich es dann, will ich es auch nicht. brasch, du bist mein held. denn bleiben wollen wir, wo wir nie gewesen sind.
jetzt ist phase 2, aber ich will phase 1. bin ich phase 1, will ich phase 2. und dabei wäre wohl das beste phase 1 1/2.
jetzt ist büro. das ist für mich: menschen, die erwachsen spielen. menschen, die an ihren plätzen sitzen. menschen, die auf bildschirme starren, e-mails schreiben und telefonate führen. 9 to 5. aber immerhin: gleitzeit. das ist doch schon mal was, lasse ich mir sagen. ich nicke mit dem kopf und möchte lieber sagen: das ist doch alles nichts. die kolleg*innen warten auf den feierabend und füllen die zeit mit telkos und besprechungen. dabei nicht zu vergessen: das protokoll! das protokoll! der projektleiter erklärt: ab heute nur noch ergebnisprotokoll. verlaufsprotokoll führt nicht zum ziel. das sind die wahren entscheidungen. hier werden die wichtigen dinge bewegt, steine ins rollen gebracht und der umsturz des systems vorbereitet. mit den protokollen! was wäre die geschichte ohne ihre protokolle! was wären oktoberrevolution, französische revolution oder die kubanische revolution ohne ihre protokolle?! nichts. vermutlich hätte es sie nie gegeben. und ohne die obligatorische mittagspause um punkt 12, wäre che vermutlich nie auf kuba gelandet. keine revolution auf leeren magen. aus dem büro sieht die welt sowieso viel schöner aus. bitte vergiss nicht, meine blumen zu gießen! keine sorge, ich schreib mir das in meine agenda! die erste kopie in ordner 1. die zweite kopie in ordner 2. die dritte kopie in die rechnungsstelle. und danach alles in die exceltabelle einpflegen. kein problem! wird gemacht. hätte die sinnlosigkeit ein bild, wäre es das büro. hätte durchschnitt ein bild, wäre es das büro. hätte die monotonie ein bild, wäre es das büro. hätte die absurdität ein bild, wäre es das büro. wieviele bilder hat dieses büro! und morgen wieder: büro. und was ist, wenn die inspiration am abend kommt? keine chance. schlafenszeit. denn morgen um 9 ruft das büro. die inspiration muss für heute pause machen und in der warteschleife warten. aber morgen nach feierabend um punkt 5, da hole ich sie raus, die inspiration. wohl geplant in den terminkalender eingepasst. es tut mir leid, heute nach feierabend habe ich leider keine zeit. denn um diese zeit habe ich inspiration. bis spätestens 22 uhr. danach muss ich zeitung lesen und mich bettfertig machen. um 12 uhr dann der zapfenstreich. wo geht die zeit hin? wo habe ich sie verloren?
die familie ist erfreut. endlich eine richtige arbeit! ist doch gut: krankengeld, sozialversicherung und 30 tage urlaub. die tochter ist endlich angekommen. hat eine 1-zimmer-wohnung, keine bananenkisten, sondern ein richtiges bett, regale an den wänden und vor allem: struktur. ordnung muss sein und die findet sich bei ikea. es sieht schön aus, wenn es so wie bei allen anderen aussieht. ein bett, das in fast allen europäischen schlafzimmern steht. gläser, aus denen jede*r zweite bürger*in trinkt. billys, die die bücher tragen und blumen, die aus vasen ragen. so ist gut, so soll es sein. so ist das leben, ein einheitsbrei. frage nicht, wie es anders sein kann, wenn so, wie es ist, es bei fast allen ist. aber die kunst? du hast doch noch zeit! keine voll-, sondern teilzeit. montag und freitag hast du zeit für die kunst. das muss doch reichen. und wo kämen wir da hin, wenn keiner mehr arbeiten würde und alle nur noch kunst machen würden?! ja, wo kämen wir denn hin, wenn ich nicht mehr ins büro gehen würde. wenn mein platz am dienstag leer bleiben würde? wenn die telko ohne mich stattfinden würde? wenn ich keine protokolle schriebe? keiner mittagspause beiwohnen würde? wenn das telefon ins leere klingeln würde? die besprechung ohne meine meinung auskommen würde? wenn die korrektur ohne eine zweite korrektur verschickt werden müsste? wenn der feierabend ohne mich eingeleitet werden würde? und die stechuhr ohne meine zeiten rechnen würde? wo kämen wir dahin?
zur revolution.

 

Julia Lehmann

 

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freiTEXT | Luise Barth

Happy Birthday

Am Tag nach meinem 22. Geburtstag wache ich mit Kopfschmerzen auf. Mühsam hieve ich mich aus dem Bett und besehe mir das Chaos in dem Raum, der von mir als Wohn-, Arbeits- und Abstellraum genutzt wird. Die leeren Flaschen und Chipsreste sind noch zu verkraften, ebenso wie die schlappen Luftballons und Luftschlangen. Aber ist das etwa ein Brandfleck auf meinem Sofapolster? Entnervt fahre ich mir übers Gesicht. Ich hatte doch extra darum gebeten, nicht in der Bude zu rauchen. Warum hatte ich das nicht mitbekommen? War ich echt so dicht gewesen?  Ich werfe eine Aspirin in ein Glas Wasser und schaue ihr beim Sprudeln zu. Dann trinke ich dieses medizinische Gift, schmeiße mich aufs Sofa und warte darauf, dass der kleine Mann in meinem Kopf aufhört, mit dem Hammer gegen meine Schädeldecke zu klopfen. Währenddessen checke ich mein Handy. Die WhatsApp-Gruppe ist voll mit Videos und Bildern von gestern Abend. Ich, mit einer Partykrone, über den Kuchen gebeugt, während alles um mich herum brüllt: „I don’t know about you, but i'm feeling 22.“  Ich sehe nicht sehr fröhlich aus, finde ich, und das liegt nicht daran, dass ich eigentlich gar nicht so ein riesiger Taylor-Swift-Fan bin. Ich denke nicht, dass es den anderen aufgefallen ist, aber meine Augen glänzen verdächtig. Wenn es ihnen doch aufgefallen ist, halten sie es bestimmt für Freudentränen wegen der coolen Party, die sie für mich organisiert haben. Und ich habe mich natürlich auch gefreut, als es an meiner Tür klingelte und statt des erwarteten „Lieferando, eine Lieferung für sie“ plötzlich „Üüüüüüberraschung“ durch die Sprechanlage gebrüllt wurde. Eigentlich hatte ich mir den Abend mit einer Pizza, einem schönen Geburtstagsanruf von meinen Eltern und meiner besten Freundin und einem schnulzigen Liebesfilm à la Pretty Woman oder Dirty Dancing vorgestellt. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Geburtstage. Im Gegenteil, ich liebe sie, vor allem als ich noch zu Hause wohnte, mein Papa das Haus mit Luftballons und Girlanden schmückte, meine Mama einen mehr oder weniger schönen Schmetterling aus Biskuitböden und Obst backte und ich vor Aufregung kaum schlafen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich den batteriebetriebenen Hund oder das Einhorn mit den pinken Flügeln geschenkt bekomme. Als ich gestern früh aufwachte, hasste ich plötzlich mein 22 Jahre altes Gesicht im Spiegel. Nicht wegen der Zahl und auch nicht wegen meines Aussehens, sondern eher wegen des Gedankens, dass die 25 nicht mehr weit war, und dann die 30 und dann die 40 und dann… Naja, ich glaube, man versteht es. Dabei habe ich gar keine Angst vor dem Altern. Der Gedanke, irgendwann weißhaarig mit meinen Freundinnen am Tisch zu sitzen und dabei Tee mit Törtchen zu verzehren, gefällt mir. Was mich stört, ist, dass ich die 22 Jahre scheinbar nicht gut genug genutzt habe. Das vermittelt mir zumindest mein Handy. Ich habe Europa noch nie verlassen, keine abenteuerliche Backpacking-Tour gemacht oder ein Semester lang Cornetto und Cappuccino in Italien gefrühstückt. Ich hatte auch keinen „Hot-Girl-Summer“ oder -Winter oder generell irgendwas Hottes. Und jetzt, jetzt erscheint es mir aus irgendeinem, komplett sinnfreien Grund zu spät, noch irgendwas daran zu ändern, weil ich ja mit 40 Jahren wahrscheinlich eher keine Backpacking-Tour durch Asien mache und mir nur noch ein Jahr für ein Auslandssemester bleibt. Meine Oma würde jetzt sagen: „Eure Generation hat wirklich große Sorgen.“ Dabei würde sie lachen, weil sie und ihre Freunde damals in Trümmerhaufen spielen mussten und es zu Weihnachten eine Orange gab. Ja, meine Generation hat viele Möglichkeiten, aber vielleicht zu viele. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Persönlichkeiten: Clean Girl, Boss Bitch, Moongirl, Sungirl, Slut, und mit achtzehn haben manche schon das erste Startup, den Modelvertrag oder die Million. Alle sind natürlich mega schlau, schlank und super sexy. Ja, kein Wunder, dass ich mich mit meinen 22 Jahren und meinem mittelmäßigen Bachelorstudium komplett unfähig fühle. Und während ich schwitzend meine Zeit in der Bibliothek verbracht habe, zeigt ein schlaues, schlankes und super sexy Girl auf meiner For You, wie sie „den Flug einfach gebucht hat“. Schließlich sollte man nicht immer nur überlegen, sondern einfach mal MACHEN. Aber davor: „Rennt zu DM.“ Und ich mache das auch, ich renne zu DM und kaufe diesen blöden Lippenstift, weil ich ihn mir leisten kann, das Flugticket für die viermonatige Workation aber nicht.  Ich seufze, weil ich merke, dass meine Unterlippe wieder zu zittern beginnt. Prophylaktisch greife ich nach der Packung mit Taschentüchern auf dem Sofatisch, als eine neue Nachricht auf dem Bildschirm aufploppt. Sie ist von meiner Mama. Ein Bild von mir, vier Jahre alt, mit Zahnlücke und Geburtstagskrone. Sie schreibt: Papa und ich haben gerade die alten Fotoalben von dir angeschaut. „Wir sind so stolz auf dich, meine Große.“ Ich stehe auf, gehe zum Kühlschrank und hole mir ein restliches Stück Geburtstagstorte, schließe die Augen und stelle mir vor, sie wäre aus Biskuitteig und hätte die Form eines Schmetterlings.

 

Luise Barth

 

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freiTEXT | Sean Keibel

Die Regeln unseres Hauses

Die Regeln unseres Hauses landeten wie vom Himmel gefallen eines Tages einfach auf dem Tisch. Dort wurden sie dann ohne Umschweife ausgebreitet, wie man einen Fächer öffnet, und als vollendetes Regelwerk ohne Diskussion eingeführt. Zeit für eine Diskussion wäre zweifellos gewesen, auch in der Folgezeit für viele Diskussionen noch, man machte uns sogar das Angebot dazu, offerierte kleine Geschenke, bettelte uns schließlich geradezu auf Knien an – alles umsonst, wir konnten nichts mit den Regeln anfangen außer sie zu befolgen. Etwas anderes ließen sie nicht zu. Allein schon weil beim Lesen – wenige wagten sich an das Unterfangen alles durchzulesen, und wessen Augen durch die tausend Querverweise noch nicht nach links und rechts ausgeschlagen waren, der konnte sie fortan für nichts mehr benutzen und war als unbrauchbar gezeichnet für das Haus – weil beim Lesen schon die nächste, die übernächste Regel sich dreist hineinschob, schließlich eine oder mehr von einem ganz anderen Ort, allein schon deshalb blieb uns nichts anderes übrig als sie alle abzunicken.
Mancher Fremder, der kam, um Gast zu sein in unserem Haus, zeigte sich schockiert über unsere vollständige Einbindung ins Regelwerk, über den Grad unserer Aufopferung, und natürlich witterte er Ausbeutung, was er uns freilich verschwieg, um uns ein würdeloses Eingeständnis zu ersparen. Stattdessen wurde zu einer späten Stunde – wir lauschten in solch einem Fall – der Hausherr konfrontiert, der sich zur Überraschung noch jeden kritischen Gastes überaus verständig zeigte. Mit einem Ton der Dankbarkeit, wie wenn man nach jahrelangem Alleinstehen mit einem Problem endlich ein offenes Herz und Ohr gefunden hat, versicherte er dann seine eigene Unzufriedenheit mit der Lage, worauf der Gast beruhigt gehen konnte, denn er hatte seine Schuldigkeit getan.
Die Regeln griffen ineinander, und selbst wenn sie es nicht getan hätten, wären sie voneinander gerade einmal soweit entfernt gewesen wie Bruder und Schwester; aus dem gleichen Leib kamen sie, den wir natürlich nicht kannten, in den wir also keine Einsicht hatten, weshalb wir auf ihre Sinnhaftigkeit und Unaustauschbarkeit vertrauen mussten – das wiederum hatte der Hausherr nicht gern, doch beschwerte er sich nie bei uns, allzu bewusst war ihm das Zutun seines eigenen mangelnden Umgangs mit uns zu unserer Hilflosigkeit. In der Konsequenz all dessen wurden wir zu den fleißigsten Regelbefolgern überhaupt, denn der einfachste Umgang mit Regeln ist, sie zu befolgen. Schon beim leisesten Versuch, einmal zwei oder gar drei Regeln gedanklich zusammenzubringen, wurde uns schwindelig. Die Regeln des Geschirrspülens überschnitten sich mit den Regeln des Kücheputzens, dies über das Element des Fußbodens, der sowohl gewischt zu werden hatte als auch nass werden konnte beim Geschirrspülen; über denselben Fußboden überschnitten sich die Regeln des Kücheputzens mit denen des Dieleputzens; die überschnitten sich mit denen des Kohlenschaufelns und -lagerns, welches sich in der Kammer unter der Treppe abspielte; die mit denen des Auskratzens und Wiederbeladens der Feueröfen. Nur einer war verantwortlich für nur eine Aufgabe, die Regel saß an der Verbindungsstelle zweier Aufgaben, derer es pro Aufgabe einige gab, sodass ein Einzelner durchaus mehrere Regeln beherrschen, aber niemals mehr als eine auf einmal beherzigen musste. In der Aufgabe lag die völlige Verausgabung.
Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Der Vorabend des Aufstands ist noch fern; werden wir auch einmal unseren Hausherrn stürzen, und so kommt es gewiss, wird doch keine Revolution daraus werden; schon sehe ich uns Kopf kratzend um das Regelwerk stehen, den Hausherrn im Ofen, wir allesamt unfähig, Justierungen daran vorzunehmen. Hätte man es uns nur nicht als Ganzes, als Fertiges vorgelegt – so aber kann man es nur ganz annehmen oder ganz verwerfen. Ist auch fast alles darin hervorragend gelungen und nur eine Regel missraten – das Werk ist entweder ganz geglückt oder ganz verdorben. Aber das müssen meine Brüder und Schwestern selber begreifen, wenn er da ist, der Moment, dass man bereit sein müsste, eine ganze Zivilisation zu verwerfen, wenn man nicht flicken kann. Die Regeln unseres Hauses werden bleiben, nicht solange der Hausherr, sondern solange das Haus bleibt.

 

Sean Keibel

 

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freiTEXT | Clemens Braun

Halbzeit

Ich bin zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen, dachte ich, Jots Worte noch einmal wiederholend, die nicht nur ihre, nein, ursprünglich auch die Worte jenes Querulanten gewesen waren, der seit Jahren meine Familie, die Familie meines Onkels und somit eines berühmten österreichischen Dichters mit seinen unerwünschten Wortspenden und noch weniger erwünschten Bittgesuchen in strafrechtlich relevanter Weise zu belästigen pflegte, der aber tatsächlich, wie er bei seiner Einvernehmung, die einstweilige Verfügung gegen ihn betreffend, zu Protokoll gegeben hatte, zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen war. Seine in jeder Beziehung prekäre Lage, die natürlich auch Gesprächsthema auf der Familienfeier im Waldviertlerhof war, erinnerte mich an Jot, an ihre Verfassung als wir uns vergangenen Juni, mühevoll der Rube-Goldberg-Maschine der Deutschen Bahn entkommen, in einem winzigen bayerischen Kurort wiederfanden, um an einer wissenschaftlichen Tagung teilzunehmen.

Seitdem sie ihre Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, bei der er sich de facto um eine Hundertprozentstelle handelte, so wie alle de jure Fünfzigprozentsstellen de facto Hundertprozentstellen sind, hatte sich ihre ohnehin ins Katastrophische tendierende Weltanschauung nur verdüstert. Das Unglück, sagte sie, fange jeden Tag aufs neue in der Früh an, habe man Schlafstörungen, gebe es den Morgen, der die dunkle von der hellen, die insgeheime von der offiziellen Arbeitszeit trenne, ohnehin nur als soziales Ritual, bei dem man wohl oder übel mitspiele. Man wache auf, sagte sie, und finde sich seelisch wie geistig zerklüftet vor, mürbe, zusammenhangslos, bevor man langsam und unter Rückfällen der schmerzvollsten Art die nächste Bewusstseinsstufe ansteuere. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich begonnen hatte, Notiz von ihren Monologen zu nehmen, die immer stärker jenen philosophischen Schriften ähnelten, die Jot sich zur eigentlichen Lebensaufgabe gemacht hatte zu untersuchen und von denen sie mehr als einmal gesagt hatte, sie sollten ebenso gewürdigt und bewundert werden, wie man das Chamonix-Mont-Blanc-Tal oder ähnlich erhabene Gebirgslandschaften bewundert. Gerade weil sie diesen Vergleich selbst mehr als einmal angestellt hatte, war ich überrascht, wie gleichgültig sie die geradezu kitschige Alpenkulisse ließ, die sich vor dem Frühstückssalon des Kurhotels Höllrigel erstreckte. Ein einziges Frustfressen, murmelte ich Jot halblaut zu, die zwei Teller mit den dick bestrichenen Buttersemmeln und dem Schwarzwälder Schinken in den Händen, Jot, die zerklüftet über ihrem doppelten Espresso vor sich hin weste, und im Gegensatz zu mir, der unter den Verwerfungen des akademischen Arbeitslebens immer fülliger wurde, mit jedem neuen Tag dünner zu werden schien. Diese Gegenüberstellung, dachte ich, ließe sich beliebig fortsetzen, denn während ich immer ausgiebiger dem Alkohol zusprach, wurde sie beklemmend nüchtern, ich fing zu rauchen an, sie hörte mit dem Rauchen auf etc. Auf so unterschiedlichen Wegen näherten wir und unsere Symbolkörper uns seit geraumer Zeit, seit wir unser chronisch unterfinanziertes, im Grunde unter Selbstausbeutungsbedingungen betriebenes Langzeitprojekt zu stilometrischen Analysen begonnen hatten, einem Zustand der völligen Erschöpfung und Erniedrigung, aber zugleich: der Weltvergessenheit, glücklich nicht, aber ebensowenig traurig.

Der Körper, setzte ein Philologe mit morgendlichem Stück Schwarzwälderkirschtorte neben uns trocken an, der Körper brauche bis zu zwei Kilogramm reinen Zucker täglich, das bilde Blut, das Gemüse hingegen sei völlig verbleit und verstrahlt, gerade in sogenannten Mondjahren. Ganz zu schweigen von Jahren mit dreizehn Monden, schmunzelte die Salzburger Psychoanalytikerin, deren Anwesenheit ich jetzt erst vollends bemerkte; eine Anspielung, auf die hin der Philologe zwischen den gebleckten Zähnen Luft entweichen ließ und anmerkte, dass er tatsächlich im Besitz eines handschriftlichen Briefes von Rainer Werner Fassbinder an seinen Astrologen wäre und dass jener ja nur Ende Mai auf die Welt hätte kommen können, gar nicht weit von hier, dass ein Charakter wie Fassbinder ja ein geradezu klassischer Zwillingscharakter wäre. Von hier aus entspann sich ein Gespräch, das mit Unterbrechungen bis zur Mittagspause andauerte, und an dem Jot, die sich nicht für Astrologie, sehr wohl aber für Geistespathologien aller Couleur interessierte, rege Anteil nahm. In den geschlossenen Abteilungen, sagte sie zu mir auf dem Weg zur Sonnenterrasse im Halbstock, wo ich eine Zigarette rauchen und Jot den Wunsch unterdrücken würde, eine Zigarette zu rauchen, in den geschlossenen Abteilungen säßen ja Tausende von Leuten, die sozusagen eine Verrücktheit begangen haben, die nicht annähernd so verrückt sei wie die ihrige. In den geschlossenen Abteilungen würden Leute festgehalten, die nur einmal nicht Nein gesagt haben, wo sie Nein hätten sagen sollen, die einmal gelächelt haben, wo sie nicht lächeln hätten sollen, sagte Jot, das müsse man sich einmal vorstellen. In der Psychiatrie, fuhr sie fort, zeige sich unser eigenes Doppelbild, das Doppelbild von uns allen, nämlich verrückt zu erscheinen und es nicht zu sein, verrückt zu sein und nicht so zu erscheinen. Auch aus meinem Onkel hätte ebensogut ein berühmter Verrückter wie ein Dichter werden können, aber weil er in Wahrheit verrückt sei, wie ich bestätigte, erscheine er nicht so. Nein, in Wahrheit brauche mein Onkel den Querulanten, den Jot durch meine Erzählung zur Genüge kannte, wie der Polizist den Kriminellen brauche, ein unseliges Zwillingsgespann wie in diesem Meme der zwei aufeinander zeigenden Spidermen, in das ich Jot auf der Zugfahrt eingeweiht hatte.

Nicht zuletzt, schien es mir, dachte sie bei diesen Ausführungen an sich selbst, immerhin hatte man in dem Moment, als sie ihre quasi unkündbare Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, begonnen, über ihre Geistesverfassung zu munkeln, nur, weil sie es gewagt hatte, statt wie bisher zu allem Ja zu sagen, nur zur Hälfte der an sie herangetragenen Verpflichtungen Ja zu sagen, was logischerweise bedeutete, dass sie begonnen hatte, zur Hälfte Nein zu sagen. Aus der Fluchtlinie, die ihre Fünfzigprozentsstelle hätte bedeuten sollen, wurde eine Falltür, hatte man doch aus Jots aufflackernder Selbsterhaltung den Schluss gezogen, die Entfristung wäre ihr restlos zu Kopf gestiegen und zöge eine nachhaltige intellektuelle Verheerung mit sich. Jedes Dienstverhältnis sei auch ein Verhöhnungsverhältnis, sagte sie, wohl wissend, dass ich als Neffe eines berühmten österreichischen Dichters keineswegs arbeiten hätte müssen, mir keineswegs erniedrigende Schlupflöcher durch den universitären Mittelbau hätte bohren müssen. Unser gewissermaßen freigewähltes Unglück verband uns auf besondere Weise, verschwisterte uns, dachte ich später, den Waldviertlerhof verlassend, hatte Jot doch ihre nicht wenig erfolgreiche Künstlerkarriere aufgegeben, um in die akademische Halbwelt ein- und in dieser abzutauchen, um Luft ringend, bis man ihr den bleiernen Rettungsring der Entfristung um den Hals gelegt hatte.

Spätabends, als wir uns durch Wogen von Kölner Fußballhooligans, deren freundschaftlicher Rückenklopfer mir die halbe Luft aus dem asthenischen Brustkorb gepresst und in mir einmal mehr das Bedürfnis geweckt hatte, der verbrecherischen Tragikomödie der Menschheit ein Ende zu setzen, den Weg aus der Bierstube des Höllrigelschen Hotels bahnten, wo die Psychoanalytikerin wiederum meinem Onkel, von dem sie nicht wusste, dass es sich um meinen Onkel handelte, dem berühmten österreichischen Dichter jedenfalls attestiert hatte, in Wahrheit ein Kolonialdichter zu sein, der mit herrischem Blick die halbe Erdkugel abschreiten würde, fragte mich Jot, ob ich mir dieser, meiner Entscheidung bewusst wäre. Man suche sich die eigene Falle nicht zur Gänze aus, sagte sie, aber vielleicht zur Hälfte, als wollte sie mir an diesem Abend die Augen öffnen, als wollte sie mir ihrerseits einen letzten Rettungsring zuwerfen, mein halbes Leben läge ja noch vor mir, sagte sie. Wie gerne wollte ich ihr glauben, als ich mich anschickte, den Waldviertlerhof durch den Garten zu verlassen, an der vom Blitz gespaltenen Robinie vorbei, im Kopf noch die Geräusche und Formulierungen meines Onkels, die längst mein Neffenbewusstsein kolonisiert hatten, längst meine Geräusche und Formulierungen geworden waren, sein lautes Grüßgott etwa, das ich nicht weniger gewohnheitsmäßig als er bei Betreten eines Raumes mit ostentativer Höflichkeit in selbigen Raum hineinbellte. Auch das Familientreffen hatte ihm gehört, seine Stimme tönte weiter, den abwesenden Querulanten verwünschend, und die Gummiknödel schwer im Magen war mir, als füllte die riesige, geradezu orwellianische Visage meines Onkels mit seinen schwarzen Augen den Waldviertlerhofhof, drängte sich mir aus zwei der vier Ecken auf und zwänge mich hinaus, zwänge mich zur Flucht, hinaus auf die Schönbrunner Straße, stadteinwärts, in Richtung Universität.

 

Clemens Braun

 

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freiTEXT | Ann-Christin Kumm

pflanzen beneiden. schreiben gegen ohnmacht

ich nehme mir vor, mehr lyrik zu lesen, besonders morgens, es räumt mir den kopf auf. ich lese mary oliver. ich lese selma merbaum, regen als tränen.

selma merbaum wurde nur achtzehn jahre alt. von den nazis in ein zwangsarbeitslager verschleppt, starb sie 1942.
ich lese ihre biografie (marion tauschwitz: „selma merbaum. ich habe keine zeit gehabt zuende zu schreiben. biografie und gedichte.“) und erfahre, dass sie nach ihrem tod unter falschem namen erinnert wurde und wird, ihr wiki-eintrag führt den noch.
ich erfahre, dass sie sich um die kinder im lager kümmerte. sie ging mit ihnen muscheln suchen, steine und pflanzen. naturkundeunterricht am fluss. ein fluss, der am lager vorbeifloss, ein fluss, an dem sich die leichen zu stapeln begannen, die über die böschung geworfen wurden.

der schmale grat zwischen bewunderung und inspiration porn. zwischen aus der vergangenheit lernen und sich in den zeiten nicht mehr zurechtfinden.

merbaum schreibt:
„und wenn die gärten verlassen sind,
dann sind sie es nur für mich.“

ich lese katrin de vries, die ihren garten verwildern lässt („ein garten offenbart sich. erzählung von einem anderen leben“).
abgestorbene bäume werden von pilzen zersetzt. wilde stiefmütterchen wachsen unter dicken bohnen. ein rasen wird ungemäht zum wiesendickicht. ein prozess, durch den sie sowohl den garten als auch sich selbst zu verstehen beginnt. der mensch als eines von anderen tieren. sich selbst weniger wichtig nehmen. ich beneide de vries um das stück land, auf dem sie eine wiese wachsen lassen, auf dem sie sich in beobachtungen vertiefen kann ganz nach ihrem ermessen. niemand, die_der ihr da reinredet, weil grundbesitz. ich beneide sie, dabei – und ich blende jetzt materielle gründe aus, denn weder meine generation noch die nach mir kann sich mal eben häuser mit gärten leisten – finde ich eigenen grund und boden in diesen zeiten eine eher schlechte idee. ich möchte zumindest das gefühl haben, jederzeit gehen zu können, die zelte abbrechen, die brücken abbrennen. privilegien, all das. wenn ich gehen will, obwohl ich bleiben kann.

stichwort privileg: ich fahre ans meer, was ähnliche auswirkungen auf mich hat wie lyrik lesen am morgen. der kopf wird klarer, das gefühl, nichts ausrichten zu können und sinnlos vor mich hinzuvegetieren, wird kleiner.
es ist so ähnlich, wie unter dem sternenhimmel zu stehen und erleichtert zu sein über die eigene nichtigkeit, nur andersherum: in der natur komme ich mir weniger nichtig vor. eher wie teil von etwas großem. vielleicht ist das widersinnig.

meanwhile zu viele handlungsskizzen, zeilenanfänge und lose enden, ich weiß nicht wozu und wohin. welchen „ideenkeimen“ (patricia highsmith) mich zuwenden?
wenn ein text auf dem papier steht, aber nicht gelesen wird, ist er dann ein text?

ich rette einen silberfisch aus der badewanne. am nächsten tag sitzt they wieder darin, oder es ist ein anderer, der them extrem ähnlich sieht, was, sage ich, hoffst du in der badewanne zu finden. dabei weiß ich genau, dass es nicht die schuld der silberfische sein kann, wenn menschen silberfischtodesfallen in ihre badezimmer einbauen. ich bin mir nicht sicher, ob das schreiben über „zur urtümlichen insektenordnung der fischchen“ (wikipedia) gehörige mitbewohner_innen zu nature writing zählt. aber ich lerne nebenbei, dass sie auch zuckergast genannt werden. sie mögen kohlenhydrate. feel you, silberfischchen.
ich beneide sie, weil politische entwicklungen für sie keine rolle spielen. sollte es irgendwann keine küchen und badezimmer mehr geben, überleben sie auch unter steinen.

ich lese viel, aber anders als früher. ich lese zeitungen, onlineartikel und newsletter. ich lese bücher von hinten nach vorn oder nur in der mitte, um sie dann wegzulegen und ein anderes anzufangen. ich sammle wörter, denn winter is coming. ich lese thriller und essays und abhandlungen über toxische männlichkeitsbilder bei jane austen.
ich experimentiere mit genres und gattungen, lesend wie schreibend.
ich experimentiere mit textschnipseln auf bluesky. zu anfang vermisse ich instagram, das ich wegen METAs vorauseilenden gehorsams gegenüber trump verlassen habe. dann beginnt es mir besser zu gehen ohne instagram. ohne das beständige hin und her zwischen politischem und pseudo-apolitischem content – ich schreibe pseudo, weil auch das eine entscheidung und damit sehr politisch ist. ohne function follows bildästhetik. ohne hassinhalte, die mir der algorithmus ungewollt anbietet. ich fühle mich ein bisschen wie nach einer entgiftung.

eine freundin schreibt mir: für dich selbst zu sorgen ist ein akt der rebellion. ich schreibe ihr, dass ich in diesem jahr (stand märz) mehr nachrichten gelesen habe als in den jahren davor zusammengerechnet. aber meine informationsaufnahme ist gezielter geworden. bewusster. vieles lässt mich verzweifeln. manches macht mir hoffnung. ich fühle mich klein angesichts der weltlageTM. ich gehe auf eine solidarität-mit-der-ukraine-demo. ich überklebe naziaufkleber. ich reposte kritische kommentare von menschen, die mehr verstehen als ich. ich probiere bandenbildung. tropfen auf heiße steine.

dieser tage beneide ich nicht nur die zuckergäste und gartenbesitzerinnen, sondern auch die pflanzen, die sich immer wieder anpassen, die sich weiterentwickeln und dem klimawandel trotzen. über_lebenskunst. sie wachsen in lücken im mauerwerk, ihre resilienz ist unvergleichlich. ihre geduld auch: jahre und jahrzehnte verharren manche samenkörner im boden und warten. auf wärme. auf regen. auf bessere zeiten.
es tut mir gut, über pflanzen zu lesen. über pflanzen zu schreiben. fast so gut, wie die finger in die erde zu schieben und die wurzeln freizulegen zum vereinzeln in der pflanzenkinderstube.
eine pflanze braucht keine hoffnung, sie macht einfach weiter. das zumindest kann ich mir von ihr abschauen. weitermachen.

 

Ann-Christin Kumm

 

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freiTEXT | Stefan Volkmann

Grünspan

Der 16jährige Ich-Erzähler und zwei Freunde sind nach Stuttgart gefahren, um ein Konzert zu sehen. Das Konzert wird kurzfristig abgesagt, sie sind mindestens drei Stunden früher als gedacht wieder zurück in Wörth am Rhein zuhause.

Wir gingen zum Golf, stiegen ein. Uwe hielt an der Tankstelle, kaufte eine Tüte Chips und ein Sixpack. Wir glitten über die Autobahn.
„War besser als Zuhausebleiben.“
„Looking on the street, better than tv.“
Uwe parkte vorm Jugendzentrum.
„Wir sagen allen, 's war 'n Superkonzert. Hate Convoi ham zwei Stunden gespielt, die Vorband Spätzlekiller is 'n Geheimtip.“
„Ja, so geheim, dass sie nich mal aufgetreten is.“
Olli drehte einen Joint, kurbelte das Beifahrerfenster runter, zündete ihn an und lachte. Ich hoffte, Lene sei bei mir und wollte aussteigen.
„Ich brauch unbedingt die neue Spätzlekiller-Platte.“
„Ich geh nach Hause.“
„Er will zu seiner Kleinen.“
„Mittwoch, Spitz ins Loch.“
„Heut is Donnerstag.“
„Wenn du verliebt bist, is jeder Tag Mittwoch.“
„Ich bin gefahrn und steh nich auf.“
„Ich häng am Joint und kann nich aufstehn.“
Uwe seufzte, stieg aus und klappte den Sitz vor. Ich kletterte von der Rückbank, aber der Asphalt wankte wie ein Schiff bei leichtem Seegang.
„Komm gut nach Hause.“
„Grüß die Kleine.“
„Mach ich.“
Ich ging am Spielplatz, den Schrebergärten und Tennisplätzen vorbei, dachte, wenn die Sportanlagen unter den Flutlichtern fertig seien, lägen beim Freibad oben größere Tennisplätze als die alten hier unten. Würden hier neue Schrebergärten angelegt oder Wohnblöcke hoch gezogen? Ich lief durchs Einkaufszentrum, kam am Kleinstadtwol- kenkratzer vorbei und suchte Nadines Fenster. Es war dunkel, sie schlief. Ich kam an der Bücherei vorbei, ging über die Fußgängerbrücke und schaute zu unserer Wohnung, alle Fenster waren dunkel, Lene nicht da. Ich lief zum Wohnblock, ging das Treppenhaus hoch und schloss die Tür auf, schaltete Licht an, zog meine Converse aus und stand in der Küche. Lenes Jacke hing über einem Stuhl, ihre Tasche lag auf der Eckbank. Ich dachte, sie schlafe, schaltete Flur- oder Küchenlicht aus und schlich in mein Zimmer. Mein Bett war leer, ich hörte Geräusche, ging zu Jens' Zimmer und öffnete seine Tür. Die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm tauchte sein Bett in morsches Licht. Er lag auf seinem Rücken, sie saß auf ihm, ihre Schenkel waren gespreizt, er streckte seine Arme aus, legte die Hände auf ihre Brüste, aber seine Basketballerhände schienen zu groß oder ihre Brüste zu klein. Jens streichelte sie sanft, wie ein Schmetterling, der mit seinen Flügeln schlägt. Sein Unterwäschewerbewaschbrettbauch spannte und entspannte sich in kürzer werdenden Abstän-den. Ich spürte Schleier vor meinen Augen, als regnete Sand unter meinen Lidern.
„Jens sieht aus wie Apollo oder Amor“, hatte Tamara mal gesagt.
„Ja sicher“, hatte ich gelacht, „ne Mischung aus Adonis und Alain Delon, von Rodin gemeißelt.“
Er lag mit dem Kopf zur Tür, hätte mich nicht sehen können, blonde Haare fielen über ihre Brüste, bedeckten seine Hände und Unterarme. Lene öffnete zeitlupenlangsam ihre Augen, starrte mich an, aber schloß die Augen wieder. Ihr Hüftrhythmus geriet ins Stocken wie eine Maschine, die stottert, aber reibungslos weiter schnurrt. Ich dachte, ich sei auf der Rückbank im Golf eingeschlafen, stolperte rückwärts, wankte in mein Zimmer und fühlte mich, als wären Jahrzehnte vergangen. Aus ihren Mündern rieselte Sand, ihr Keuchen, Stöhnen und Atmen wehte Körner in mein Zimmer. Feuchte Dünen bedeckten meine Knie und türmten sich um meine Hüften. Ich kämpfte mich hoch, wankte in die Küche und warf ihre Tasche vor seine Tür, schloß mein Zimmer ab, barg meinen Kopf unterm Kissen und weinte. Dampflokomotiven stürzten auf meinen Körper, Eisen verdichtete sich zu Dunkelheit, die nicht schwarz genug war, darin zu verschwinden. Ich schaute in den Flur, ihre Tasche lag nicht mehr vor seinem Zimmer, und ging in die Küche, ihre Jacke hing noch überm Stuhl. Schlich zu Jens' Zimmer, drückte die Klinke und schob seine Tür auf. Er lag auf dem Rücken, atmete wie ein Baby, sie auf ihrem Bauch, aber hatte ihr Gesicht in seiner Achselhöhle vergraben. Seine Boxershort hing über einem Stuhl, ihr Slip lag am Fußende des Bettes auf dem Teppich. Jens war dunkel und trainiert, Lene schmal und hell, ein schönes, vom Liebemachen oder von Liebe erschöpftes Paar. Ich sah die Schere auf dem Tisch, nahm sie und schlich ans Bett, schnürte ihre Haare zum Zopf, setzte die Schere an und drückte beide Griffe. Lene lag so ruhig, als schliefe sie, aber lächelte, als empfinge sie eine Strafe, die sie für gerechtfertigt hielte und die sie erlöste.
„Kennst du Lene?“
„Ja, die mit den langen blonden Haaren.“
Ich stolperte in mein Zimmer, der Zopf schleifte über den Teppich, glaubte, sie weinen zu hören, aber sie hätte Tränen unterdrückt, bis ich im Flur war. Falls ich sie weinen hörte, war es ein Traum, weil ich hoffte, sie sei traurig. Ich ging in die Küche, öffnete den Abfalleimer und warf ihren Zopf in den Müll, war halb aus der Küche draußen, drehte mich wieder um und öffnete den Abfalleimer, zog eine blonde Strähne raus, rollte sie in meiner rechten Hand zu einer Schlinge und ging in mein Zimmer. Steckte die Schlinge – ihre Strähne – in einen Briefumschlag, legte ihn in die unterste Nachttischschublade und zog mich an, brachte den Müll zur Tonne, holte Brötchen und wartete auf ein Gefühl, was in Ordnung gebracht zu haben, aber es kam nicht, nichts kam, niemand.

 

Stefan Volkmann

 

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freiTEXT | Ben Rinosch

Der Sturz – Ein MRT-Bericht

Bin ich ein auf dem Rücken liegender, blau schimmernder Tintenkäfer? Oder bin ich ein auf dem Rücken liegender, kleiner Vogel, ein Zaunkönig vielleicht? War ich bisher nur ein Zaungast, der den Menschen dabei zusah, wie sie sich amüsierten, wie sie miteinander sprachen, lachten und stritten?
Ich sehe durch ein kleines Fenster hindurch auf das weite Meer hinaus. Das stetige Hämmern und Klopfen ist beunruhigend. Ich erinnere mich an nicht enden wollende Nächte, in denen ich frühmorgens in dunklen und kalten Technobunkern strandete. Völlig besoffen.
Menschen in Reih und Glied stampfen nach elektronischer Musik und auch dort ein stetiges Hämmern und Klopfen. Das Herz rast davon, als würde es sich in den frühen Morgenstunden nach einer langen Nacht weiter am Leben abarbeiten. Und ein Discjockey oben auf der Bühne, ummantelt mit Aluminium, steht vor seinem Cockpit. Er drückt Knöpfe und fährt Schalter rauf und runter. Ab und zu jault er auf und dreht sich im Kreis.

Ich liege in einer Metallkapsel flach auf dem Rücken.
Die Metallkapsel ist Teil eines Raumschiffes. Schon bald wird es die Erde verlassen. Ich umklammere meine Kopfhörer, in der Hoffnung sie würden die Störgeräusche abschirmen. Ich frage mich, warum die Menschen andauernd produktiv sein müssen. Und dann wird andauernd gebaut und dabei Lärm erzeugt. Grobe Materialien, die mit schweren Maschinen bearbeitet werden. Überall Maschinen. In den Wohnungen. In den Gärten. Auf den Gewässern. In den Händen der Bauarbeiter:innen und Handwerker:innen. Fahrende Maschinen auf den Straßen und auf den Gewässern und in der Luft fliegende Maschinen, Milliarden von Maschinen, die wir in unseren Händen halten...
Denke an das Meer, sage ich mir. Schau genau hin. Dort wirst du vergessen.

Vorgestern hatte ich noch in einem Bio-Supermarkt gearbeitet, war auf nassen Fliesen ausgerutscht, die kurz zuvor gereinigt wurden. War also kurz in der Luft. Dann der Aufprall. Warum hatte ich danach weiter gearbeitet, als wäre nichts gewesen? Und wie kam ich auf die bescheuerte Idee in einem Supermarkt zu arbeiten? Weil ich als Buchhändler ein mieses Taschengeld bekam und ich bei gleicher Arbeitszeit im Supermarkt 500 Euro mehr im Monat bekomme? Aber so langsam geht mir ein Licht auf: Obwohl die Kolleg:innen im Bio-Supermarkt zueinander freundlich sind und trotz harter Arbeit andauernd lächeln, weiß ich noch nicht, ob ich das jemals erreichen kann. Und ob ich das überhaupt will. Schon am ersten Tag hatte ich das Gefühl, dass ich das nicht lange durchhalten werde.

Ich liege in einer Metallkapsel, flach auf dem Rücken, immer noch. Das dunkle Blau des Wassers und das helle Blau des Himmels fließen weich ineinander. Ein kleines Fenster lächelt mir zu. Lässt mich ruhig und tief atmen.

Von sechs bis zehn Uhr am Morgen zwölf riesige Kühlschränke nach Mindesthaltbarkeitsdaten durchgehen, die Produkte, die am selben Tag auslaufen, mit
25%-Aufklebern und die Produkte, die am folgenden Tag auslaufen, mit 15%-Aufklebern versehen. Die Produkte, deren Mindesthaltbarkeitsdaten gestern abgelaufen sind, aus dem Warenbestand herausnehmen, löschen und in eine grüne Tonne werfen. Den Restewagen aus einer Kühlkammer holen und die Molkereiprodukte, die gestern nicht mehr in einen Kühlschrank gepasst hatten, in die Kühlschränke füllen. Immer darauf achten, dass die Produkte vorne im Regal ein kürzeres Mindesthaltbarkeitsdatum haben, als die Produkte weiter hinten in der Reihe. Dann die Bestellung für den nächsten Tag. Mit einer Bestellvorschlagsliste arbeiten. Die zwölf Kühlschränke nacheinander durchgehen. Welcher Artikel wie oft? Gibt es Fehlbestände? Wenn ja, dann müssen die später korrigiert werden. Die vorgenommene Bestellung speichern. Dann ins Büro flitzen und die gespeicherten Daten am Computer sichten. Die Bestellung öffnen, prüfen und freigeben. Ausloggen.

In der Nacht nach dem Sturz war mir sehr übel gewesen. Es war für mich unmöglich auf dem Rücken zu liegen. Um 04:05 Uhr war ich aufgestanden und hatte mir überlegt, trotz des Sturzes zur Arbeit zu gehen. Kurze Zeit später hatte ich im Bio-Supermarkt angerufen und mich krankgemeldet. Der behandelnde Arzt hatte mir wenige Stunden später einen Überweisungsschein für die Radiologie mitgegeben.

Die Störgeräusche sind immens, das kleine Fenster meine Rettung. Ich muss immer wieder an die Arbeit denken und ich komme auf den Gedanken, dass der Verkaufsjob im Bio-Supermarkt so etwas wie eine Ameisenbeschäftigung ist. Wie kann es sein, dass ich in meiner Freizeit andauernd an die Arbeit denken muss! Alles ist so leidenschaftslos durchorganisiert und was sich vielleicht von einem Ameisendasein unterscheidet, ist, dass meine Kolleg:innen Humor haben und dass immer mal wieder gelacht wird. Obwohl ich den Humor nicht schön finde. Ich weiß schon, was drunter liegt: Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit.
Ich will den Sturz als eine Art von Protest begreifen. Der Sturz ist meine Rettung und ich will dem Reinigungsmann danken, dass er zu viel Seifenlösung in das Putzwasser getan hatte. So falle ich für ein paar Tage aus. Und vielleicht wird mir schon in ein paar Tagen ein Licht aufgehen: Ich arbeite für ein Bio-Supermarkt-Imperium und da bringt es mir auch nichts ein, dass sich alle duzen und übertrieben freundlich miteinander sind. Ich kann nicht schreiben. Ich kann mich nach der Arbeit nicht konzentrieren. Ich will weiterschreiben, mir neue Stoffe ausdenken, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich muss damit Schluss machen.

Ausloggen. Wieder raus auf die Fläche und schnell die gelieferte Ware reinziehen. Handschuhe an, hunderte von Kartons aufreißen und die Ware verräumen.
Dann an die Kasse und hunderte von Produkten in den restlichen ein bis zwei Stunden über den Kassenscanner ziehen. Ich bemühe mich freundlich zu sein. Ich denke mir, dass ich ein schleimiger Verkäufer bin. Ich hasse es, während meiner Arbeit freundlich sein zu müssen.
Mir ist es ein Rätsel, wie man über Jahre hinweg so hart arbeiten kann. Werden mir nach ein paar Wochen Maulwurfhände wachsen?

Ich liege auf dem Rücken in einer Metallkapsel. Durch meinen Kopf gehen magnetische Strahlen. Störgeräusche. Über mir ein kleiner Sehschlitz. Strand. Runzel-Rosen, Strandhafer und Krähenbeeren. Nordseewellen. Eine Idee davon, dass alles einem stetigen Wandel unterliegt und die Angst davor zu verschwinden.
Aber erst einmal werde ich kündigen. Und dann werde ich weiter schreiben, immer weiter.

 

Ben Rinosch

 

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freiTEXT | Alice Grünfelder

Stadt am Meer

Zikaden
im Ohr, im Kopf, im Denken, als längst kein Wald mehr und kein Gesträuch, die Stadt schon hetzt, aber noch immer Zikaden im Ohr.

Wellen
donnern, rollen, schlagen ein auf das Meer, denn im

Sturm
zerrt schon an den Palmen auf der Promenade, schon wird vor ihm gewarnt, die Menschen hier bleiben gelassen, warten ab, denken, er geht vorüber, dieses Mal geht er uns nichts an.

Luft
darin der Geruch von Klärschlamm, dreht sich träge in runden Becken, zwischen Büschen und Mangroven eine Müllhalde mit Blick aufs Meer, ein blaues Förderband hängt schlaff zwischen Erde und Himmel, wo einst Fels aus den Bergen, Stein zu Kies zu Sand zerrieben wurde, aus einem Turm mit aufgemaltem Wal fallen Betonklötze, unter Planen kauern Menschen mit Gesichtern so grau wie ihre Mäntel, reichen sich Knöchelchen, Geißen ducken sich hinter Brettern vor der Hitze, dem Regen, auf einer asphaltierten Straße hoppelt eine hinunter zum Strand.

Schatten
kann nicht ohne Licht, entlarvt das Dunkel, das Helle.

Taifun
wird erklärt, eine Nachricht ploppt auf, eine Freundin warnt, die Angestellte im Gästehaus spricht bloß von Starkregen, noch ist alles ruhig.

Gedichte
übersetzen – bis der Regen kommt.

Warten
und Wolken nachsehen, ob sie nun langsam oder schneller ziehen, den Gewächsen auf Dächern, ob sie nun stärker schwanken als zuvor, die Fußgänger von oben betrachten, ob sie Regenschirme aufspannen, den Straßenbelag, ob er glitzert im Regen – warten auf den Taifun.

Löcher
sind die Fenster im Haus gegenüber am späten Nachmittag, Löcher so dunkel, als lebte kein Mensch darin, nur in den beiden oberen Etagen flackert ein Licht.

Küstenwachen
stehen in orangefarbenen Hosen, Schwimmwesten, mit Fernglas, Flaschen, Stöcken, Trillerpfeifen, Taschenlampen, seit Wochen schon, stehen da mit dem Rücken zum Meer, andere mit dem Rücken zur Stadt, in Erwartung jedenfalls, schauen, wie der Regen Nägel treibt ins Meer, ob der Sturm kommt oder was anderes, über den Fahrradwegen hängen Ketten, daran gelbe Wimpel mit Wörtern, nicht zu entziffern, so heftig flattern sie im Wind, die Wege hinunter zum Strand versperrt mit rot-weißen Plastikbändern, der Sturm, der Regen, angekündigt für den Nachmittag, kommt nicht, Stunden später nieselt es, als es düster ist und das Meer, der Wind sich beruhigt, fällt der Regen stärker, trommelt gegen das letzte Fenster im Haus, das noch nicht zerbrochen ist von den Regenstürmen zuvor, ein dunkelblaues Auto mit Warnlicht fährt langsam auf dem Damm hin und her, Regen stürzt nun aus Wolken, ein Bagger schaufelt einen schmalen Zugang frei, zugeweht vom Sand über Wochen, Monate, Jahre, damit das Wasser wieder zurückfließen kann ins Meer.

Spiegelung
eine TV-Reporterin in transparentem Regenmantel spricht, auf dem Weg zum Mikrophon gehen die Worte unter in der brüllenden Brandung, der Boden hinter ihr bricht weg, unter einer Fußgängerbrücke hocken zwei Männer, vor ihnen eine Pfütze, ihre Finger gehen hinein, dann zu den Lippen, sie schippen etwas in zwei Becher, Wolken schieben sich über Berge, dass sie darin verschwinden, dorthin geht schon lange keiner mehr.

Regen
splattert heftig an die Scheiben, auf den Asphalt, eine Radfahrerin stemmt sich gegen die Regenwand, die der Wind vor sich hertreibt – bis schließlich jeglicher Verkehr eingestellt wird, weil Felsen den Hang hinunterrutschen, die Berge auseinanderfallen, die Erde.

 

Alice Grünfelder

 

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freiTEXT | Leon Zechmann

Wir drei

Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass du auf die gleiche Schule gehst wie ich früher und schon vor dir deine Schwester. Ich kenne die Räume und Flure zu gut und kann darin verloren gehen. Mondlicht ändert sich nicht in dreißig Jahren, auf den Tafeln lag der Staub nur dichter. Am Fenster deines Klassenzimmers hört man die Geräusche aus der Sporthalle am anderen Ende des Pausenhofs. Davor steht das neue Auto, direkt neben der Plane auf dem Roller deiner Schwester. Ich weiß nicht, wie ich fragen soll, ob wir danach noch in den Drive-in fahren und unter dickem Schnee auf dem Autodach, mit den Fingern in den Nikolaus-Häusern an den beschlagenen Fensterscheiben, nachts uns noch satt essen. Du hast seit gestern Abend nicht mit mir geredet und ich weiß nicht, ob es etwas ändern würde, wäre ich jetzt bei euch. Stattdessen verstecke ich mich im vierten Stock. Der Wind trägt dumpfe Musik nach oben und sie perlt an der dicken Jacke ab. Wenn du dran bist, werde ich es hören können, aber nicht zuordnen.

Ich stand bei allem immer draußen zum Rauchen, um deine Oma sauer zu machen. Du traust dich, heute aufzutreten, ohne Musikstunden. Mich nervt die Asche am Fensterbrett, ich puste sie fünfzehn Meter zu Boden. Ich hätte mich nicht getraut. Deswegen stehe ich, obwohl ich früher aus der Arbeit rausgekommen und hergefahren bin, hier oben. Zwischen jedem Act kommt kurzes Geplänkel, eine moderierende Person mit extrem hoher Stimme duelliert sich mit den Ausschreitungsklängen der nie ausgetauschten Lautsprecher. Ich heule hauptsächlich und wische mir mit langen Bewegungen immer wieder die heißen Tränen nach außen und oben. Ich habe Angst, dich zu verpassen und ich habe Angst, dich zu sehen.

Ich nehme Angst in Kauf, Schuhe zwischen den Fingern über den Boden schlittern, rennend. Das Treppenhaus hinunter, in dem ich mir beim Fangenspielen den Fuß verstaucht hatte, durch den Keller mit dem Werkraum, in dem ich mir mit der Nadel durch den Finger gestochen hatte. Der Korkboden vor dem Turnhalleninnenleben reibt über meine fallende Sockenferse und mein Knie kracht in die Heizung. Die Tür lässt sich schwer öffnen und dahinter stehen die anderen Eltern. Ich ziehe den Kopf ein, unterdrücke Scham und Schmerz mit jedem Atem und lehne mich neben sie an die Wand. Erst nach ein paar Minuten bin ich da, davor war alles schwarz. Regungslos suche ich den Raum nach deiner Schwester ab. Sie sitzt in der dritten Reihe auf einem Schulstuhl und hält das Handy in der Hand. Sie hält es hoch. Auf der Bühne stehst du, wie das kleinste Ei der Welt im Scheinwerfer und die Welt schaut dir zu. Ehe ich nachdenken kann, stehe ich an der hintersten Stuhlreihe, beinahe in jemandes Nacken. Ich spüre, wie wir uns drehen. Ich will, dass du mich siehst. Du singst, wie Siebtklässlerinnen singen, nur besser. „Ich will später mal Tickets für deine Konzerte haben“, würde ich sagen, wäre es nicht albern. Albern war es nicht, als wir in dem einen Campingurlaub unseres Lebens auf den alten Klappstühlen in der frisch feuchten Erde saßen und du die Karten zum Spielen auf deine Schwester geworfen und die Lieder aus dem Kindergarten über den Platz geträllert hast.

Du hörst auf und ich klatsche, bis die Wunden an meinen Fingern unter dem angestauten Schweiß der Sporthalle brennen. Endlich siehst du auf und dein Blick fällt zuallererst in die dritte Reihe. Bitte guck mich an. Ich bin doch hier. Und dann guckst du. Dein stolzer Blick schweift in winzigen Rucken durch den Raum. Und bleibt hängen. An mir. Bitte, sei nicht sauer auf mich. Es tut mir leid. Du reißt Kopf und Daumen in die Höhe wie die Königin der Welt, hebst das eine Bein an und setzt es dumpf und doll neben dich auf und ich glaube, du zwinkerst wie ein Dussel. Wie ein winziger Frosch stolzierst du über die Bühne und irgendetwas in meinen Lungen fängt beim dir „Zugabe“ Rufen an, sich zu lockern. Du stehst da wie beim allerersten Fahrradfahren, Laufenlernen, Schwimmen, auf weiter Flur in freier Welt, während ich ganz abseits im Licht deiner Augenwinkel hänge, die ganz genauso aussehen wie meine.

Ihr fahrt nach Hause, weil ihr keine Lust habt auf Drive-in und nachts im stickigen Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich fahre hin und hole alles. Ich sehe euch durchs Fenster, als ich heimkomme, und die Lichter auf dem Brett funkeln euch wie wild durch die vom Wind zerzausten und von Mützen verschwitzten Haare. Mitten im Schnee, die Essenstüten mich wärmend am Bein, nehme ich den Moment auf ewig in mich auf. In meinen Blutbahnen bauen kabellose Wärmedecken Schutz vor dem eisigen Geschmackston der Winternacht. Der Tisch ist gedeckt, als ich schlüsselklimpernd hereinkomme, und so funktioniert das in einer Familie. Man geht zur Schule und zur Arbeit und abends isst man am Tisch und vergibt sich gegenseitig. Du hast, die Beine auf der Küchenbank verknotet, noch immer dein fasriges Kleid vom Auftritt an, und deine Schwester isst sofort, halb in der dicken Mopedjacke, die das Futter verliert, aus zerrissenem Papier wie ein Schwein.

 

Leon Zechmann

 

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freiTEXT | Christian Hornstein

weg

Du stehst in deiner Vier-Quadratmeter-Küche und bläst den Rauch aus dem Fenster. Er schmeckt abgestanden, nach einem Versprechen, das nie eingelöst wurde. Durch den Grauschleier des anbrechenden Tages werfen die Straßenlaternen immer noch mit elektrischer Sturheit ihre grellen Lichtinseln auf die Straße. Du hörst das Rauschen der Benzinkarren auf der Autobahn, unablässig, ihr gleichgültiges Rasen, das dich begleitet, seit du existierst. Und das Kreischen der endlosen Züge, die ständig irgendwelche Waren durch die Nacht schaffen, für die unersättliche Menschheit, die mit Gesichtern aus Stein im fahlen Kunstlicht ihrer Armaturen ebenso unaufhörlich in ihren Fahrzeugen durch die Dunkelheit rollt.

Du schaust auf den Küchenboden, die kaputten Fliesen, in die Ecke hinten, zur Baumwollmatte neben dem Fressnapf, wo sich schon seit einem Jahr kein Leben mehr regt und nur noch leere Bierflaschen liegen. Du spürst das Kneifen in der Brust, dieses trockene Weinen. Da ist er wieder, dieser kalte eiserne Rahmen, in dem kein Bild mehr steckt.

Noch ein Tag, denkst du, noch eine Zigarette. Noch einmal durch den Türrahmen schlurfen, aus der Küche raus ins andere Zimmer und zurück. Noch ein paar weitere Stunden dem Getriebe der Stadtmaschine lauschen, fernen Stimmen nachhorchen, die kaum noch wirklich sind. Noch ein Blick auf das zersplitterte Display deines Handys, das sich wie ein Spinnennetz über kryptische Lichtschemen legt, die du schon lange nicht mehr entziffern kannst. Und noch ein Blick durch die Schlieren auf dem Fensterglas, hinauf zum bleichen Himmelsdeckel.
Und plötzlich weißt du, es geht nicht mehr.
Es ist wie ein Stück Unrat, das du ausspucken willst. Du gehst in das andere Zimmer deiner Wohnung, dort, wo du alles andere machst außer kochen und rauchen, ziehst dir mechanisch den Jogginganzug an und gehst raus. Du schließt nicht ab. Du nimmst auch nichts mit. Nicht einmal deine Schlüssel.

Du gehst die Stufen im Treppenhaus runter, vorbei an den kaputten Wänden, den zerkratzten Türen; du gehst auf die Straße, unter die grellen Leuchten, wie auf eine verdammte Bühne; beschleunigst deine Schritte, rennst weiter, dorthin, wo das Licht der Scheinwerfer vergeht, wo die Straße ins Zwielicht führt.

Und du wunderst dich, wie einfach es ist, wie glatt und frei der Weg vor dir liegt. Nichts und niemand hält dich auf. Keinen schert es. Bald hörst du das Bullern, das Rauschen. Du gehst über die Landzunge, steigst über die Steine, bis es nicht mehr weiter geht, und dann, zum ersten Mal, schaust du auf und nimmst den Fluss wahr, wie er sich machtvoll über alles hinweg wälzt, und du ahnst, wozu er fähig ist. Es macht dir Angst ... und zieht dich an. Ihm widersetzt man sich nicht. Er duldet kein Zögern. Du merkst, dass du an den Richtigen geraten bist. Hier wird es ernst. Du lauschst dem Rauschen des Wassers, dem gleichgültigen Strom, der seit Urzeiten an dieser Stelle sein Bett auswalzt. Du riechst die Kloake aus zersetzten Algen und Müll.

Dann steigst du runter. Du merkst, wie das kalte Nass in deine Joggingschuhe dringt. Fast wärst du ausgerutscht auf dem glitschigen Gestein. Du gehst weiter. Nun klebt die Hose an deinen Unterschenkeln und die Kälte umfasst deine Körpermitte. Noch nie warst du dem Fluss so nah. Du merkst, wie er beginnt an dir zu zerren, wie eine Macht nach dir greift, der du nichts entgegensetzen kannst. Noch einmal bäumt sich deine Angst auf, im Angesicht der Endgültigkeit, dann breitest du die Arme aus und lässt dich nach vorne fallen.

Du lässt dich tragen, ins Reich der gedämpften Töne. Du weißt nicht, wohin der Strom dich schiebt und dreht, aber er kümmert sich schon. Mit jedem Moment, das weißt du, entfernst du dich von den Lebendigen, von der Last, von allem. Ein Zurück gibt es irgendwann nicht mehr. Du hörst das Gluckern, das Rauschen, vielleicht ein fernes Rumpeln, ein Wimmern oder Klagen. Die Seelen der im Fluss Ertrunkenen? Ein Schauer greift dir in den Nacken. Die Klagen werden immer lauter, oder sind es Rufe? In deinem Brustkorb wird es eng. Jetzt gilt es. Das Wasser verlangt Einlass. Du öffnest die Augen. Nebel aus Schlamm. Wie tief bist du abgesunken? Wo ist oben und wo unten? Da sind sie wieder, diese Rufe, nun lauter. Du öffnest den Mund. Kälte breitet sich in deinem Hals aus, bis weit hinunter in deine Brust, wie bei einem tiefen Atemzug an einem eisigen Wintermorgen, nur erfrischt es dich nicht. Da packt dich etwas, zieht dich fort ... und du tauchst auf.

Eine Stimme, Keuchen, Gezerre an deinem Körper. Du wehrst dich nicht. Du hast dich losgelassen, gehörst dir nicht mehr. Etwas anderes hat dich übernommen. Jemand anderes. Da ist diese Stimme. Sie ruft nach jemandem, ohne ihn beim Namen zu nennen, einem, der ihr fremd ist. Sie bebt, presst Worte hervor, fleht. Dann ein Stoß, fast schmerzhaft, noch einer. Dein Körper krümmt sich hart und du erbrichst, krampfhaft. Die Schwere dieser Welt drückt plötzlich wieder in deinem Rücken, auch wenn sich deine Lungen noch weigern, Sauerstoff aufzunehmen.

Vor deinen Augen, der grellgraue Himmel eines Morgens, den du nicht mehr erwartet hast. Und das zarte Gesicht eines Jungen an der Schwelle zum Mann. Er spricht zu dir, atmet schwer. Ob es dir gut geht. Du schweigst, bist noch unter denen, die nicht mehr sprechen. Ob du verletzt bist, will er wissen. Was du dir dabei gedacht hast, fragt er, was hast du dir nur dabei gedacht? Lange sieht er dich an, dann weint er. Da bricht etwas in dir auf und auf deinen nasskalten Wangen spürst die Wärme deiner eigenen Tränen.

 

Christian Hornstein

 

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