23 | Martin Peichl
Wie man Dinge repariert (Auszug)
WEIHNACHTEN – das ist verkatert den Zug ins Waldviertel verpassen und zwei Stunden lang auf den nächsten warten. Es ist kurz nach Mittag, die Geschäfte am Hauptbahnhof haben noch offen. Ich überlege mir ein Bier zu kaufen, aber dann fällt mir ein, was du dir von mir zu Weihnachten gewünscht hast, also setze ich mich auf eine Bank und öffne meinen Laptop. Irgendwo nach Tulln ist ein Baum auf die Schienen gestürzt. Ich muss die S-Bahn nach Absdorf-Hippersdorf nehmen und dann weiter Richtung České Velenice. Ich will dir 3 FUN FACTS über Absdorf-Hippersdorf schicken, aber eine schnelle Internetrecherche ergibt, dass es nicht einmal 1 FUN FACT über Absdorf-Hippersdorf gibt.
Die -30-Prozent-Schilder in der Auslage sind genauso rot wie die -50-Prozent-Schilder, sind genauso rot wie die -70-Prozent-Schilder. Es wäre besser, denke ich, wir würden uns alle selbst Rabattschilder umhängen, das würde vieles erleichtern, wenn ich mir zum Beispiel ein -30-Prozent-Schild umhängen würde, das wäre ehrlich, weil 100 Prozent zu verlangen, wenn man genau weiß, dass man selbst keine 100 Prozent geben kann, ist dreist, ist auch irreführend, ist schlichtweg Betrug. Und je nach Lebensphase oder Situation könnte man die Rabatte auf das eigene Ich anpassen. In der Bar nach dem vierten Bier zum Beispiel könnte man mit dem Preis noch weiter runtergehen. Oder, wenn man ausnahmsweise mal ausgeschlafen ist, ein wenig rauf. Angebot und Nachfrage würden sich ganz natürlich selbst regulieren. Und zu Weihnachten dann Ausverkauf, runter mit den Preisen, ALLES MUSS WEG.
Es ist eine seltsame Zeit mit dieser Endjahresstimmung direkt unter der Haut, wenn die Listen im Kopf ganz schwer werden und die Gedanken einstürzen wie Schneehöhlen, wie Vanillekipferl-Bruchstücke hineinbröckeln in deine Wahrnehmung und aus dir rausbrechen in Form von sentimentalen Ungenauigkeiten. Ich überlege, dir das zu schreiben, immer überlege ich, dir zu schreiben, aber du bist nicht alleine, du bist besetzt, bis ins neue Jahr hinein. Stattdessen schreibe ich ein paar Listen für dich: die 10 schönsten (alternativ: die 10 schirchsten) Hauswände, gegen die ich dich gedrückt habe. Oder: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, es könnte dich jemand schwängern (alternativ: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, du könntest ein Kind wollen von mir).
Länger schon schreibe ich an einer Liste mit Wörtern, die wir betrunken besser aussprechen können als nüchtern. Deine Nummer 1: BINDUNGSHORMONE. Meine Nummer 1: KURZFRISTIG. Die Liste ist WORK IN PROGRESS, und wärst du jetzt hier, würdest du sagen, weil alles für mich WORK IN PROGRESS ist, auch unser Verhältnis, unsere Fast-Beziehung oder unsere Manchmal-Beziehung oder was auch immer das ist, was wir uns da einbilden. Du hast ja recht: alles WORK IN PROGRESS, vor allem das eigene Ich. Und egal an wie vielen Leben ich mich parallel versuche, kein einziges davon habe ich im Griff. Und ich will dir schreiben: Schau, ich weiß nicht, wer du für mich bist, aber ich weiß, dass niemand so schön das Wort SCHNAPS ausspricht wie du.
Martin Peichl
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:
advent.mosaikzeitschrift.at
mosaik26 – ich bin keine pflanze
mosaik26 – ich bin keine pflanze
INTRO
„denken sie darüber nach wie es ist
ohne frau zu leben“
– Steffen Kurz (S. 20)
Dieser Tage kam eine Frage auf uns zu: Sag, liebes mosaik, wie hältst du’s mit dem Gendern? Und wir waren etwas überrascht – nicht über die Frage, sondern darüber, festzustellen, dass wir noch nie im Team darüber diskutiert oder aktiv darüber nachgedacht haben. Seit wir uns erinnern können ist der Asterisk da, als wäre er eine selbstverständliche Gegebenheit, wie der Umstand, dass wir nicht auf Kunststoff sondern auf Papier drucken (was wir im übrigen auch nie diskutiert haben).
Kritik an dieser Praxis kommt dieser Tage nicht nur von den Eh-scho-wissen, sondern zum Beispiel auch vom Wiener Philosophen Robert Pfaller, wie er es u. a. in einem Interview mit dem Standard formuliert hat: „Eine Kunstsprache zu verwenden, also zu ‚gendern‘ oder ein Binnen-I einzufügen“, scheint ihm nicht der richtige Weg, „man klingt dabei schnell nicht mehr wie ein vernünftiger Mensch.“ Und er markiert das Gendern als eine Form, sich über eine andere Gruppe zu erheben. Womit wir schnell bei einer Frage sind, die uns in Wellen immer wieder beschäftigt: Was kann/soll Kunst/Literatur im gesellschaftlichen Zusammenhang?
Wir verstehen uns auf einer Mission, Literatur zugänglich zu machen. Doch was bedeutet das? Ist es Aufgabe der Kunst, sich mittels Simplifizierung (über die Themen, Wege und Mittel) neuen Bevölkerungsschichten anzunähern oder ist es Aufgabe der Gesellschaft (des Staates?) Initiativinteresse für Kunst zu schaffen? „Man muss Kultur zu den Menschen bringen“ ist ein häufiger Schlachtruf, der in Sozialprojekten in sogenannten „Problembezirken“ endet und damit genau jene Überheblichkeit zelebriert, die auch Pfaller ankreidet.
„Sei unbesorgt: Von den hundert Namen,
die ich trage, ist kein einziger
Eva“
– Marina Berin
Seid unbesorgt, liebe Leserinnen und Leser, liebe Lesende, liebe Leser*innen, wir geben uns nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Dafür kann eine Antwort dann auch mal länger dauern. Vor allem dann, wenn man vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Letzteres wünschen wir euch für die vorliegende Ausgabe.
Inhalt
elektrisches zirpen
- Dagmar Falarzik: Aufziehender Sturm / Der Sturm / Nach dem Sturm
- Erik Wunderlich: Liebes Dreifingerfaultier
- Thomas Ballhausen: Stanze
- Stephan Weiner: Buch vom Zweck
- Ursula Seeger: Unwillkürliches Flattern. Teil 31: Feingefühl und Anfälligkeit von Maschinen für Unausgeglichenheit und Exzentrik
waldwerden
- Steffen Kurz: eine blume zwischen zwei abgründen
- Manon Hopf: Fangen
- Fabian Lenthe: Sie verlassen mich
- Michael Pietrucha: Oh. Philia und deine geteilte Pflege mit dem Leben
- Martin Peichl: 1000 Tode
und du nur so. oh.
- Barbara Marie Hofmann: wiegenlied [totenschaukel]
- Marina Berin: Du bittest mich
- Katherina Braschel: Der Dosenrost sagt den Kieselsteinen, sie sollen mir temporäre Cellulite an den Knöcheln machen. Oder was?
- Dustin Young: bitte komm
- Hannah Bründl: wenn wind
Kunststrecke von Dominika Ziober.Król
BABEL – Übersetzungen
- Jacek Dehnel: Miasta Dalekie / Ferne Städte (aus dem Polnischen von Michael Pietrucha)
- Enesa Mahmic: Blatusa (aus dem Bosnischen von Marko Dinic)
- Tobias Roth: Firn / Neve di Primavera (ins Italienischen von Nicoletta Grillo)
- Yevgeniy Breyger: Schöne Lagunen / Lagune Frumoase; Vorsicht / Atentie (ins Rumänische von Krista Szöcs)
Kolumnen
- Peter.W.: High Noon an der Datumsgrenze, Hanuschplatz #14
- Marko Dinic: Über das Plagiat, Lehengrad #5
Buchbesprechung
- Josef Kirchner: „Buchstaben sind Schmutz auf Papier“ – Zeitschriftenumschau
Interview
- Miss Tell und Miss Spell – Gespräch Franziska Füchls und Lisa-Viktoria Niederberger
Kreativraum mit Magic Delphin
17 | Martin Peichl
Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie
Heimat ist dort, wo der Dialekt nah und frisch klingt, wo sich die Wörter wie Toastkäse auf deine Zunge legen, wo Gulasch ein Ersatz ist für Liebe, aber Liebe kein Ersatz für Gulasch.
Wo man dir mit LEGO beigebracht hat, wie leicht man Menschen zerlegen kann und sie trotzdem weiterlächeln. Dieses unheimliche Weiterlächeln der LEGO-Figuren, egal wohin man ihre Köpfe steckt!
Zerfranste Erinnerungen an gemeinsam Spieleabende. Die wichtige Regel: Uno und DKT gewinnt man, indem man nicht mitspielt.
Heimat ist dort, wo man am 25. Dezember die feine Balance finden muss zwischen den Vanillekipferln und Mini-Schaumrollen der Tante und den Bierflaschen, die dir dein Cousin hinstellt. Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie. Da werden sogar Eigentore verziehen.
Martin Peichl
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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mosaik24 – Erlebniswelt Heizen
mosaik24 – Erlebniswelt Heizen
Intro
„Heiz ein und zieht euch warm an!“
„Wenn die Leute unsere Texte haben wollen, dann geben wir sie ihnen.“
Christine Haidegger spricht im Interview (S. 62) über die Gründung ihrer Literaturzeitschrift vor vierzig Jahren recht pragmatisch aus, was Beweggrund und Motivation für vieles sein kann: Die Nachfrage. Ein fehlendes Angebot. Ein Vakuum. Doch was, wenn es die Nachfrage nach etwas Bestimmten nicht gibt, nicht geben kann, da niemand weiß, dass etwas existiert, das man begehren kann. Ist das die Aufgabe von Kunst? Nachfragen zu befriedigen, die nie ausgesprochen worden sind?
Solche Fragen und ähnliche haben wir uns in den letzten Monaten regelmäßig gestellt – im Hinblick auf das bisher Erlebte, den status quo und die Ziele, die wir mit dem mosaik hatten und haben. Sind uns noch einmal klarer geworden, warum wir was wie machen. Haben an der einen oder anderen Schraube gedreht um zum Beispiel die Zeitschrift hoffentlich noch interessanter zu machen.
„Wir kleben. Wir lösen uns ab. Wir kleben. Alles, was von uns bleibt, sind unsichtbare Rückstände.“
Martin Peichl vergleicht den Zusammenhalt in einer Beziehung mit einem Post-It (S. 10). Und auch wir fragen uns nicht zum ersten Mal: Was bleibt von unserer Arbeit. Die physische Zeitschrift landet im Altpapier oder zerfällt langsam im Archiv – die achso bleibende und beständige Printpublikation bleibt bei einzelnen Autor*innen in einer Zeile im Lebenslauf bestehen: „Veröffentlichung in diversen Literaturzeitschriften.“
Es sind – wie so oft – nicht zuletzt die persönlichen Kontakte, die motivieren. Die Diskussionen mit Autor*innen und Rezipient*innen, die Unterhaltungen nach Lesungen, die Wertschätzung in den Mail-Konversationen. Ein Wort, das immer häufiger fällt: Dringlichkeit. Manche Texte werden nicht geschrieben, weil sie jemand lesen will, manche müssen einfach raus, auch wenn niemand auf sie wartet. Und bald kann man sich kaum noch vorstellen, wie man jemals ohne sie existieren konnte.
„dies ist kein gedicht über den zu kurz gedachten zusammenhang von sprache und denken. dies ist im besten fall: ein loch im papier, das groß genug ist, um durchzuwollen.“ – Xú Yìn / Lea Schneider (S. 42)
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Inhalt
- Laurenz Rogi – Wie ich den Osorno bestiegen habe
- Kerstin Meixner – Die Geschichte meines Vaters, arabische Version
- Marianna Lanz – hasen
- Martin Peichl – Entdecker
- Julia Knaß – fixierungspunkte
- Safak Saricicek – humanspaghetti
- Chistian Lange-Hausstein – Wie eine Wespe
- Robin Krick – Der Schwerfällige
- Alexander Kerber – Im Hals klafft eine Wunde
- Nikola Huppertz – schuhe
- Sebastian Görtz – Industriekultur
- Slata Roschal – o.T.
- Illustrationen von Lisa Köstner
NEU: Kunststrecke von Daniela Kasperer
BABEL – Übersetzungen
- Krista Scözs – am paralizat/sunt un om al exceselor (Aus dem Rumänischen von Yevgeniy Breyger)
- Julia Grinberg – Paradisischer Fernblick | Zweimal über Phantome (Russisch und Deutsch)
- Anna Hetzer – Funkhaus Nalepastraße (Ins Italienische von Nicoletta Grillo)
- Kathrin Bach – Ocker (Ins Italienische von Nicoletta Grillo)
- Marco Mantello – Dopo l‘ultimo (Aus dem Italienischen von Tobias Roth)
- Agata Spinelli – Lungo il Freilichtmuseum (Aus dem Italienischen von Tobias Roth)
- Xú Yìn – 秋访金陵 (aus dem Chinesischen von Lea Schneider)
Kolumnen
- Peter.W. – Die Brille, Hanuschplatz #12
- Marko Dinic – Nachts, Lehengrad #4
Buchbesprechung
- Lisa-Viktoria Niederberger – Ein Ort in den Bergen. Rezension „Tau“ von Thomas Mulitzer (Kremayr & Scheriau)
Interview
- Papier erbetteln, Manuskripte schmuggeln. Josef Kirchner, Christian Lorenz Müller im Interview mit Christine Haidegger