mosaik35 - Hahn oder Henne

mosaik35 - Hahn oder Henne

INTRO

„Besonders gut im Erzählen sind natürlich Kinder. Daneben aber auch marginalisierte Menschen – sie verbringen viel Zeit mit Tätigkeiten, die man gemeinhin unter Müßiggang fasst, spielen also zum Beispiel in den Parkanlagen, sprechen dem Bier zu und unterhalten sich ziellos. Genaugenommen sind sie Erzählprofis, vielleicht sogar in einem strengeren Sinne als wir Schriftsteller*innen, denn sie tun tagelang nichts anderes, als sich Geschichten zu erzählen.“

Die Fragen, wer im Literaturbetrieb erzählt und welche Geschichte(n) dadurch erzählt werden, treiben uns schon seit Langem um. Mit der Entscheidung, keine Biografien abzudrucken, prägen wir seit 35 Jahren die Tradition #fucklebenslauf. Gleichzeitig wissen wir dadurch auch kaum, wer hinter all den Texten in der Zeitschrift steckt. Wir hoffen, euch wieder möglichst ausgewogene Diversität präsentieren zu können.

Und zur Sicherheit haben wir einige Autor*innen, die wir besonders schätzen, eingeladen, im Kulturteil ihre Erfahrungen beizusteuern. So berichtet uns Alexander Estis – von dem auch das Eingangszitat stammt – über
seine Begegnungen in Köln-Kalk. jiaspa fenzl entführt uns nach Wien und in BABEL könnt ihr wieder neue Stimmen aus ganz Europa kennenlernen. Wer auf der Suche nach spannenden Zeitschriftenprojekten ist, wird im liberladen fündig – eine Hand voll stellen wir euch wieder gegen Ende der Zeitschrift vor. Und weil Kinder
anscheinend besonders gut im Erzählen sind, endet auch diese Ausgabe wieder mit Texten von Kindern für Kinder.

euer mosaik

Inhalt

Schöne süße Welt

Verena Dolovai – Fütterung
Marlene Schulz – Hilla
Stefan Heuer – flitschen
Steve Strix – schwein im angesicht

Ein leises Oh

Stefanie Maurer – Die Eschen fallen
Christian Günther – Drei ältere Männer
Roland Grohs – Allein-Arbeit
Sagal Maj Comafai – music for commercials
Hanna Quitterer – Das Haus an der Bahnlinie

Zum lieblosen wechseln

Raoul Eisele – fast k:eine Liebe
Majka Hausen – Der vergessene Krieg
Otto Dvoracek – In idealer Fremde
Tara Meister – Nach den Samstagen
Alexander Weinstock – Im Schrank

Kunststrecke von Stefanie Hintersteiner
BABEL - Übersetzungen

Die Einsamkeit der Lastwägen, die frische leere Autos abtransportieren – Autos fahrende Autos also, oder doch die Beichte eines Selbstmörders? Ins Spaghettiregal eingetauchte Finger, und die letzten Zeichnungen eines todkranken Mädchens. Egal ob in tschechischer, ukrainischer oder serbischer Sprache – dem Tod und der Einsamkeit haftet Zeitloses in der Literatur an. Die Suche nach Sinn obliegt einer universellen menschlichen Sehnsucht, die Fragen stellt, ohne konkrete Antworten zu ernten: Was bleibt von uns, wenn wir einmal weg sind? Wohin gehen wir? Wer waren wir überhaupt?

Alle Texte in der vorliegenden Ausgabe von BABEL widmen sich auf die eine oder andere Weise diesen existenziellen Fragen, die in der Literatur – wie wohl in keiner anderen Kunstform derart – Trost zu spenden suchen vor der Welt und ihrer Endlichkeit.

  • Petr Hruška – paluba v normandii / Ein Deck in der Normandie
  • Petr Hruška – market ve frankfurtu / Ein Supermarkt in Frankfurt (Tschechisch)
  • Matiiash Dzvinka – Тиждень / Die Woche (Ukrainisch)
  • Uroš Ristanović – Кравата / Krawatte (Serbisch)
[foejәtõ]

Wir stellen die Frage, wie divers der Literaturbetrieb ist – und dann ist am Titelbild des [foej tõ] ein weißer Mann abgebildet. Ein Versehen? Eine Provokation? Rückmeldungen bitte an schreib@mosaikzeitschrift.at
Was wir in diesem Kulturteil aber aufzeigen möchten: Es gibt sie, die neuen, spannenden Projekte. Marginalisierte Gruppen finden Gehör. Und dennoch stößt z.B. queere Literatur weiter oft auf Unverständnis. Es gibt noch viel zu tun.

Kreativraum mit Lisa Gollubich

Was geht ab in: Wien

Was geht ab in: Wien

In dieser Kolumne aus der Zeitschrift mosaik laden wir jede Ausgabe jemanden ein, uns eine Stadt und deren Kulturleben näherzubringen. jiaspa fenzl zeigt uns Wien - und bietet zahlreiche Veranstaltungsvorschläge. Hier ein exklusiver Vorabdruck.

Seit kurzem habe ich die Frage „Was mache ich heute Abend?” für mich entdeckt. Nach durchgestandener Covid-Erkrankung war für mich die Schnelllebigkeit Wiens heruntergebremst, sodass mein Kalender weitgehend leer ist. Bisher habe ich großen Spaß daran, ihn so zu belassen und mit dieser Planlosigkeit an die manchmal ausufernde Überfülle kulturellen Programms heranzugehen.

So landete ich etwa am 5. Juli vor dem Roten Stern Mexikoplatz (ein politischer und kultureller Freiraum im Stuwerviertel des 2. Wiener Gemeindebezirks) und stieß mit einem Apfelsaft gespritzt auf die neueste Ausgabe des WeiberDiwan an. Der WeiberDiwan ist eine feministische Rezensionszeitschrift, die zweimal jährlich erscheint (Rezension der aktuellen Ausgabe in der mosaik35). Diesmal gab es eine Releasefeier, nette Gesellschaft und natürlich Gespräche über die neu erschienenen und besprochenen Bücher der Ausgabe. Ich war wie jedes Mal baff, wie viele Bücher von Frauen*, Feminist*innen auf einem Fleck versammelt sind. (Der WeiberDiwan wird mit den an.schlägen verschickt und ist vielerorts in Buchhandlungen und Infoläden zu finden – nicht nur in Wien.)

Nachdem Kultur und Literatur diesen Sommer nun doch mehr oder weniger stattfanden, war ich ganz froh, keinen Überblick behalten zu wollen. Manches nehme ich mir aber vor. Es ist so wichtig, dass es dick im Kalender eingetragen wird. Von 21. August bis weit in den September findet das Literaturfestival Bridging the Tongues statt. Konzipiert und geleitet von Radostina Patulova, Ovid Pop und kollektiv sprachwechsel: Literatur in der Zweitsprache, gibt es wochenlang Programm, um die Mehrsprachigkeit der Stadt zu präsentieren und Communities zu vernetzen. Im August starten Werkstätten zu Sprache als Handlung und Erzähllust. Anfang September werden Tandemlesungen und Diskussionen in der Brunnenpassage am Yppenplatz aufgezeichnet, da wegen der Pandemie nur begrenzt Publikum vor Ort sein darf. Ab 23.9. hat das Festival digitale Premiere, die Veranstaltungen werden auf der Homepage von kollektiv sprachwechsel gestreamt. Mehrsprachige, in Wien lebende und internationale Autor*innen lesen und diskutieren ihre Texte, reflektieren über Mehrspachigkeit, neue Sprachen, Vermischungen und Möglichkeiten. Außerdem gibt es Ende September Literaturspaziergänge auf den Spuren von Textproduktion Schwarzer Aktivist*innen in Wien, Wienerliteratur auf Romanes und Jiddisch und (am europäischen Tag der Sprachen) Queering the Language of the City.

Und wenn dann vielleicht doch wieder alles zumacht, geht das Festival im Oktober und November auf Radio Orange weiter, das freie Radio in Wien (das dank Internet überall zu empfangen ist). Es lohnt sich, das Sendeprogramm durchzuklicken. Da wir schon dabei sind – hier noch etwas, das dauerhaft stattfindet und unabhängig von Corona-Maßnahmen abendfüllend sein kann:

Jeden vierten Sonntag im Monat von 15:00 bis 15:30 gibt es auf Radio Orange eine Literatursendung, die zeitgenössiche Literatur präsentiert. Autor*innen werden gebeten, ihre Texte selbst einzulesen, Zielgruppe sind alle Literaturinteressierten und jene, die es werden wollen. Die Sendung gestalten PS: Politisch Schreiben und Das fröhliche Wohnzimmer – zwei Literaturinitiatven mit (einer) Homebase in Wien. PS ist ein Projekt, das ich mitgegründet habe, Das fröhliche Wohnzimmer sind famose Verbündete, wenn es darum geht, sich zu fragen, wie das mit politischem Schreiben überhaupt ginge, wie der Literaturbetrieb mehr genossen werden könnte und auf was ich mich einlasse, mit dem ich nicht gerechnet habe.

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jiaspa fenzl

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Die mosaik35 erscheint Ende Oktober - erhältlich auf liberladen.org.