belladonna
du hattest wichtiges zu tun.
musstest bei papa schlafen, der die ganze nacht nur geheult hat.
der wind schlich unter die decke.
die socken halfen nichts.
die dicksten socken schenkte dir die grossmutter, die zweimal starb.
ich habe nicht gewusst, dass ein mensch zweimal sterben kann,
aber bei ihr habe ich es gesehen & geglaubt.
vater hat nach ihrem tod geweint & mutter nicht,
mutter war eine starke frau, der wind hat ihr nichts ausgemacht,
auch dann nicht, als winkelried sich nach der beerdigung umbrachte.
er schluckte eine unmenge gift, genug um einen stier zu töten,
& nicht einmal einen abschiedsbrief liess er da zur erklärung.
bei der beerdigung wurden dinge vorgelesen, die halb blieben,
halb wahr, halb richtig, halb omi. winkelried war nicht da.
niemand konnte sagen: ja, so war es. auch dann nicht,
als die bäume mitten im winter blühten & im frühling starben.
mutter hat den hunden den essig von der schnauze geleckt, damit sie mit dem heulen aufhören.
wir taten kein auge zu. papa konnte nicht. dabei wäre heute,
als ich im bett lag & in den himmel starrte, ein guter tag gewesen,
um die wichtigen dinge zu erledigen: socken flicken,
die schubladen ausräumen, den hund zum einschläfern bringen.
ohnehin stapeln sich die briefe, um die wir uns kümmern sollten.
ich wollte dir eine gasse machen, doch dann hat der blitz eingeschlagen.
ich eilte zu dir durch strauch & unkraut, ich war zu spät,
der baum war gespalten, feuer brannten, die leute waren verängstigt,
wenn bloss nicht nochmals, wenn bloss nicht.
immer in eile aber nie pünktlich, sagte mutter.
wo der blitz einschlug, sind pfützen aus essig, die die hunde auflecken.
wir sehen & riechen uns in den pfützen.
als wir am see entlang gehen, an den hühnerställen vorbei,
nennst du beiläufig die namen der blumen & gräser.
wer nennt mir die blumen, frage ich mich,
wenn du nicht mehr bist? mir steigen tränen in die augen,
ich versuche an anderes zu denken,
die hühner wegzuscheuchen mit ihrem todesblick.
am ende des sees grollt der donner.
ich wollte dir eine gasse machen, eilte zu dir,
ich war immer in eile, die ganzen jahre lang,
war freundlich, wenn mir der donner grollte,
hörte zu, als mir nach sprechen war,
blieb auf dem weg, versprach auf dem weg zu bleiben,
weinte mit der belladonna, weinte um die bäume,
die im frühling starben.
ich war zu spät. oma war gestorben.
der hund roch essig, frass dein bild im essig,
& verschluckte dich wie ein gespenst.
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