Zwischen Lametta und Plastiktanne – Die große Leere in der Vorhölle der Besinnlichkeit
Es begab sich aber zu der Zeit, dass man mich bat, etwas Besinnliches zu schreiben. Ein harmloses Wort, sollte man meinen. Doch inzwischen klingt „Besinnlichkeit“ wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Epoche – irgendwo zwischen Schallplatte, Telefonzelle und intakter Aufmerksamkeitsspanne.
Ich nahm also an. Das war mein erster Fehler.
Der zweite war, tatsächlich damit anzufangen.
Denn seien wir ehrlich: Wer hat denn bitte noch Muße, sich zu besinnen? Meine Besinnung liegt seit Jahren in der Warteschleife des globalen Kundenservice. „Ihre Besinnung ist uns wichtig. Wenn es um die perfekte Stimmung geht, drücken sie die Eins, …“
Vorfreude ist auch nicht mehr das, was sie mal war
Früher, so heißt es, begann Weihnachten, wenn der erste Schnee fiel. Heute beginnt es, wenn der Algorithmus entscheidet, dass du bereit bist, Geld auszugeben. Im September. „Cozy Christmas Vibes“ auf Spotify, während draußen noch Wespen im Biergarten tanzen. Das ist keine Einstimmung – das ist eine Drohung.
Ich wollte mich also einstimmen. Ich zündete eine Kerze an – Bio, fair gehandelt, klimaneutral versandt, selbstverständlich mit moralischem Zertifikat – und wollte etwas schreiben über Schnee, Stille, Zauber.
Dann kam eine Push-Nachricht: „Nur noch 3 Tage! 40% auf alle Weihnachtsartikel! Tannenbaum-Emoji 🎄“
Es waren noch 47 Tage bis Weihnachten.
Feldforschung im Glühweinmilieu
Vielleicht, dachte ich, muss man raus. Auf den Weihnachtsmarkt. Das wahre Leben spüren.
Der Glühweinduft! Das Lachen der Kinder! Die Wärme der Gemeinschaft!
Ich kam an – und fand: einen Outdoor-Ausschank mit QR-Code-Bezahlsystem. Meine Finger waren zu kalt, die App zu langsam, das WLAN zu schwach. Der Glühwein kostete 5,50 €, die Tasse 3 € Pfand, und als endlich alles bezahlt war, war das Getränk bereits kalt.
Der Duft? Desinfektionsmittel.
Die Kinder? Am Handy.
Die Gemeinschaft? Jeder für sich, aber gemeinsam frierend.
Neben mir sagte ein Mann ins Telefon:
„Nein, ist nicht so besonders. Ja, ich komm bald heim.“
Ich nickte innerlich. Er sprach für uns alle.
Sinnlichkeit auf Sparflamme
Sinnlichkeit, hieß es, sei das Ziel.
Doch was ist Sinnlichkeit in einer Welt, in der selbst der Glühwein digitalisiert wurde?
Früher war’s ein Keks zu viel. Ein Kuss im Kerzenlicht, das Wachs tropfte, und niemand beschwert sich, weil es schön war. Heute tropft nur noch das WLAN.
„Alexa, spiel Weihnachtsmusik.“
„Ich habe keine Verbindung zum Internet.“
Das ist der wahre Weihnachts-GAU: der Zusammenbruch der Datenverbindung. Kein Engel, kein Stern, kein Halleluja – nur das kalte Schweigen der Sprachassistentin.
Die moralisch korrekte Zielgruppe
Und dann sehe ich euch vor mir – ja, euch, liebe Zuhörende.
In euren ethisch geprüften Wollpullis, mit einem ökologisch einwandfreien schlechten Gewissen.
Ihr habt eine Gans gekauft, die ein gutes, veganes Leben hatte – bis sie es nicht mehr hatte. Und ihr habt Geschenke organisiert, die nicht Freude bringen sollen, sondern Gewissensberuhigung: Eine Ziege für Afrika. Im Namen von Tante Gertrude. Die Ziege weiß nichts davon, aber ihr habt es getan – und das zählt. Das Foto der Referenz-Ziege ähnelt stark ihrem Gesicht, als Tante Gertrude das Zertifikat auspackte.
Ihr seid erschöpft. Nicht vom Feiern. Vom Versuch, es moralisch richtig zu tun.
Ihr wollt Wärme – aber der Strompreis friert selbst den Elektrokamin ein.
Der große Kollaps
Also schreibe ich. Nicht besinnlich, nicht festlich, sondern: erschöpft.
Weihnachten ist längst kein Fest mehr, es ist ein Projekt. Ein kollektives Burn-out mit Glitzer und Beleuchtung.
Die Engel? Haben gekündigt.
„Unbezahlte Überstunden im Himmel? Sorry, Petrus, das machen wir nicht mehr. Wir gründen jetzt eine Consulting-Firma – oder werden Influencer. Bessere Arbeitszeiten, gleiches Strahlen.“
Der Trotz der Letzten
Und trotzdem – wir feiern weiter.
Nicht, weil es schön ist, sondern weil wir es noch können.
Wir wissen, dass es albern ist. Und genau darin liegt der Trost.
Wenn 37 Handys gleichzeitig „Stille Nacht“ spielen, jedes mit einer anderen Latenz, entsteht etwas Großartiges: der schiefe Chor der Unvollkommenheit.
Das ist vielleicht das neue Besinnliche – das Wissen, dass wir keine Besinnung mehr haben. Und das neue Sinnliche – die Sehnsucht nach einer Minute Ruhe, in der niemand etwas bestellt, bewertet oder liked.
Epilog mit Glühweinresten
Ich wünsche euch keine frohe Weihnacht. Froh ist überbewertet.
Ich wünsche euch eine erträgliche.
Geschenke, die so nutzlos sind wie dieser Text – und gerade deshalb perfekt.
Einen Moment, in dem niemand fragt, ob das jetzt nachhaltig genug ist.
Und wenn Alexa wieder streikt, sagt einfach: „Dann eben nicht“ – und singt selbst.
Denn nur, wer nichts mehr erwartet, kann noch überrascht werden –
von einem Lächeln, einem funktionierenden Lichterkettenstecker,
oder der ehrlichen Stille nach dem kollektiven Weihnachtswahnsinn.
Frohe Ratlosigkeit.
Und möge euer Fest so schön scheitern, dass ihr es später gern erzählt.
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