Familie
Bei uns hat jeder seinen eigenen Platz am Tisch. Wir sind zu viert. Also auch vier Stühle. Die Stühle sehen alle gleich aus: Holz, weiß lackiert, ausgepolsterte Sitzfläche, überzogen mit gräulichem Kunststoff, abwischbar. Ich sitze immer nahe der Schrankwand mit Blick auf die Küche. Maren sitzt links von mir, Mutti rechts. Und mir gegenüber, an der Balkontür und mit Blick aus dem Fenster sitzt Vati. Er hat den schönsten, den hellsten Platz. Hell genug, um Sonntag darauf ausgiebig Zeitung zum Kaffee zu lesen. So, genau so sitzen wir immer: zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendbrot. Ich weiß nicht mehr, wie das gekommen ist, wie das entschieden wurde, dass Vati mit Fensterblick und ich mit Küchenblick sitzen und nicht andersherum. Dass wir immer so sitzen und nicht etwa rotieren oder sitzen, wie es uns gerade passt. Aber es ist so.
In letzter Zeit ist Vatis Platz beim Abendbrot häufig leer. „Wartet nicht auf mich, es wird heute spät“, sagt er ins Telefon und dann legt Mutti auf, setzt sich rechts von mir an den Tisch und schweigt. Und kaut lang an einem Bissen. Und so kräftig, dass ich ihre Kiefernmuskeln sehen kann. Und dann schweigen wir auch und kauen. Niemand von uns wäre auf die Idee gekommen, sich auf Vatis Platz, auf den schönsten, den hellsten Platz zu setzen. Er ist frei. Mutti könnte es tun. Ich könnte es tun. Maren. Einfach so. Aber niemand von uns setzt sich da hin. Das würde alles durcheinanderbringen.
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