Rundungsfehler
„Es muss weitergehen.“
Martin nickt, versteht, was ich meine, während ihm Tränen über die Wangen laufen.
Dabei bin ich es doch, die weinen sollte. Der man erklären müsste, was da in den letzten Tagen passiert ist. Mit ihr, mit mir, mit unserer Familie.
„Ich bin nicht die Erste, der das passiert ist“, sage ich.
Wieder nickt Martin, aber diesmal kommt er auf mich zu, umrundet meinen Schreibtisch, auf dem Stapel von Schülerheften liegen, die seit zwei Wochen darauf warten, von mir korrigiert zu werden.
Ermittle den Umfang des Kreises.
Berechne den Durchmesser.
Bestimme den Flächeninhalt.
Ich spüre Martins Atem im Nacken und zwei Arme, die mich umfangen. Ich schüttle sie ab, mache mich frei von der Wärme meines Mannes.
„Ich muss arbeiten“, sage ich, drehe mich von ihm weg. „Siehst du nicht, was hier alles liegengeblieben ist?“
Hinter meinem Rücken höre ich, wie er in seine Hosentasche greift. Kurze Zeit später ertönt bereits sein Schnäuzen.
Ich balle die Fäuste und lege sie auf der Tischplatte ab. Mein Blick wandert zur Uhr.
„Du musst los“, sage ich, obwohl er noch Zeit hat und vor der verschlossenen Kindergartentür wird warten müssen, wenn er jetzt schon aufbricht.
Ich klappe ein Heft zu, nachdem ich einen Fehler mit rotem Stift angestrichen und die entsprechende Stelle in der Rechnung markiert habe.
Martin geht in den Flur, zieht Jacke und Schuhe an und greift zum Schlüssel.
Als die Tür ins Schloss fällt, lege ich den Stift zur Seite und atme aus. Mein Körper sackt zusammen, meine Gesichtsmuskeln erschlaffen.
Ich habe zwanzig Minuten, bis Florian hereingerauscht kommt, mir vom Buddeln in der Sandkiste erzählt, von Playmobil-Welten und vom Streit mit Benni, eigentlich sein Freund, aber hin und wieder eben doch gemein und doof.
Ich schaue an mir hinunter. Mit der Hand befühle ich die leere Rundung meines Bauches. Eine Gewohnheit, die schwer abzulegen ist. Auch nach zwei Wochen kommt es noch zu Übersprunghandlungen. Unangemessen und wenig hilfreich. Und trotzdem hoffe ich auf eine Reaktion.
Mir wird übel und wie in den letzten Tagen auch beginnt mein Kopf zu schmerzen. Es sticht und hämmert hinter meiner Stirn. Ich verstehe nicht. Eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten.
Wir waren allein, sie und ich. Alles war in Ordnung. Gut. Vital. Bis die Ordnung mir von einem Moment zum anderen zwischen den Beinen hinaustropfte.
Ich merke, wie mein Unterleib bei der Erinnerung krampft, als wolle er halten, was nicht zu halten gewesen war.
Der Kopf, der Bauch, die Muskeln.
Ich greife nach dem nächsten Heft, schlage es auf.
Das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser beträgt gerundet Drei, lese ich in krakeliger Schrift und spüre die Wut wie feuriges Sodbrennen im Hals.
„Pi“, sage ich laut und schlage mit der flachen Hand auf den Tisch. „Pi“, zische ich und sehe, wie meine Spucke die Seite trifft und die blaue Tinte des Schülers zu verwässern beginnt.
Mit Schwung gebe ich dem Stapel neben mir einen Stoß. Er kommt ins Wanken und Heft um Heft rutscht über die Tischkante zu Boden.
Ich schließe die Augen, zittere.
„Wir sind drei“, hat Martin Florian versichert, als ich im Krankenhaus lag, „auch wenn Mama für ein paar Tage nicht bei uns ist.“
Eine Lüge, die beruhigen sollte. Auf ihre Kosten.
Ich lege meinen Kopf ab und merke, dass ich weine. Träne um Träne entweicht meinem Körper, wie eine Nachkommastelle nach der anderen. Der Schmerz in meinem Kopf schwindet und blockiert stattdessen meine Brust. Das Atmen fällt mir schwer und doch habe ich Gewissheit.
Auch wenn sie es nicht über das Komma hinaus geschafft hat, wird sie da sein. Tag für Tag, bis tief in die Unendlichkeit hinein.
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