Filterzelle
Mittwoch
Ich fahre auf das vielleicht schönste Licht zu, das der Himmel hervorbringen kann. Alles ist wie durch einen Pastellfilter getaucht, nichts Grelles liegt mehr in der Luft. Stattdessen ist der Horizont in der Entfernung schüchtern gerötet, streicht auf eine makabere Weise zärtlich über die Wipfel der riesigen Nadelbäume, die die Interstate zu beiden Seiten säumen. Es ist ein tückischer Nebeneffekt von Luftverschmutzung, dass die erhöhte Partikeldichte uns nicht abschreckt, sondern das Licht in so schönen Tönen streut, dass wir uns daran nicht satt sehen können. Nur ein paar Meilen östlich von hier machen sich ganze Vororte darauf gefasst, jederzeit eine Evakuierungsmeldung zu erhalten. Es ist seltsam, in diese Richtung zu fahren, in die Richtung der Waldbrände. Ich habe jedoch keine Wahl. Hier im Süden der Stadt liegt der einzige Baumarkt, bei dem ich noch eine Filterzelle zur Abholung vorbestellen konnte. Eine Filterzelle, wie sie in Klimaanlagen verbaut werden: ein Viereck aus grauer Pappe mit weißen Paneelen aus Vlies. Schöner wäre einer der kleinen, dekorativen oder unscheinbaren Luftfilter gewesen, wie man sie sich normalerweise in die Wohnung stellen würde. Die sind aber nirgends mehr zu bekommen. Die hässlichen Filterzellen sind ebenfalls knapp geworden, seit die Lokalzeitung gestern eine Bastelanleitung veröffentlicht hat, wie man aus ihnen einen provisorischen Luftfilter bauen kann. Aber ich hatte Glück. Eine der letzten vorrätigen Filterzellen hat es online in meinen Warenkorb geschafft. Ich hole die Filterzelle ab, weil der Versand zu lange dauern würde.
Wieder zuhause lässt sich die Filterzelle mit Gaffer-Tape problemlos an unseren eckigen Ventilator anbringen. Wir klemmen den Ventilator sonst morgens und abends in unsere Schiebefenster, um kühle Luft in unsere Wohnung zu leiten. Jetzt bekommt er die Aufgabe, die Luft im Raum durch die Filterzelle zu ziehen und gereinigt wieder in Umlauf zu bringen. Wir beobachten die Nachrichten zu den Bränden und der Rauchentwicklung und schalten unseren selbstgebauten Luftfilter ein, als die Werte der Luftqualität am Abend im violetten Bereich gemeldet werden, very unhealthy.
Dann schauen wir uns an, wie am Morgen Caleb Ewan die elfte Etappe der Tour de France gewonnen hat. Neun Stunden Zeitverschiebung, der Atlantik und die gesamte Breite des nordamerikanischen Kontinents trennen uns von Châtelaillon-Plage. Wir bekommen den malerischen Küstenort erstmal aus der Vogelperspektive zu sehen und ich frage mich, ob die Strecken von einer französischen Tourismusbehörde ausgewählt werden. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, dort ein paar Tage meine Zehen in den Sand zu graben, ganz ohne das Bedürfnis, hundertsiebzig Kilometer auf dem Rad zurückzulegen. Ganz ohne die Anstrengung, die den Fahrern schon bald im Gesicht steht und sie durch die Etappe begleitet.
Es ist heute keine kleine Ausreißer-Gruppe, die ins Ziel einfährt. Es ist ein Pulk von gut dreißig, der sich geschlossen der Zielgerade von Poitiers nähert und in dem jeder Fahrer auf den perfekten Moment für einen Vorstoß wartet. Ich habe mich noch immer nicht an den Anblick der Menschenmenge gewöhnt, von der sie am Etappenende angefeuert werden. Dicht an dicht stehen die Zuschauer entlang der Banden. Es ist lange her, dass ich zuletzt eng bei anderen Menschen gestanden bin.
Donnerstag
Es wird nicht richtig hell heute. Wo sonst blauer Himmel zu sehen ist, erstreckt sich ein orange getöntes Grau. Die Sonne schafft es nicht, die Rauchdecke zu durchdringen, während der Rauch selbst keine Schwierigkeiten hat, überall hin einen Weg zu finden. Wir riechen ihn im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, überall. Es reicht nicht, die Fenster und Türen geschlossen zu halten. Wir leben in einem alten Haus und wenn wir die Fenster schließen, trifft verzogenes Holz auf verzogenes Holz. Wir tragen zusammen, was wir an Tüchern und Lappen haben und dichten die Rahmen ab so gut wir können. Dann lassen wir den Luftfilter eine Weile in allen Räumen laufen.
Der Tag zieht sich. Nach einem halben Jahr im Lockdown bin ich übersättigt an Geschichten. Ich kann keine Romane mehr lesen, keine Serien mehr schauen, keine Podcasts mehr hören. Sie machen mir keinen Spaß mehr, weil sich mein Leben nicht mehr an ihnen reiben kann. Mein Leben steht auf Pause.
Stattdessen verfolge ich die Nachrichten rund um die Ausbreitung der Brände, die Prognosen und die Evakuierungen. In den letzten Monaten ist es zur Routine geworden, täglich die R-Werte für Oregon, die USA und Deutschland zu beobachten. Jetzt ist es der LQI, der Luftqualitätsindex, den ich zuerst checke und der heute noch schlechter ist als gestern.
Die Brände fressen sich immer weiter in die Wälder.
Der Rauch wird bleiben, bis der Wind sich dreht.
Nach mehr als 100 Tagen durchgehender Proteste für Black Lives Matter, geht heute niemand in Portland auf die Straßen.
Präsident Trump verkündet, dass die Waldbrände nicht im Klimawandel, sondern allein in schlechtem Forstmanagement begründet sind. Dieser bullshit hat die gleiche Farbe wie unser neuer LQI: braun, hazardous.
In Etappe zwölf fährt Marc Hirschi dem Peloton schon früh davon. Nach dem letzten Aufstieg der Etappe lässt er alle hinter sich und fährt die letzten dreißig Kilometer im Alleingang. Mir fällt vor allem der Kontrast zwischen den trockenen, abgeernteten Feldern in der Ebene und den üppigen Wäldern in der Höhe auf. Ich frage mich, wie schnell sich dort ein Feuer ausbreiten würde. Die Bäume auf dem Bildschirm sehen saftig aus, aber ich weiß, dass der Schein trügen kann. Schließlich kommen mir auch beim Wandern hier in Oregon die immergrünen Wälder vor wie ein ewiges Paradies. Die Nadeln reihen sich dicht an dicht um die feinen Zweige, die wiederum von starken Ästen gehalten werden. Moose schlängeln sich auf der Schattenseite die Rinde entlang. Hohe Farne aus sattem Grün bedecken den Boden. Ich liebe es, dass die Sommer hier heiß und trocken sind. Ich habe mich daran schneller gewöhnt als die Bäume, denen ich den Wassermangel nicht ansehen kann und die den Bränden trotzdem nichts entgegenzusetzen haben. Der kleinste Funkenflug sorgt für neue Brandherde.
Freitag
Portland ist heute offiziell die Stadt mit der schlechtesten jemals gemessenen Luftqualität. Weltweit. Die bisher verwendete LQI-Skala kann den aktuellen Wert nicht abbilden. Sie endet bei 500, aber wir liegen heute bei 504.
Ich fühle mich eingesperrt. Spaziergänge waren in den letzten Monaten fast der einzige Anlass, das Haus zu verlassen. Nun sitzen wir im Wohnzimmer wie zwei Heuschrecken unter einem umgestülpten Marmeladenglas. Wie lange dauert es eigentlich, bis die Luft in einer Wohnung so verbraucht ist, dass sie zu wenig Sauerstoff enthält? Ich widerstehe dem Drang, Google zu fragen. Stattdessen checke ich das Wetter, schaue, ob die Meteorologen zuversichtlich sind, dass wir bald wieder auflandigen Wind bekommen. Fehlanzeige. Enttäuscht lege ich das Handy zur Seite. Ich muss raus. Wenn Spaziergänge draußen nicht möglich sind, dann muss ich eben in einem Gebäude spazieren gehen.
In der Mall ist nicht viel los. Warum sollte es auch? Ich habe gehofft, dass sie mir Schutz vor dem Rauch bieten würde, aber durch meine Stoffmaske schmecke ich noch immer eine Note in der Luft. Lange sollte ich nicht bleiben.
Ich komme mir komisch vor, an den schlecht besuchten Geschäften vorbei zu schlendern, mir Dinge anzusehen, für die ich selbst dann keine Verwendung hätte, wenn keine Pandemie und keine Waldbrandkrise wäre. Trotzdem spüre ich die Verheißung, dass ich mit neuen Dingen auch neue, gute Gefühle nach Hause nehmen könnte. Ich gehe in ein Kosmetikgeschäft und schaue mir Lippenstifte an, wie ich sie gerne trage, aber es nur noch selten tue. Am Ende verschmiert die Farbe doch nur in der Maske.
Der Smalltalk mit der Verkäuferin wird schnell persönlich. Ihr Onkel lebe unweit von hier in der Kleinstadt Molalla und ignoriere die Aufforderung zur Evakuierung seitens der Sicherheitsbehörden, erzählt sie. „Er bleibt, weil auf Facebook geteilt wurde, dass die Antifa die Feuer gelegt hat, um danach die evakuierten Häuser zu plündern. Ich weiß nicht, wie ich ihn davon überzeugen kann, dass das eine Lüge ist.“
Ich stelle mir vor, wie es wäre, den ganzen Tag in diesem fensterlosen, verrauchten Laden zu stehen und mir Sorgen zu machen, weil sich jemand in meiner Familie bei einer akuten Gefahrenlage lieber an Verschwörungstheorien hält als an die Warnungen der Behörden.
Die Verkäuferin hält meinen Blick, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. „That‘s so fucked up“, ringe ich mir schließlich ab, „ich hoffe, dein Onkel bringt sich bald in Sicherheit.“
Sie seufzt mit hängenden Schultern, die mir die gesamte Rückfahrt vor Augen bleiben.
Bei der Tour de France trennen heute sieben Bergabschnitte die Fahrer von Puy Mary und deshalb zeigt die Zusammenfassung vor allem Bilder, in denen die definierten Wadenmuskeln der Fahrer langsam, aber kraftvoll gegen die Steigung um die Pedalachse kreisen. Zum Angriff erheben die Fahrer sich dann aus dem Sattel und die Fahrräder unter ihnen schwanken. Unser Luftfilter surrt im Takt dazu. Die körperliche Verausgabung hat ihren Reiz. Das Gefühl der Erschöpfung und Zufriedenheit, nachdem man alles gegeben hat, die Ruhe, wenn Atem und Puls sich verlangsamen. Der Stolz, eine Herausforderung gemeistert zu haben. Ich beneide sie. Unsere Herausforderung ist passiv, ein Aussitzen. Wir können unsere Kräfte nicht einteilen, weil wir nicht wissen, wie lange wir sie brauchen werden. Dreißig Kilometer und fünfzehn Prozent Steigung klingen leichter zu bewältigen als bis ein Impfstoff da ist oder bis sich das Wetter ändert.
Samstag
Die Nachrichten in Deutschland berichten abermals über die schlechten Luftqualitätswerte. Wir wachen auf zu verschiedenen Textnachrichten von Freunden und Familie. Wir telefonieren viel und erzählen das Wenige, das es aus dem Marmeladenglas zu berichten gibt.
Als ich den Müll rausbringe, friere ich. In der Rauchdecke ist es nicht nur dunkler, sondern auch kälter. Ohne sie würde die Sonne uns noch immer sommerliche Temperaturen bescheren. Der Geruch von Lagerfeuer dringt mir in die Nase, stärker als zuvor. Ich denke an die zerstörten Wandergebiete, die dieser Rauch bedeutet; Häuser, die bis auf den Grund herunterbrennen, ausgelöschte Leben. Acht Menschen sind den Bränden in Oregon schon zum Opfer gefallen und wer weiß, wieviele Tiere ihnen in der Wildnis und auf den Farmen nicht entkommen konnten. Dieser Geruch ist nicht nur Douglasfichten und Farne, er ist auch Fotoalben, Fernseher, Plastikstühle. Haut, Fell und Knochen. Und er überlagert alles. Den faulenden Müll rieche ich nicht, als ich den Deckel der Bio-Tonne hebe.
Zurück im Wohnzimmer kommt mir die gefilterte Luft dagegen frisch vor, obwohl es dieselbe ist, die schon seit über drei Tagen in diesem Raum zirkuliert. Die Zeltburgen der Obdachlosen, deren Kuppeln seit Beginn der Pandemie zahlreicher geworden sind, kommen mir in den Sinn. Die hastig eingerichtete Notunterkunft auf dem Messegelände wird vor allem von Menschen aus dem südlichen Oregon genutzt, die vor den Feuern hierher geflüchtet sind.
Fast stündlich suchen wir nach Updates, wie schnell sich die Feuer ausweiten und wie sich die höchste Evakuierungsstufe an diesen immer neuen Grenzen des Gefahrenraums entlang hangelt. Satellitenbilder zeigen im Zeitraffer, wie Glutfelder, größer als Ortschaften, mit dem Wind größer werden; wie sie erst kleine Rauchwirbel über die angrenzenden Gebiete schicken, bis diese immer weiter werden und schließlich zu einer Decke. Einer Decke aus Rauch, die sich über die gesamte Westküste legt, bis man gar nicht mehr weiß, wo der Rauch des einen Feuers aufhört und der eines anderen anfängt.
Drei Kilometer vor dem Etappenziel in Lyon startet Søren Kragh Andersen den Angriff, der den Sieg entscheiden wird. Er fährt, fährt sich frei und hat genug Kraftreserven, um das Tempo bis zum Schluß alleine durchzuhalten; hat sogar noch genug Kraft, hinter der Ziellinie die Arme in die Luft zu strecken und seine Leistung zu feiern. Meine Beine kribbeln, wollen rennen, schnell, bis sie nicht mehr können. Ich kann nicht mehr sitzen und gehe stattdessen im Raum auf und ab. Der Jubel. Selbst von der reduzierten Zahl des Pandemiepublikums klingt er enorm. Mein Blick fällt aus dem Fenster, hinter dem der Rauch die Aussicht auf die leere Straße trübt.
Sonntag
Wir sind früh wach. Wir tragen den Luftfilter ins Wohnzimmer und schalten ihn ein, dann starten wir den Live-Stream für die fünfzehnte Etappe der Tour de France. Während wir frühstücken, bestreiten die Fahrer die zweite Bergwertung, eine schattige Strecke. Fokussiert rasen sie danach waghalsig die Landstraße herunter. Fast spüre ich den Wind im schweißnassen Nacken, wie die müden Beine sich erholen, während am Rand Zuschauer, Bäume, Höfe vorbeiziehen. Die Abfahrt ist schneller vorbei, als den Fahrern vermutlich lieb ist, denn ab jetzt geht es nur noch aufwärts. Am Bildschirmrand wird eine Grafik mit dem Anstieg zum Grand Colombier angezeigt. 17,4 Kilometer, mit Steigungen von bis zu zwölf Prozent. Es gibt keinen Schatten mehr, die Serpentinen liegen offen in der erbarmungslosen Sonne. Am Ende kämpft sich Tadej Pogačar knapp vor Primož Roglič ins Ziel.
Wieder prüfen wir, wie sich die Brände entwickelt haben. Sie sind ein kleines Stückchen weiter in Richtung der Vororte Portlands gewandert. Ich stelle mir die Einsatzkräfte vor, die der Hitze und dem Rauch in schwerer Schutzkleidung und mit wenig Pausen ausgesetzt sind, die an ihre Grenzen gehen, um diese Übermacht in allerkleinsten Schritten einzudämmen. Das Feuer müsste die halbe Stadt verschlingen, um uns zu erreichen. Für unseren Stadtteil gibt es keine Warnungen. Ich weiß das. Trotzdem bestehe ich darauf, eine go bag zu packen. Unsere Ausweise, wichtige Dokumente, ein Handyladegerät, Taschenlampe, der Schmuck meiner Großmutter, alles wandert in einen Rucksack, der nun neben der Tür steht. Auch wenn ich weiß, dass es sinnlos ist, tut es gut, irgendwas zu machen, einem Impuls zu folgen, nicht nur zu warten. Es fühlt sich an wie ein Vorsprung vor einer Situation, die nicht wahrscheinlich ist und trotzdem bedrohlich aus den Nachrichten zu uns kommt: dass Menschen im Ernstfall zu spät losfahren, dass sie im Stau stehen und nicht vorankommen, während die Brände sie einholen.
Das Packen ist schnell erledigt. Dann liegt der Tag wieder weit vor uns, konzentriert auf den Luftfilter in unserem Wohnzimmer. Ich setze meine Kopfhörer auf, weil ich eine Pause von seinem Brummen brauche und checke wieder, ob sich der Wind bald drehen soll. Noch sehen die Meteorologen keine Anzeichen dafür. Nun befrage ich doch das Internet, wie lange es bei minimaler Zufuhr dauert, bis der Sauerstoffgehalt in einer Wohnung zu niedrig ist.
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