Keine Spatzen

Agata, das bedeute ja „die Gute“, hatte Herr Pfeiffer gleich am Bahnhof gesagt und ihr mit dem Zeigefinger auf die Schulter getippt.

Ob sie das gewusst habe?

Agata hatte nicht, obwohl zuhause in Kruszki jede Dritte oder Vierte so hieß.

„Ach so“, hatte Herr Pfeiffer gesagt, „ein ganzes Dorf voller guter Frauen!“ Sein grauer Schnurrbart zitterte.

„Na dann, Agata. Pass gut auf uns auf, ja?“

Sie nickte, etwas anderes als Nicken kam ihr unpassend vor.

Herr Pfeiffer nahm ihren Koffer. Sie müssten nur fünf Minuten gehen, sie wohnten sehr zentral. Es klang stolz, wie er das sagte. Agata sah ihn in die Dunkelheit vorausgehen mit ihrem Gepäck, das ihr in der fremden Hand eine ängstliche Sekunde lang nicht mehr wie ihr eigenes vorkam. Sie folgte Herrn Pfeiffer. Das Haus, vor dem sie stehenblieben, war groß, aber freundlich. Sie müssten jetzt leise sein, sagte Herr Pfeiffer, seine Mutter schliefe schon. Er steckte den Schlüssel ins Schloss.

Herr Pfeiffers Mutter wohnte im Erdgeschoss, in dem Zimmer das neben Agatas lag. In der Nacht hörte Agata sie zum ersten Mal klopfen, das Geräusch bohrte sich tief in ihren Traum. Sie stand benommen auf, dicke milchige Wärme hinter der Stirn, Schlaf, dachte Agata, Schlafen – und dann: Jakub. Aber als sie die Tür zum Flur öffnete, stand da nicht Jakub, sondern Herr Pfeiffer in seinem hellblauen Bademantel und hatte schon das Licht eingeschaltet.

„Sie klopft“, sagte er, „das ist das Zeichen.“

Er steckte den Kopf in das Zimmer seiner Mutter, seine Lippen bewegten sich lautlos und er gestikulierte in Richtung Agata, dann ging er zurück in sein Schlafzimmer im ersten Stock. Er trug keine Socken und hatte sehr weiße, sehr hässliche Beine. Er tat Agata leid.

Frau Pfeiffer musste zur Toilette. Agata versuchte, nicht an den Bandscheibenvorfall vom letzten Winter zu denken, als sie ihr aus dem Bett half. Woran sie stattdessen zu denken versuchte, waren die kaputten Rohre in ihrem Haus und Jakubs Studium in Lublin, waren die tausend Euro, die sie schon nächsten Monat schicken könnte. Tausend, dachte Agata. Vierundzwanzig Stunden, ein halbes Jahr lang jeden Tag, dann könnte sie zurück für drei Wochen. Sommer in Kruzski. Ein Korbstuhl;  Wind im Laub der Weißbuchen und Wind über dem See; Kormorangefieder, das im Sonnenlicht schimmert wie flüssiges Metall. Tausend.

Agata und Frau Pfeiffer, geteilte Verlegenheit zwischen sich, gingen den Flur entlang zum Badezimmer. Die alte Frau machte die winzigsten aller Schritte, wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Sie sprach erst, als sie sich, auf Agata gestützt, zum Pinkeln setzte, und Agata ihr das Nachthemd über die Oberschenkel zog.

Entschuldigung. Das sei ja nicht die feine Art, einander kennen zu lernen.

Doch, sagte Agata, Frau Pfeiffer sei sehr fein angezogen.

Sie schwiegen eine Weile und lauschten dem Geräusch von Frau Pfeiffers Urinstrahl, wie er auf das Wasser in der Toilettenschüssel traf.

„Der Erwin hat erzählt, du bist Krankenschwester in Polen.“

„Krankenschwester“, wiederholte Agata, „ja, Krankenschwester. In Polen.“

„Und du hast auch einen Sohn?“

„Ja“, sagte Agata und sah zu, wie die alte Frau sie beim Abrollen des Klopapiers beobachtete.

Sie hätten auch schon deutsche Schwestern gehabt, sagte Frau Pfeiffer: „Aber die wollten nichts tun für ihr Geld!“

Dazu fiel Agata nichts ein. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft zuckte sie mit den Schultern.

Sie konnte nicht gleich wieder einschlafen, nachdem sie zurück ins Bett geklettert war. Sie hörte auf die Züge mit ihren rumpelnden Waggons, die drüben im Bahnhof einfuhren, und sie dachte an die alte Frau im Zimmer nebenan. Sie streckte die Beine aus.

Agatas waren gute Beine. Nicht schön, sondern gut. Sie hatte mit ihnen fast alle Weitsprungwettbewerbe zwischen der vierten und der achten Klasse gewonnen. Wie viele Jahre würden die Beine noch zu gebrauchen sein? Wann würde sie das erste feine Reißen in den Knien spüren, in den Fingern, im Hüftgelenk? Der Rücken ließ sie ja jetzt schon im Stich. Zweifellos, Agata löste sich auf, sie wurde alt. Noch zwanzig Jahre Verfall, dann hätte sie auch das geschafft. In zwanzig Jahren wäre sie nur noch alt.

Ihr Kopf schmerzte. Erst nach einigen Minuten fiel ihr auf, dass sie Hunger hatte. Sie öffnete ihre Handtasche und fand die in Papierservietten eingewickelten Waffeln, die sie gestern Abend mit Jakub gebacken hatte. Sie hatte auf einmal das Gefühl, dass sie bei den Waffeln anfangen müssen würde, wenn sie jemals hier ankommen wollte. Sie nahm eine, biss ab, kaute, schluckte. Der süße warme Brei auf der Zunge, zwischen den Zähnen, war tröstlich. Sie nahm die nächste Waffel. Sie sah nicht auf die Uhr. Irgendwann waren keine Waffeln mehr da. Sie legte sich schlafen.

Herrn Pfeiffer sah Agata erst am nächsten Abend wieder. Er betrachtete die belegten Brote auf dem Küchentisch, legte sich schließlich eins auf den Teller und aß es mit Messer und Gabel, dazu zwei kleingeschnittene saure Gurken. Dann lehnte er sich zurück und sagte: „Tja.“ Agata kannte das Wort nicht, doch es klang wie „Ja“, deshalb wurde sie mutig und schob mehr von dem Brot über den Tisch, mehr von der rosa Fleischwurst, der Butter. Aber Herr Pfeiffer schüttelte den Kopf.

Agata habe das selbstverständlich nicht wissen können, aber wenn er abends vom Geschäft nach Hause kam, hatte er gerne etwas Warmes. Sie sei doch hoffentlich gewohnt, frisch zu kochen?

Frisch. Agata verstand: Schnell, und nickte heftig. Schnell kochen konnte sie, zur Not auch für viele. Herr Pfeiffer machte eine Handbewegung, so als risse er an etwas, und sagte: „Nicht so!“ Dann tat er, als rühre er mit einem Löffel in einem Kochtopf: „Sondern so!“

Seit dem zweiten Tag kochte Agata frisch. Sie probierte es mit den Gerichten, die Jakub gern aß, bei denen er sagte: Schmeckt gut und macht satt. Sie hatte dabei Herrn Pfeiffers großen Bauch vor Augen, wie er den Bauch mit einer geschickten Handbewegung angehoben und bequem unter der Tischkante platziert hatte. Sie ahnte, das Essen musste stark sein und viel. Aber er mochte den Eintopf nicht, wie Agata ihn machte, und er mochte keine Kutteln. Spätzle, sagte er. Sie solle sich von seiner Mutter das Rezept geben lassen.

Die alte Frau Pfeiffer hörte das und bekam aufgeregte Flecken im Gesicht.

„Mein Erwin“, sagte sie, als Agata ihr später im Bett die Haare bürstete. Seit Jahren habe niemand mehr für ihn gekocht, alles habe er selbst machen müssen. Ein guter Koch, ihr Erwin. Aber das wolle er jetzt nicht mehr, jetzt sei Agata da.

Frau Pfeiffer ließ sich am nächsten Morgen nach dem Frühstück die Lesebrille bringen, den Notizblock, den Bleistift, und steckte die Bleistiftspitze lange in den Mund und saugte daran.

„Dann schreibt er besser“, sagte sie.

Agata sah ihr über die Schulter. Spätzle, schrieb Frau Pfeiffer und zog eine schwache Linie darunter. Agata presste die Schneidezähne auf die Unterlippe. Sie ließ Frau Pfeiffer allein, ging in ihr eigenes Zimmer und nahm das Wörterbuch aus der Nachttischschublade. Es dauerte lange, bis sie glaubte, fündig geworden zu sein. Spatzen. Agata strich das Wort mit ihrem gelben Textmarker an und starrte auf das pergamentdünne Papier, das kühl und abweisend unter ihren Fingern knisterte. Sie wusste, es verbarg etwas vor ihr.

Erst am Nachmittag war Frau Pfeiffer fertig. Ihr Gesicht leuchtete vor Zufriedenheit.

„Ja, Spätzle“, sagte sie, als sie das Rezept auf den Küchentisch legte, „das ist was Gutes. Der Erwin hat abends gern was Gutes. Er arbeitet doch so schwer.“

Agata wusste nichts von Herrn Pfeiffers Arbeit, sie hatte auch nicht gefragt. Sie wusste nur, dass er Jeans und Hemd trug, wenn er morgens das Haus verließ, und kam er später zurück, war alles noch so sauber wie einige Stunden zuvor. Im Treppenhaus waren ihr gerahmte Fotos von ihm aufgefallen, fünf oder sechs versetzt nebeneinander, und auf jedem stand er neben einem anderen Auto, eine Hand auf der geöffneten Wagentür, die andere in die Hüfte gestützt. Vielleicht war das schwerer, als es aussah.

Agata setzte sich an den Küchentisch. Sie faltete den Bogen Papier auseinander und strich ihn glatt. Sie starrte darauf. Sie blinzelte.

„Ja“, sagte Frau Pfeiffer in ihrem Rücken. „Das ist Sütterlin. Kennst du Sütterlin?“

Agata antwortete nicht. Sie lächelte schief. Sie begleitete die alte Frau ins Wohnzimmer und schaltete ihr den Fernseher ein. Zurück in der Küche öffnete Agata den Kühlschrank. In Kruszki öffnete sie immer den Kühlschrank oder ging in die Speisekammer, wenn sie nachdenken musste. Verdammtes Spatzenessen. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen, damit die Tränenflüssigkeit dahin zurücklaufen konnte, wo sie hergekommen war. Kälte kroch ihr übers Gesicht. Agata schlug die Kühlschranktür zu. Sie nahm das Rezept vom Tisch, faltete es klein und steckte es in die Hosentasche. Sie ging in den Flur und warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo Frau Pfeiffer schief im Sessel saß, das Kinn auf der Brust, die Atemzüge geräuschvoll, gleichmäßig. Agata nahm Jacke, Schlüssel, das Portemonnaie – ihr eigenes Portemonnaie mit den an der Grenze eingetauschten Scheinen, nicht das mit dem Haushaltsgeld. Die Haustür zog sie so leise wie möglich hinter sich zu.

In dem Supermarkt, den ihr Herr Pfeiffer am ersten Tag gezeigt hatte, ging sie entlang der Tiefkühltruhen, die Eiskruste darin glitzerte diamantschön im Licht der Neonröhren. Klamm und mutlos betrachtete Agata das abgepackte Fleisch unter dem Truhendeckel, die gefrorenen Erbsen, den Apfelstrudel. Endlich sah sie eine Frau in einem rot-weiß-gelben Kittel und reichte ihr das Stück Papier aus ihrer Hosentasche. Ihr Herz klopfte.

Sie wolle kaufen, sagte Agata. Zögerlich fügte sie hinzu: „Spatzen?“

Die Frau runzelte die Stirn und nahm ihr den Zettel aus der Hand. Las. Gab ihr den Zettel zurück.

„Das kann ja kein Mensch entziffern. Machen Sie es sich nicht so schwer. Im Kühler gibt es Spätzle, ganz frisch, sind im Angebot.“

„Spatzen“, wiederholte Agata.

„Spatzen, Spätzle, die einen sagen so, die anderen so. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.“

Agata folgte der Frau durch den Supermarkt. Die Frau blieb vor einem Kühlregal stehen. Sie griff nach einem rechteckigen Paket. Gelbe Teigstreifen drückten sich von unten gegen die Folie. Nicht einmal auf der Verpackung war ein Spatz abgebildet. Nudeln.

„Danke“, sagte Agata.

Sie drehte die Spätzle um, suchte nach den kleinen Flaggensymbolen, fand die weiß-rote. Zwölf bis vierzehn Minuten in kochendes Salzwasser geben. Agata stellte sich an der Kasse an.

Frau Pfeiffer war wach, als sie gegen Vier nach Hause kam.

„Du musst einen Zettel schreiben, wenn du gehst, Agata“, sagte sie.

Agata lächelte der alten Frau zu, hielt das Paket mit einer Hand hinter dem Rücken und sperrte sich in der Küche ein. Sie ließ das Lächeln aus ihrem Gesicht fallen. Noch zwei Stunden, bis Herr Pfeiffer von der Arbeit kommen würde. Agata öffnete die Schränke. Eine Handvoll Mehl, zwei Eier, Salz. Das Handrührgerät. Sie schlug eine geringe Menge Teig, einen Teigrest nur. Sie verteilte das Mehl auf der Arbeitsplatte und dem Fußboden, sie bestäubte ihre Hände damit und fuhr sich durchs Haar. Um zehn vor Sechs ließ sie Wasser aufkochen auf dem Herd. Um zwei vor Sechs öffnete sie die Packung Spätzle und schüttete die Nudeln in das Wasser. Sie setzte sich an den Küchentisch und wartete.

Die saubere, glänzende Spüle. Die karierten Handtücher. Das weiße Ziffernblatt der Uhr über dem Kühlschrank. Und Agata dachte an das gestickte Madonnenbild, das an derselben Stelle hing in Kruszki.

Janine Adomeit

bereits erschienen in: entwürfe 74 (2013)

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